Urteil des VG Freiburg vom 29.10.2015

psychisch kranker, einsichtnahme, patientenakte, akteneinsicht

VG Freiburg Urteil vom 29.10.2015, 6 K 2245/14
Leitsätze
Die Einsichtnahme der Erben und nächster Angehöriger in die Patientenakten des in
einem Zentrum für Psychiatrie verstorbenen Patienten bestimmt sich in analoger
Anwendung des § 630g Abs. 3 BGB.
Das Anliegen der (nicht Erbin gewordenen) Mutter eines Patienten, durch
Akteneinsicht weitere Aufschlüsse über dessen Todesursache und mögliche
strafrechtliche Verantwortlichkeiten des Behandlungspersonals zu erhalten, begründet
ein immaterielles Interesse gemäß § 630g Abs. 3 Satz 2 BGB analog.
Soweit der Einsichtnahme der ausdrückliche oder mutmaßliche Wille des Patienten
entgegensteht, stellt dies einen Ausschlussgrund analog § 630g Abs. 3 Satz 3 BGB
dar. Kommt es - mangels zu Lebzeiten ausdrücklich erklärter Weigerung des
Patienten - auf dessen mutmaßlichen Willen an, spricht eine Regelannahme zu
Gunsten einer Akteneinsicht von Erben und nächsten Angehörigen.
Es spricht bereits einiges dafür, dass die Geltendmachung vorgerichtlicher
Anwaltskosten, durch § 162 VwGO ausgeschlossen wird (hier offen gelassen).
Danach sind außerhalb eines Vorverfahrens im Verwaltungsverfahren entstandene
Kosten eines Rechtsanwalts grundsätzlich nicht von einer Kostenerstattung erfasst.
Ausnahmsweise ist dies nur bei Vorbereitungskosten mit konkretem Bezug auf den
betreffenden Prozess anders (hier verneint).
Tenor
Der Beklagte wird verpflichtet, der Klägerin Einsicht in die vollständige, bei ihm
geführte Patientenakte des ..., geb. am ..., zu gewähren.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Von den Kosten des Verfahrens tragen der Beklagte 10/11 und die Klägerin 1/11.
Die Berufung wird zugelassen.
Tatbestand
1 Die Klägerin begehrt Akteneinsicht und Bezahlung vorgerichtlicher Anwaltskosten.
2 Die Klägerin ist die Mutter des am ... geborenen .... Durch (bis zum 17.04.2014
befristeten) Beschluss des Amtsgerichts ... vom 21.03.2014 … wurde Herr ... im
Wege der einstweiligen Anordnung aufgrund psychotischer Störung mit erheblicher
Fremdgefährdungstendenz zwangsweise in das Psychiatrische
Behandlungszentrum ... des Zentrums für Psychiatrie ... (Beklagter) eingewiesen.
Am Nachmittag des 30.03.2014 beging er dort einen Suizidversuch, indem er sich
mittels eines Hosengürtels erhängte. Nachdem er von Mitarbeitern der Klinik
aufgefunden worden war, wurde er in die Notaufnahme der Universitätsklinik
Freiburg gebracht. Dort verstarb er am 05.04.2014 aufgrund irreversibler
Hirnschäden, die durch die mangelnde Sauerstoffzufuhr beim
Strangulationsversuch verursacht worden waren.
3 Die Staatsanwaltschaft ... stellte das umgehend wegen eines nicht natürlichen
Todes aufgenommene Ermittlungsverfahren mit späterer Verfügung vom
25.07.2014 nach förmlicher Vernehmung von zwei angestellten Pflegerinnen
(diese hatten ... aufgefunden) und der Klägerin „mangels Anhaltspunkten für ein
Fremdverschulden“ ein.
4 Mit Anwaltsschreiben vom 13.05.2014 ließ die Klägerin beim Beklagten die
Behandlungsakte zwecks Prüfung eines möglichen Behandlungsfehlers sowie
daraus resultierender Schadensersatz– und Schmerzensgeldansprüche
anfordern. Der Beklagte entgegnete unter dem 10.06.2014, aus
datenschutzrechtlichen Gründen sei es nicht möglich, Akteneinsicht zu gewähren.
In Erwiderung hierauf ließ die Klägerin unter dem 02.07.2014 vortragen, ihr Sohn
sei infolge erheblicher Fremd- und Eigengefährdung in der Klinik untergebracht
worden. Er sei von ihr während des gesamten Aufenthalts kontinuierlich betreut
worden. Mehrfach habe ein direkter Gesprächskontakt zwischen den Behandlern
und ihr zum Zweck der Klärung des Krankheitsbildes, der therapeutischen
Möglichkeiten sowie des weiteren Vorgehens stattgefunden. Auch bei
Patientengesprächen sei sie zumindest teilweise anwesend gewesen. Deshalb
könne nicht die Rede davon sein, die Einsichtnahme in die Patientenakten des
Verstorbenen widerspreche dessen mutmaßlichem Willen. Zur Vermeidung einer
Klageerhebung werde die Einsichtnahme in die Behandlungsunterlagen bis
spätestens 16.07.2014 gefordert. Da sich der Beklagte mit der Einsichtnahme in
Verzug befinde, müsse er ferner die Kosten des anwaltlichen Tätigwerdens in
Höhe von 571,44 EUR tragen.
5 Mit am 16.07.2014 beim Landgericht ... eingegangen Schriftsatz (dem Beklagten
zugestellt am 19.07.2014) erhob die Klägerin Klage auf Einsichtnahme und
Zahlung der vorgerichtlichen Anwaltskosten. Durch rechtskräftigen Beschluss
dieses Gerichts vom 18.08.2014 ist der Rechtsweg zu den ordentlichen Gerichten
für unzulässig erklärt und der Rechtsstreit an das Verwaltungsrecht Freiburg
verwiesen worden, bei dem die Akten am 30.09.2014 eingegangen sind.
6 Die Klägerin trägt vor, sie habe am Tag der Aufnahme in die Klinik darauf
hingewiesen, dass ihr Sohn Fremdschädigungs- sowie Selbsttötungsabsichten
geäußert habe. Dies habe sie den Ärzten auch in der folgenden Zeit mehrfach
mitgeteilt und auf weitergehende Untersuchungen gedrängt. Während des
Klinikaufenthalts habe sie ihn täglich besucht und bei Besorgungen während des
Ausgangs begleitet. Am Abend des 29.03. sei nach Rückkehr vom Stadtbummel in
... bei ihrem Sohn ein negativer Alkoholtest durchgeführt worden. Sie bestreite,
dass ihr Sohn geäußert habe, sie solle nicht in den Behandlungsablauf
eingebunden werden. Im Gegenteil habe dieser sich anlässlich der täglichen
Besuche und Ausflüge sehr detailliert zur Behandlung geäußert und, was er den
Ärzten verschwiegen habe, eingeräumt, dass er die verordneten Medikamente
teilweise eigenmächtig abgesetzt habe. Infolge des Todes ihres Sohnes habe sie
ein schweres psychisches Trauma erlitten. Auch nach Einsichtnahme in die
staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsakten halte sie am Akteneinsichtsbegehren
fest. Denn diese Ermittlungen zeigten, dass erheblicher Anlass für einen groben
Behandlungsfehler vorliege, wobei noch zu klären sei, ob dies mehr den
medizinischen oder den pflegerischen Bereich betreffe. Da ihr Sohn sich mit
seinem eigenen Gürtel unbeobachtet in seinem Zimmer habe erhängen können,
liege eine nicht ordnungsgemäße Behandlung nahe. Ob hieraus der Vorwurf einer
fahrlässigen Tötung durch Unterlassen resultiere, solle durch Einsichtnahme in die
Akte geklärt werden.
7 Die Klägerin beantragt,
8
1. den Beklagten zu verpflichten, ihr Einsicht in die vollständige, bei ihm geführte
Patientenakte des ..., geb. am ..., zu gewähren und
9
2. den Beklagten zu verurteilen, an sie vorgerichtliche Mahnkosten in Höhe von
571,44 EUR zu zahlen.
10 Der Beklagte beantragt,
11 die Klage abzuweisen.
12 Er entgegnet: Da für die Unterbringung die Verwaltungsbehörde gemäß § 6 Abs. 4
UBG zuständig sei, fehle es ihm an der Passivlegitimation. Die Klägerin habe nicht
nachgewiesen, dass sie Erbin nach ihrem Sohn sei, so dass ihr die
Aktivlegitimation fehle. Im Übrigen gehörten die Ausführungen der Klägerin in einen
noch nicht anhängigen Schadensersatzprozess. Er bestreite den Vortrag im vollen
Umfang. Für ihn stehe die ärztliche Schweigepflicht im Vordergrund, der hier
besondere Bedeutung zukomme. Die Klägerin sei für die Diagnose nur insoweit
befragt worden, als es um die Abschätzung von Eigen- und Fremdgefährdung
gegangen sei. Weitergehend sei sie bei Therapiebesprechung sowie Planung und
Behandlung nicht eingebunden gewesen. Lediglich zwei Gespräche seien mit ihr
von ärztlicher Seite geführt worden, sie habe sich sogar darüber beschwert, dass
sie nicht eingebunden sei. ... sei im akuten Vorfeld gegenüber seiner Mutter verbal
aggressiv geworden und ihr gegenüber paranoid-misstrauisch eingestellt
gewesen, so dass die Ärzte die Einzelgespräche mit ihm ohne Beisein der Mutter
geführt hätten, was ohnehin in der Erwachsenenpsychiatrie außerhalb etwaiger
extra zu vereinbarender Angehörigengespräche üblich sei. Bei diesen Gesprächen
habe Herr ... auch später im Zustand deutlich zurückgebildeter psychotischer und
fremdgefährdender Symptomatik ausdrücklich gewünscht, dass seine Mutter über
die Einzelheiten der Behandlung und der ärztlichen Feststellungen nicht
unterrichtet werde und nicht zu ärztlichen oder auch Sozialarbeitergesprächen
hinzugezogen werde. Mangels klaren und eindeutigen Verhältnisses zwischen
Mutter und Sohn entspreche es nicht dem mutmaßlichen Willen des Verstorbenen,
der Klägerin den Inhalt der Krankenakte zu eröffnen.
13 Wegen weiterer Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Schriftsätze
der Beteiligten verwiesen. Das Gericht hat vorübergehend die Ermittlungsakten der
Staatsanwaltschaft ... (… - GAS. 89-156) beigezogen.
Entscheidungsgründe
I.
14 Der Hauptanspruch ist erfolgreich.
15
1.)
Die Klage auf Gewährung von Akteneinsicht ist zulässig. § 44a VwGO steht
dem nicht entgegen, da es sich bei der begehrten Leistung nicht um eine
behördliche Verfahrenshandlung im Vorfeld einer (ansonsten abzuwartenden)
Entscheidung, sondern um die materiell erstrebte Sachentscheidung selbst
handelt. Die Klägerin ist zwar nicht Erbin ihres Sohnes, da sie die Erbschaft mit der
Rechtsfolge aus §§ 1942, 1943 BGB ausgeschlagen hat (vgl. ihre Mitteilung vom
29.09.2015, GAS. 223). Gleichwohl kann ihr als nächster Angehöriger das geltend
gemachte Recht möglicherweise zustehen bzw. ist dies nicht von vornherein
offensichtlich ausgeschlossen (§ 42 Abs. 2 VwGO).
16 Eines Vorverfahrens bedurfte es vorliegend nicht. Dabei kann dahinstehen, ob
dies bereits daraus folgt, dass statthafte Klageart eine allgemeine Leistungsklage
ist (in diesem Sinne VGH Bad.-Württ., Urt. v. 11.10.1984 – 10 S 2194/82 –, VBlBW
1985, 309; offengelassen hingegen von BVerwG, Urt. v. 27.04.1989 – 3 C 4/86 –,
Rn. 25, juris). Denn selbst wenn es sich um eine Verpflichtungsklage handeln
sollte, wäre diese als Untätigkeitsklage zulässig, da der Beklagte mit Schreiben
vom 10.06.2014 die begehrte Leistung abgelehnt hätte und über den hiergegen
mit Schreiben vom 02.07.2014 erhobenen Widerspruch der Klägerin bis heute
ohne zureichenden Grund nicht entschieden worden wäre (§ 75 Satz 1 und 2
VwGO).
17 Auch ein Rechtsschutzbedürfnis kann der Klägerin schließlich nicht abgesprochen
werden. Da sie durch die vorliegend begehrte Einsichtnahme in die Patientenakte
erst klären will, ob sie einen Zivilprozess bzw. ein Strafverfahren anstrengt, kann
dieses Rechtsschutzziel nicht dadurch einfacher verwirklicht werden, dass sie
dieses anderweitige Verfahren bereits tatsächlich einleitet und dann dort
Akteneinsicht nimmt. Ohnehin dürfte auch ausgeschlossen sein, dass der
Beklagte dort die Patientenakten anstandslos vorlegen würde.
18
2.)
Die Klage ist ferner begründet. Die Klägerin hat einen Anspruch darauf, dass
der Beklagte ihr Einsicht über die bei ihm über ihren verstorbenen Sohn geführte
Patientenakte gewährt.
19 Der Beklagte ist richtiger Anspruchsgegner (passivlegitimiert). Gemäß § 1 Abs. 1
Nr. … des Gesetzes zur Errichtung der Zentren für Psychiatrie (vom 03.07.1995,
GBl. S. 510 - EZPsychG) handelt sich bei ihm um eine rechtsfähige Anstalt des
öffentlichen Rechts. Gemäß § 2 Abs. 4 EZPsychG nimmt das Zentrum für
Psychiatrie als anerkannte Einrichtung Aufgaben Sinne des Gesetzes über die
Unterbringung (UBG) psychisch Kranker wahr. § 2 Abs. 1 Nr. 1 UBG bzw. § 14
Abs. 1 Nr. 1 des seit 01.01.2015 an die Stelle des UBG getretenen Gesetzes über
Hilfen und Schutzmaßnahmen bei psychischen Krankheiten (PsychKHG - vom
25.11.2014, GBl. S. 534) bestimmen, dass die Zentren für Psychiatrie anerkannte
Einrichtungen für die Unterbringung psychisch Kranker sind. Während die
Ausführung der vom Gericht angeordneten Unterbringung, insbesondere die
Auswahl einer geeigneten anerkannten Einrichtung, der unteren
Verwaltungsbehörde obliegt (§ 6 Abs. 1 UBG bzw. § 18 Abs. 1 PsychKHG), obliegt
innerhalb der anerkannten Einrichtung dieser die Ausführung der angeordneten
Unterbringung (§ 6 Abs. 2 Satz 1 UBG bzw. § 18 Abs. 2 PsychKHG). § 8 UBG bzw.
§ 20 PsychKHG regeln zahlreiche Details der Behandlung in der anerkannten
Einrichtung. Aus dieser Behandlungspflicht folgt zugleich auch eine
Dokumentationspflicht, wie sie § 8 Abs. 4 UBG bzw. § 20 Abs. 4 PsychKHG im
Sonderfall der Zwangsbehandlung ausdrücklich vorsehen. Es kann keinem Zweifel
unterliegen, dass auch alle anderen Behandlungen im ärztlichen und pflegerischen
Bereich schon aus Gründen der Sorgfaltspflicht dokumentationspflichtig sind. Für
den Behandlungsvertrag ist dies nunmehr ausdrücklich in § 630f Abs. 2 BGB
vorgeschrieben (vgl. Entwurf eines Gesetzes zur Verbesserung der Rechte von
Patientinnen und Patienten, BT-Drs. 17/10488, Seite 25/26).
20 Der Anspruch der Klägerin ergibt sich aus einer analogen Anwendung des § 630g
Abs. 3 BGB (eingefügt mit Wirkung vom 26.02.2013 durch das Gesetz zur
Verbesserung der Rechte von Patientinnen und Patienten [vom 20.02.2013, BGBl.
I S. 277]). Gemäß dessen Satz 2 steht im Fall des Todes eines Patienten dessen
Recht aus § 630g Abs. 1 BGB – also die auf Verlangen zu gewährende
unverzügliche Einsicht in die vollständige, ihn betreffende Patientenakte, soweit
der Einsichtnahme nicht erhebliche therapeutische Gründe oder sonstige
erhebliche Rechte Dritter entgegenstehen – den nächsten Angehörigen zu, soweit
sie immaterielle Interessen geltend machen.
21 Betreffend den Sachverhalt, in dem Erben und nächste Angehörigen eines
zwangsweise eingewiesenen und sodann verstorbenen Psychiatriepatienten in
dessen Patientenakte Einsicht nehmen wollen, besteht eine Regelungslücke. § 46
LKHG (vgl. nunmehr die ausdrückliche Verweisung in § 31 PsychKHG), der die
Zulässigkeit der Übermittlung von Patientendaten an Personen und Stellen
außerhalb des Krankenhauses betrifft (auch diese Vorschrift belegt übrigens, dass
der Beklagte richtiger, weil als Krankenhaus die Patientendaten innehabender,
Anspruchsgegner ist), erfasst den vorliegenden Fall nicht. Wenn dort in Abs. 1 Nr.
3 von einer Übermittlung „im Versorgungsinteresse des Patienten“ durch
Unterrichtung von Angehörigen und sonstigen Bezugspersonen die Rede ist,
betrifft das ersichtlich nur Fälle zu Lebzeiten des Patienten. Dass die
Datenschutzvorschriften des LKHG für die vorliegende, in der Praxis zweifellos
relevante Fallgruppe keine abschließende Regelung treffen, ergibt sich ferner aus
§ 46 Abs. 2 LKHG. Danach dürfen Patientendaten, die der Geheimhaltungspflicht
im Sinne von § 203 StGB unterliegen, auch dann übermittelt werden, wenn das
Patientengeheimnis nach dieser Vorschrift nicht unbefugt offenbart würde. „Nicht
unbefugt offenbart“ wird ein Arztgeheimnis i.S.v. § 203 Abs. 1 Nr. 1 StGB gerade
dann, wenn die Herausgabe von Behandlungsunterlagen in Erfüllung eines -
anderweit aus Vertrag oder Gesetz herzuleitenden - Anspruchs geschieht (OLG
München, Urt. v. 09.10.2008 – 1 U 2500/08 –, Rn. 55 und 60, juris; vgl. für die Zeit
vor Kodifikation des § 630g BGB: BGH, Urt. v. 31.05.1983 – VI ZR 259/81 –, Rn.
19 und Rn. 28, juris). Die in § 630g BGB unmittelbar nur für zivilrechtliche
Behandlungsverträge geregelte Interessenlage ist in Fällen, in denen der
Behandlung des Verstorbenen kein Vertragsverhältnis mit dem Behandelnden
zugrunde lag - so hier im öffentlich-rechtlichen Unterbringungsverhältnis -,
schließlich auch identisch (in diesem Sinne ebenfalls: Erman BGB, Kommentar,
14. Aufl. 2014, § 630g BGB, Rn. 3 und 19).
22 Die Voraussetzungen des § 630g Abs. 3 Satz 2 BGB (analog) sind erfüllt. Dem
Sohn der Klägerin stand zu seinen Lebzeiten ein Anspruch auf Einsichtnahme in
die über ihn geführten Behandlungsunterlagen zu, sei es analog § 630g Abs. 1
BGB oder jedenfalls aus Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art 1 Abs. 1 GG (Recht auf
informationelle Selbstbestimmung - vgl. BVerfG, Beschl. v. 09.01.2006 – 2 BvR
443/02 –, juris [Recht eines im Maßregelvollzug Untergebrachten auf Einsicht in
seine Krankenunterlagen]; BVerwG, Urt. v. 27.04.1989 - 3 C 4/86 -, juris [Einsicht
eines ehemaligen Untergebrachten in die ihn betreffenden Akten eines
psychiatrischen Landeskrankenhauses). Die Klägerin ist als Mutter nächste
Angehörige ihres verstorbenen Sohnes. Ob Ehegatte und Kinder die Eltern vom
Einsichtsrecht ausgeschlossen hätten (in diesem Sinne § 77 Abs. 2 StGB analog
anwendend: Herberger/Martinek/Rüßmann, jurisPK-BGB, 7. Aufl. 2014, § 630g
BGB, Rn. 33 und Erman, a.a.O., Rn. 22), oder die natürliche Betrachtung nicht
vielmehr auch eine Mehrheit von Anspruchsinhabern gebietet, kann dahinstehen,
da Herr ... weder Ehefrau noch Kinder hatte.
23 Beim Anliegen der Klägerin, durch Akteneinsicht weitere Aufschlüsse über die
Todesursache ihres Sohnes und mögliche strafrechtliche Verantwortlichkeiten des
Behandlungspersonals zu erhalten, handelt es sich ferner um ein immaterielles
Interesse (Herberger/Martinek/Rüßmann, a.a.O., Rn. 29; Erman, a.a.O., Rn. 23).
Dass das zunächst von der Staatsanwaltschaft von Amts wegen eingeleitete
Ermittlungsverfahren im März 2014 mangels Anhaltspunkten für ein
Fremdverschulden wieder eingestellt wurde, steht einer möglichen späteren
Strafanzeige nicht entgegen. Dies gilt umso mehr, als diese Ermittlungen ohne
Beiziehung der Patientenakten erfolgt sind und sich (nur) auf die Vernehmung
zweier Pflegerinnen und der Klägerin beschränkten. Zugunsten der Klägerin greift
aber vor allem auch ein verfassungsrechtlicher Anspruch auf Strafverfolgung ein.
Das Bundesverfassungsgericht hat im Nichtannahmebeschluss vom 23.03.2015
(2 BvR 1304/12 –, Rn. 14-16, juris) einen solchen unter bestimmten Umständen -
der Todesfall des Herrn ... gehört hierzu - bejaht. Danach kann bei Kapitaldelikten
ein solcher Anspruch auf der Grundlage von Art. 6 Abs. 1 GG in Verbindung mit
Art. 2 Abs. 2 Satz 1 und Art. 1 Abs. 1 GG auch nahen Angehörigen zustehen.
Ferner kommt ein Anspruch auf effektive Strafverfolgung auch dann in Betracht,
wenn dem Staat eine spezifische Fürsorge- und Obhutspflicht gegenüber
Personen obliegt, die ihm anvertraut sind. In strukturell asymmetrischen
Rechtsverhältnissen, die dem Verletzten nur eingeschränkte Möglichkeiten lassen,
sich gegen strafrechtlich relevante Übergriffe in ihre Rechtsgüter aus Art. 2 Abs. 2
GG zu wehren, obliegt den Strafverfolgungsbehörden eine besondere
Sorgfaltspflicht bei der Durchführung von Ermittlungen und der Bewertung der
gefundenen Ergebnisse. Die vom Bundesverfassungsgericht hierzu genannten
Beispielen des Maßregel- und Strafvollzugs sind um das hier relevante
Unterbringungsverhältnis zu erweitern.
24 Auch wenn es hierauf nicht mehr ankommt, bemerkt die Kammer gleichwohl, dass
das Anliegen der Klägerin, je nach Ergebnis der Auswertung der Patientenakte
einen eigenen Schmerzensgeldanspruch geltend zu machen (nach den
Grundsätzen über die Schockschädigung im Falle der Tötung naher Angehöriger),
ebenfalls wohl ein genügendes Interesse wäre, da es dabei um immaterielle
Beeinträchtigungen geht.
25 Der – ebenfalls analog anzuwendende – Ausschlussgrund des § 630g Abs. 3 Satz
3 BGB greift schließlich nicht ein. Danach ist eine Einsichtnahme in die
Patientenakte ausgeschlossen, soweit der ausdrückliche oder mutmaßliche Wille
des verstorbenen Patienten entgegensteht. Da auch der Beklagte nicht behauptet,
dass Herr ... noch zu Lebzeiten ausdrücklich erklärt hätte, für den Fall seines
Todes sei seinen Erben bzw. nächsten Angehörigen keine Einsicht in die
Patientenakte zu gewähren, kommt es, soll das Einsichtsrecht doch noch
scheitern, auf eine mutmaßliche Missbilligung an. Der Arzt kann und muss
allerdings auch nahen Angehörigen die Kenntnisnahme von Krankenunterlagen
verweigern, soweit er sich seiner gegenüber dem Verstorbenen fortwirkenden
Verschwiegenheitspflicht an der Preisgabe gehindert sieht. Er hat gewissenhaft zu
prüfen, ob Anhaltspunkte dafür bestehen, dass der Verstorbene die vollständige
oder teilweise Offenlegung der Krankenunterlagen gegenüber seinen
Hinterbliebenen bzw. Erben mutmaßlich missbilligt haben würde; bei der
Erforschung dieses mutmaßlichen Willens des verstorbenen Patienten spielt auch
das Anliegen der die Einsicht begehrenden Personen eine entscheidende Rolle.
Im Regelfall spricht nichts dafür, dass sich ein Verstorbener einem Anliegen,
welches in der Aufklärung und Verfolgung von Behandlungsfehlern liegt,
verschlossen haben würde. Von einem Geheimhaltungswunsch des Patienten
über seinen Tod hinaus auszugehen, ist hingegen die Ausnahme (vergleiche
bereits vor Kodifikation des § 630g Abs. 3 BGB: BGH, Urt. v. 31.05.1983, a.a.O.,
Rnr. 21). Damit spricht eine Regelannahme zu Gunsten einer Akteneinsicht von
Erben und nächsten Angehörigen (in diesem Sinne: OLG München, Urt. v.
09.10.2008 – 1 U 2500/08 –, Rn. 39 ff., juris; MüKoBGB/Leipold, 6. Aufl. 2013, §
1922, Rn. 25a).
26 Anhaltspunkte für eine mutmaßliche Missbilligung Herrn ... betreffend eine
Einsichtnahme seiner Mutter in die Patientenakte für den Fall seines Todes fehlen
im Fall vollständig. Geheimhaltungswünsche lassen sich nach den vom Beklagten
mit Zeugenangebot dargelegten Einzelheiten allenfalls für den Fall seines
Weiterlebens bzw. der Fortsetzung der Behandlung in der Einrichtung entnehmen.
Dies gilt sowohl für die Ablehnung Herrn ..., dass seine Mutter an einem
Gesprächstermin mit der Sozialarbeiterin teilnehme, ferner für seine Bitte
gegenüber den Ärzten, die Klägerin nicht in therapeutische Gespräche
einzubinden, sowie schließlich für die Beobachtung eines Krankenpflegers, dass
es zwischen Herrn ... und der Klägerin wiederholt bei Telefonaten zu heftigen
Auseinandersetzungen gekommen sei und der Verstorbene wiederholt bei Anrufen
der Klägerin das Telefonieren mit ihr verweigert habe. Dass der Verstorbene
hingegen auch für den Fall seines Ablebens – also einer völlig veränderten
Sachlage – eine Distanzierung bzw. Lossagung von seiner Mutter gewollt hätte, ist
daraus auch nicht ansatzweise zu erkennen. Hinzu kommt, dass Herr ... keines
natürlichen Todes starb, sondern im Zustand einer psychischen Erkrankung
Selbstmord beging, was die Frage einer schuldhaften Mitverantwortung der
Behandlungseinrichtung besonders nahe legt. Es drängt sich damit viel eher auf,
dass sein mutmaßlicher Wille dahin gegangen wäre, dass in dieser Situation seine
Angehörigen - als Treuhänder eines postmortalen Persönlichkeitsrechts - den
Versuch der Aufklärung des Geschehens unternehmen. Anhaltspunkte dafür, dem
stünden ehrenrührige Tatsachen entgegen, die sich zulasten des Verstorbenen
aus den Patientenakten ergäben und wiederum ein Hindernis für ein
Einsichtnahme darstellen könnten (OLG München, a.a.O.; MüKoBGB/Leipold,
a.a.O.), bestehen nicht.
27 Der Klägerin steht somit gegenüber dem Beklagten das Recht zu, Einsicht in die
vollständige Patientenakte ihres Sohnes zu verlangen. Wie in der mündlichen
Verhandlung klargestellt, erstreckt sich dies auf sämtliche Aufzeichnungen des
ärztlichen und pflegerischen Personals. Der Beklagte hat insoweit auch nicht
bestritten, dass es solche Aufzeichnungen gibt.
II.
28 Soweit die Klägerin mit einer allgemeinen Leistungsklage ihre Nebenforderung auf
Zahlung vorgerichtlicher anwaltlicher Mahnkosten verfolgt, ist diese Klage zwar
zulässig - ein Rechtsschutzbedürfnis hierfür ergibt sich aus der fortdauernden
Weigerungshaltung des Beklagten -, aber unbegründet.
29
1.)
Es spricht bereits einiges dafür, dass die Geltendmachung der Anwaltskosten,
die schon mit der Mandatierung des Prozessbevollmächtigten der Klägerin im
Vorfeld des ersten Anwaltsschreibens vom 13.05.2014 entstanden sind, durch §
162 VwGO ausgeschlossen werden. Außerhalb eines Vorverfahrens im
Verwaltungsverfahren entstandene Kosten eines Rechtsanwalts sind danach
grundsätzlich nicht erfasst. Ausnahmsweise ist dies nur bei Vorbereitungskosten
mit konkretem Bezug auf den betreffenden Prozess anders, um die es sich
vorliegend aber nicht handelt (vgl. m.w.N.: Bay.VGH, Beschl. v. 05.02.2013 – 10 C
12.2381 –, Rn. 4-6, juris). Selbst wenn man den Streit um die Akteneinsicht als
Verfahren der Verpflichtungsklage ansieht, wären die Anwaltskosten noch vor der
Ablehnungsentscheidung des Beklagten im Schreiben vom 10.06.2014 und vor
dem – dann als Widerspruch zu qualifizierenden – Anwaltsschreiben vom
02.07.2014 entstanden gewesen und somit keine Kosten des Vorverfahrens.
30
2.)
Letztlich kann dies jedoch dahinstehen. Denn auch wenn man davon ausgeht,
dass die prozessuale Kostenerstattungsregelung in § 162 VwGO einen
weitergehenden Ersatz auf materiell-rechtlicher Grundlage nicht ausschließt, ergibt
sich zu Gunsten der Klägerin kein anderes Ergebnis:
31 Einen Anspruch nach Verzugsgrundsätzen (Verzug mit der unverzüglichen
Gewährung von Akteneinsicht) steht der Klägerin nicht zu, da es insoweit im hier
maßgeblichen öffentlichen Recht an einer Regelung fehlt (vgl. für Verzugszinsen:
BVerwG, Urt. v. 03.11.1988 – 5 C 38/84 –, Rn. 8, juris und Urt. v. 24.09.1987 – 2 C
3/84 –, Rn. 16, juris). Zwischen der Klägerin und dem Beklagten bestand auch kein
verwaltungsrechtliches Schuldverhältnis, welches die Anwendung von
Leistungsstörungs- bzw. Verzugsregelungen zuließe. Überdies würde es bei
anderer Beurteilung letztlich an einem adäquat kausalen Verzugsschaden fehlen.
Die Klägerin erteilte das Anwaltsmandat, welches die maßgebliche
Geschäftsgebühr zur Entstehung brachte, nämlich bereits im Vorfeld des
Aktenanforderungsschreibens vom 13.05.2014 und damit eindeutig vor einem
etwaigen Verzug des Beklagten. Rechtsverfolgungskosten indessen sind gemäß
§§ 280 Abs. 1, Abs. 2, 286, 249 BGB als adäquat verursachte Verzugsfolge nur zu
erstatten, wenn sie nach Eintritt des Verzugs aus Sicht des Forderungsgläubigers
zur Wahrnehmung und Durchsetzung seiner Rechte erforderlich und zweckmäßig
waren (vgl. m.z.N.: BGH, Urt. v. 07.05.2015 – III ZR 304/14 –, Rn. 35, juris).
32 Für einen Anspruch aus Amtshaftung, den das Verwaltungsgericht trotz der
Regelung in § 17 Abs. 2 Satz 2 GVG wegen des hier rechtkräftig abgeschlossenen
Rechtswegverweisungsverfahrens zu prüfen hätte (h.M. - vgl. BVerwG, Urt. v.
12.01.1973 – VII C 59.70 –, juris; BAG, Beschl. v. 14.12.1998 – 5 AS 8/98 –, juris;
BSG, Urt. v. 20.05.2003 – B 1 KR 7/03 R –, NVwZ-RR 2004, 463; Kopp/Schenke,
a.a.O., Anh § 41 Rnr. 22; a.A.: Sodan/Ziekow, VwGO, 4. Aufl. 2014, § 17a GVG,
Rn. 56) gilt schließlich das zuvor Dargelegte entsprechend. Die zeitlich frühere
Mandatierung des Anwalts könnte keine adäquat kausale Folge der
Ablehnungsentscheidung des Beklagten vom 10.06.2014 (deren für die
Amtshaftung zusätzlich zur Rechtswidrigkeit erforderliche Schuldhaftigkeit
unterstellt) sein.
III.
33 Die Kammer sieht von einer Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit des
Urteils ab (§ 167 Abs. 2 VwGO im Fall der Verpflichtungsklage bzw. in
entsprechender Anwendung bei der allgemeinen Leistungsklage [vgl. zum
Letzteren: VGH Bad.-Württ., Beschl. v. 24.03.1999 – 9 S 3012/98 –, juris]).
34 Die Kostenentscheidung folgt aus § 155 Abs. 1 Satz 2 VwGO.
35 Die Kammer lässt die Berufung wegen grundsätzlicher Bedeutung gemäß §§ 124a
Abs. 1, 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO zu.