Urteil des VG Freiburg vom 23.09.2016

aufenthalt, ex tunc, gemeinsame elterliche sorge, jugendhilfe

VG Freiburg Urteil vom 23.9.2016, 4 K 88/15
Kostenerstattung zwischen zwei Jugendhilfeträgern bei unterschiedlichen Orten der
Personensorgeberechtigten
Leitsätze
Der genetische Vater ist kein Elternteil im Sinne der §§ 1592 BGB und 86 SGB VIII, vielmehr kommt es insoweit
allein auf die rechtliche Vaterschaft an.
Eine erfolgreiche Vaterschaftsanfechtung wirkt in Bezug auf die Zuständigkeit nach § 86 SGB VIII ex tunc.
Für die Anwendung des § 86 Abs. 1 SGB VIII ist es nicht von Bedeutung, ob den Eltern bzw. der Mutter das
Personensorgerecht zusteht.
Durch eine familiengerichtliche Entscheidung nach § 1630 Abs. 3 BGB kann das Personensorgerecht (als Teil des
elterlichen Sorgerechts) umfassend auf die Pflegeeltern übertragen werden.
Tenor
Der Beklagte wird verurteilt, die dem Kläger in der Zeit vom 24.09.2012 bis zum 31.12.2014 entstandenen
Kosten in Höhe von 21.438,97 EUR, die er für Maßnahmen der Jugendhilfe für J. K. aufgewendet hat, zuzüglich
Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz hieraus seit dem 16.01.2015 zu
bezahlen.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Der Kläger und der Beklagte tragen die Kosten des Verfahren je zur Hälfte.
Das Urteil ist gegen Sicherheitsleitung in Höhe des zu vollstreckenden Betrags vorläufig vollstreckbar.
Tatbestand
1 Der Kläger begehrt Kostenerstattung für die vom 24.09.2012 bis zum 31.12.2014 gewährte Hilfe zur
Erziehung für die Kinder A. und J. K. in Höhe von zusammen 40.672,19 EUR.
2 Die beiden Kinder A. K., geboren am 26.08.2005, und J. K., geboren am 16.11.2007, leben seit dem
20.01.2009 bei ihren Großeltern, den Eltern ihrer Mutter, E. und I. K., in H. im Landkreis E./Brandenburg.
Seit dem 01.05.2010 gewährt der Kläger für beide Kinder Hilfe zur Erziehung in Form der Vollzeitpflege
gemäß den §§ 27 und 33 SGB VIII. Pflegeeltern sind die Großeltern E. und I. K.
3 Die Mutter beider Kinder ist die deutsche Staatsangehörige O. K. Diese lebte nach ihrem Zuzug aus
Kasachstan, der noch vor der Geburt von A. stattfand, zunächst ebenfalls in H., danach vom 17.07.2010 an
in Berlin und seit dem 24.09.2012 in L. im Landkreis O.
4 Der Vater von A. K. ist Herr A. I. aus Kasachstan.
5 Die Mutter von A. und J. heiratete Herrn A. I. am 24.02.2003 noch während ihres Aufenthalts in
Kasachstan. Die Ehe wurde durch Beschluss des Amtsgerichts Astana/Kasachstan am 17.05.2007, der von
den deutschen Behörden nicht anerkannt wird, nach kasachischem Recht geschieden.
6 Mit rechtskräftigem Beschluss vom 15.02.2010 übertrug das Amtsgericht - Familiengericht - C. M. das Recht
zur Regelung von Personenstands- und sonstigen behördlichen Angelegenheiten für J. K. auf die
Kindesmutter O. K..
7 Mit (weiterem) rechtskräftigem Beschluss vom 29.08.2011 übertrug das Amtsgericht C. M. das Sorgerecht
für A. K. auf die Kindesmutter O. K.
8 Der Aufenthaltsort von A. I. ist unbekannt. Der letzte bekannte Aufenthaltsort ist in Kasachstan. Jedenfalls
lebte er bereits vor der Geburt von A. K. dauerhaft von der Kindesmutter getrennt.
9 Biologischer Vater der J. K. ist A. B. Diese Vaterschaft wurde aber weder rechtswirksam anerkannt noch
gerichtlich festgestellt. Mit rechtskräftigem Beschluss vom 07.06.2011 stellte das Amtsgericht C. M. fest,
dass J. K. nicht das Kind des A. I. ist.
10 Mit weiterem rechtskräftigem Beschluss vom 16.07.2012 hat das Amtsgericht C. M. das Personensorgerecht
für die Kinder J. und A. K. auf die Großeltern E. und I. K. „als Pflegepersonen mit den Rechten und Pflichten
aus § 1630 III BGB" übertragen.
11 Mit (zwei) Schreiben vom 03.06.2013 begehrte der Kläger von dem Beklagten Anerkennung der
Kostenerstattungspflicht gemäß § 89a SGB VIII für die gewährte Hilfe zur Erziehung in Form der
Vollzeitpflege für die Kinder J. und A. K. ab dem 24.09.2012. Der Beklagte lehnte dies mit Schreiben vom
28.02.2014 und vom 24.07.2014 ab. Der Beklagte begründete dies mit dem Beschluss des Amtsgerichts C.
M. vom 16.07.2012. Der Kindesmutter sei durch diesen Beschluss die Personensorge entzogen worden. Die
örtliche Zuständigkeit bestimme sich daher ohne Anwendung des § 86 Abs. 6 SGB VIII nach § 86 Abs. 5 Satz
2 SGB VIII. Daraus ergebe sich aber keine Zuständigkeit des Beklagten. Der Kläger hielt dem mit Schreiben
vom 15.04.2014 entgegen: Die Kindesmutter übe trotz des genannten Beschlusses weiter Teile der
Personensorge aus. Den Pflegeeltern seien gemäß § 1630 Abs. 3 BGB lediglich Teile der elterlichen Sorge
übertragen worden. Daher sei der Beklagte gemäß § 86 Abs. 5 Satz 1 SGB VIII örtlich zuständig.
12 Am 16.01.2015 hat der Kläger Klage erhoben. Zur Begründung trägt er im Wesentlichen vor: Der
Erstattungsanspruch für die Kosten der Hilfegewährung für das Kind A. K. beruhe auf § 89a Abs. 3 SGB VIII.
Er habe Kosten aufgrund einer Zuständigkeit nach § 86 Abs. 6 SGB VIII aufgewandt. Ohne diese Vorschrift
wäre der Beklagte für die Gewährung der Vollzeitpflege für die Kinder A. und J. K. örtlich zuständig. Diese
örtliche Zuständigkeit folge aus § 86 Abs. 2 Satz 1 bzw. § 86 Abs. 5 Satz 2 SGB VIII. Die Eltern von A. und J.
K. hätten verschiedene gewöhnliche Aufenthalte. Der Vater von A. lebe in Kasachstan, der von J., mit dem
die Mutter nie verheiratet gewesen sei, dessen Vaterschaft jedoch weder von ihm anerkannt noch
gerichtlich festgestellt worden sei, in Bad Salzuflen. Mit dem Umzug nach Lahr habe die Kindesmutter nach
dem Beginn der Leistung einen vom Kindesvater verschiedenen Aufenthalt im Sinne von § 86 Abs. 5 Satz 1
SGB VIII begründet. § 86 Abs. 5 Satz 2 SGB VIII stehe der Zuständigkeit des Beklagten nicht entgegen.
Durch den Beschluss des Amtsgericht C. M. vom 16.07.2012 sei der Kindesmutter nicht die Personensorge
für A. und J. entzogen worden. Die Entziehung der Personensorge sei nur unter den Voraussetzungen des §
1666 BGB möglich. Die Übertragung der elterlichen Sorge nach § 1630 Abs. 3 BGB sei dem nicht
gleichzustellen. Durch die Übertragung der Personensorge auf die Pflegeperson nach § 1630 Abs. 3 BGB
werde nicht den Eltern ihr natürliches, aus der Elternschaft erwachsendes Sorgerecht entzogen. Mit
Übertragung der Personensorge auf eine Pflegeperson nach § 1630 Abs. 3 BGB erhalte diese keine
Rechtsstellung, die der der personensorgeberechtigten Eltern entspreche. Die Pflegeeltern seien auch nicht
als Personensorgeberechtigte, wie etwa ein Vormund, bestellt worden. Ein Kostenerstattungsanspruch für
die für J. K. aufgewandten Kosten ergebe sich daher aus den §§ 89a Abs. 3 und 86 Abs. 5 SGB VIII analog, da
eine Vaterschaft für J. K. bisher nicht festgestellt worden sei.
13 Der Kläger beantragt (sachdienlich),
14 den Beklagten zu verurteilen, die dem Kläger in der Zeit vom 24.09.2012 bis zum 31.12.2014
entstandenen Kosten in Höhe von 40.672,19 EUR, die er für Maßnahmen der Jugendhilfe für A. und J. K.
aufgewendet hat, zuzüglich Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz
hieraus seit dem 16.01.2015 zu bezahlen.
15 Der Beklagte beantragt,
16 die Klage abzuweisen.
17 Zur Begründung trägt der Beklagte im Wesentlichen vor: Er sei nicht gemäß § 89a Abs. 1 SGB VIII
erstattungspflichtig. Zu Beginn der Leistung sei die Zuständigkeit nach § 86 Abs. 1 bis 5 SGB VIII am
gewöhnlichen Aufenthalt der Mutter von A. und J. K. festzumachen gewesen. Zu jenem Zeitpunkt hätten die
Kinder als ehelich gegolten, deshalb habe somit eine gemeinsame elterliche Sorge bestanden. Da die beiden
Elternteile aber getrennt lebten, habe sich die örtliche Zuständigkeit gemäß § 86 Abs. 2 Satz 2 SGB VIII
nach dem gewöhnlichen Aufenthalt der Kindesmutter gerichtet. Mit den Beschlüssen vom 07.06.2011 und
25.08.2011 habe das Amtsgericht C. M. für beide Kinder das alleinige Sorgerecht der Mutter zugesprochen.
Danach habe sich die Zuständigkeit nach § 86 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII bestimmt. Dies habe sich jedoch mit
dem Beschluss des Amtsgerichts C. M. vom 16.07.2012 geändert. Das Amtsgericht habe darin explizit das
Personensorgerecht auf die Pflegeeltern übertragen. Ab diesem Zeitpunkt sei die Kindesmutter nicht mehr
Personensorgeberechtigte im Sinne des Bürgerlichen Gesetzbuchs und des Sozialgesetzbuchs Achtes Buch
gewesen. Mithin sei auch ihr gewöhnlicher Aufenthalt nicht mehr maßgeblich für die örtliche Zuständigkeit.
Mit dem Umzug der Kindesmutter nach Lahr gelte demnach die Regelung des § 86 Abs. 5 Satz 2 SGB VIII.
Die bisherige Zuständigkeit des Klägers sei danach bestehen geblieben.
18 Der Kammer liegen die die Kinder A. und Jan K. betreffenden Jugendhilfeakten des Klägers und des Beklagten
(jew. 2 Hefte) vor. Der Inhalt dieser Akten und der Gerichtsakten war Gegenstand der Kammerberatung und
-entscheidung; hierauf wird ergänzend Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
19 Die Entscheidung ergeht mit Einverständnis der Beteiligten gemäß § 101 Abs. 2 VwGO durch Urteil ohne
mündliche Verhandlung.
20 Die Klage ist als allgemeine Leistungsklage zulässig. Soweit der Kläger von dem Beklagten die Erstattung
der für Maßnahmen der Jugendhilfe für J. K. in der Zeit vom 24.09.2012 bis 31.12.2014 aufgewendeten
Kosten in Höhe von 21.438,97 EUR begehrt, ist die Klage auch begründet (1.). Dagegen ist die Klage
unbegründet, soweit der Kläger vom Beklagten die Erstattung der in dieser Zeit für Maßnahmen der
Jugendhilfe für A. K. aufgewendeten Kosten in Höhe von 19.233,22 EUR begehrt (2.).
21
1.
Der Kostenerstattungsanspruch des Klägers für die Gewährung von Hilfe zur Erziehung im Rahmen der
Vollzeitpflege für J. K. ergibt sich aus § 89a Abs. 1 und 3 SGB VIII. Gemäß § 89a Abs. 1 SGB VIII sind Kosten,
die ein örtlicher Träger der Jugendhilfe aufgrund der Zuständigkeit nach § 86 Abs. 6 SGB VIII aufgewendet
hat, von dem örtlichen Träger zu erstatten, der zuvor zuständig war. Ändert sich während der Gewährung
der Leistung der für die örtliche Zuständigkeit nach § 86 Abs. 1 bis 5 SGB VIII maßgebliche gewöhnliche
Aufenthaltsort wird gemäß § 89a Abs. 3 SGB VIII der Träger kostenerstattungspflichtig, der ohne
Anwendung des § 86 Abs. 6 SGB VIII örtlich zuständig geworden wäre.
22
1.1
Der Kläger ist gemäß § 86 Abs. 6 SGB VIII für die Gewährung von Hilfe zur Vollzeitpflege gemäß § 33
SGB VIII für J. K. örtlich zuständig (gewesen). Lebt ein Kind seit zwei Jahren bei einer Pflegeperson und ist
sein Verbleib dort auf Dauer zu erwarten, so ist gemäß § 86 Abs. 6 Satz 1 SGB VIII der örtliche Träger
zuständig, in dessen Bereich die Pflegeperson ihren gewöhnlichen Aufenthalt hat. J. K. lebt bereits seit
Beginn des Jahres 2009 bei den Pflegepersonen und ihr Verbleib dort ist auch auf Dauer zu erwarten. Die
Pflegepersonen, die Großeltern von J. K., waren und sind wohnhaft in H. im Landkreis Elbe-Elster und haben
damit ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Zuständigkeitsbereich des Klägers.
23
1.2
Der Beklagte wäre ohne Anwendung des § 86 Abs. 6 SGB VIII durch den Umzug der Kindesmutter nach
Lahr und damit in den Zuständigkeitsbereich des Beklagten örtlich zuständig geworden. Die örtliche
Zuständigkeit bestimmt sich nach § 86 Abs. 1 bis 5 SGB VIII. Nach § 86 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII ist der Träger
zuständig, in dessen Bereich die Eltern ihren gewöhnlichen Aufenthalt haben; nach § 86 Abs. 1 Satz 2 SGB
VIII tritt an die Stelle der Eltern die Mutter, wenn und solange eine Vaterschaft nicht anerkannt oder
gerichtlich festgestellt ist.
24 Im Fall der J. K. besteht keine Vaterschaft im Sinne des § 86 Abs. 1 Satz 2 SGB VIII. Die
jugendhilferechtlichen Zuständigkeitsregelungen kennen keinen eigenen Begriff der Eltern, sondern knüpfen
an die zivilrechtliche Rechtslage an
(BVerwG, Urteil vom 25.03.2010, NVwZ-RR 2010, 686). Eine
Vaterschaft für J. K. im Rechtssinne besteht nicht und hat nie bestanden. Die Vaterschaft des biologischen
Vaters B. C. wurde nicht rechtswirksam anerkannt oder gerichtlich festgestellt. Mit Beschluss des
Amtsgerichts C. M. vom 07.06.2011 wurde lediglich rechtskräftig festgestellt, dass der A. I., der (frühere)
Ehemann der Kindesmutter, nicht Vater der J. K. ist. Diese erfolgreiche Vaterschaftsanfechtung greift
zuständigkeitsrechtlich auch ex tunc, das heißt, sie wirkt zeitlich auf die erstmalige Bewilligung der
Jugendhilfeleistung zurück (
BVerwG, Urteil vom 25.03.2010, a.a.O.). Damit hat bzw. bzw. hatte J. K. zu
keinem Zeitpunkt Eltern im Sinne von § 86 SGB VIII, sondern nur eine Mutter. Denn einen Vater und damit
einen zweiten Elternteil hat ein Kind oder Jugendlicher nur bei ehelicher Geburt oder nach (positiver)
Anerkennung oder Feststellung der Vaterschaft (
§ 1592 BGB). Der genetische Vater ist kein Elternteil im
Sinne der §§ 1592 BGB und 86 SGB VIII, vielmehr kommt es allein auf die rechtliche Verwandtschaft an
(
Bohnert, in: Hauck, Sozialgesetzbuch VIII, Stand: Mai 2016, Bd. 2, K § 86 RdNrn. 10 und 29; Kunkel/Kepert,
in: Kunkel, Sozialgesetzbuch VIII, 5. Aufl. 2014, § 86 RdNr. 20).
25 Die Mutter von J. K., auf die es hiernach allein ankommt
(Lange, in: jurisPK-SGB VIII, 1. Aufl. 2014, § 86
RdNr. 67), hatte, was zwischen den Beteiligten nicht streitig ist, aufgrund ihres Umzugs nach Lahr und
damit in den Zuständigkeitsbereich des Beklagten am 24.09.2012 ihren gewöhnlichen Aufenthalt (
i.S.d. §§
37 Abs. 1 und 30 Abs. 3 Satz 2 SGB I) geändert mit der Folge, dass der Beklagte ohne Anwendung von § 86
Abs. 6 SGB VIII für Maßnahmen der Jugendhilfe für J. örtlich zuständig geworden und (zumindest) bis zum
Ende des hier maßgeblichen Zeitraums geblieben wäre (
vgl. Bohnert, a.a.O., § 86 RdNr. 31;
Eschelbach/Schindler, in: Frankfurter Kommentar SGB VIII, 7. Aufl. 2013, § 86 RdNr. 6; Lange, a.a.O., § 86
RdNr. 65). Aus § 86 Abs. 2 bis 5 SGB VIII kann sich nichts anderes ergeben, weil die dortigen Regelungen
nach ihrem insoweit eindeutigen Wortlaut voraussetzen, dass das Kind Eltern im Rechtssinne, das heißt
zwei Elternteile und nicht nur, wie hier, eine Mutter, hat. Auf die zwischen dem Kläger und dem Beklagten
hauptsächlich streitige Frage, ob die Kindesmutter aufgrund des (weiteren) Beschlusses des Amtsgerichts C.
M. vom 16.07.2012 nicht mehr personensorgeberechtigt ist im Sinne des § 86 Abs. 2 bis 5 SGB VIII, kommt
es hiernach wegen der fehlenden Anwendbarkeit von § 86 Abs. 2 bis 5 SGB VIII nicht an. Demgegenüber ist
es für die Anwendung des § 86 Abs. 1 SGB VIII nach dem eindeutigen Wortlaut nicht von Bedeutung, ob den
Eltern bzw. der Mutter das Personensorgerecht zusteht (
Bohnert, a.a.O., § 86 RdNrn. 11 und 30;
Kunkel/Kepert, a.a.O., § 86 RdNr. 18).
26 Die Höhe der Aufwendungen für J. K. von 21.438,97 EUR im Zeitraum vom 12.09.2012 bis zum 31.12.2014
ergibt sich aus der Kostenaufstellung des Klägers auf den Seiten B 9 und 10 der Verwaltungsakten (Heft 1)
über die Gewährung von Jugendhilfe für J. K.. Gegen diese Kostenaufstellung hat der Beklagte keine
Einwendungen geltend gemacht; solche sind auch für die Kammer nicht erkennbar.
27
2.
Demgegenüber hat der Kläger keinen Anspruch auf Kostenerstattung für die zugunsten von A. K.
erbrachten Jugendhilfeleistungen. Dabei gilt für einen solchen Anspruch im Ausgangspunkt das zum Fall der
J. K. Ausgeführte entsprechend (
siehe oben zu 1. und 1.1). Rechtsgrundlage des
Kostenerstattungsanspruchs ist auch hier § 89a Abs. 1 und 3 SGB VIII. Danach wäre eine Erstattungspflicht
des Beklagten (nur dann) gegeben, wenn während der Gewährung der Leistung für A. K. der maßgebliche
gewöhnliche Aufenthaltsort in den Zuständigkeitsbereich des Beklagten verlagert worden wäre. Das ist hier
nicht der Fall.
28
2.1
Anders als im Fall der J. K. ist § 86 Abs. 1 Satz 2 SGB VIII, nach dem unabhängig von der Frage, wem die
Personensorge zusteht, auf den gewöhnlichen Aufenthalt der Mutter abzustellen ist, hier nicht anwendbar.
Denn anders als J. hat A. gemäß § 1592 Nr. 1 BGB einen rechtlichen Vater, nämlich den A. I., der
(zumindest) zum Zeitpunkt der Geburt von A. am 26.08.2005 mit der Mutter verheiratet war. Da die Eltern
von A. nach der Geburt von A. nie einen gemeinsamen Aufenthalt hatten, bestimmt sich die örtliche
Zuständigkeit des Jugendhilfeträgers, abgesehen von § 86 Abs. 6 SGB VIII, deshalb nach § 86 Abs. 2 bis 5
SGB VIII.
29
2.2
Im konkreten Fall ergibt sich aus § 86 Abs. 3 in Verbindung mit Abs. 2 Satz 4 SGB VIII, dass es auf den
gewöhnlichen Aufenthalt von A. vor Beginn der Leistung (am 01.05.2010) ankommt und dass der Kläger
deshalb auch ohne § 86 Abs. 6 SGB VIII durchgehend örtlich zuständiger Träger der Jugendhilfe gewesen
wäre. Nach § 86 Abs. 3 SGB VIII gilt § 86 Abs. 2 Satz 2 und 4 SGB VIII entsprechend, wenn die Elternteile
verschiedene gewöhnliche Aufenthalte haben und die Personensorge keinem Elternteil zusteht.
30
2.2.1
Es steht fest, dass die Eltern von A., O. K. und A. I., seit der Geburt von A. und bis zuletzt
verschiedene gewöhnliche Aufenthalte gehabt haben. Denn die Kindesmutter O. K. lebte bereits vor der
Geburt von A. in Deutschland, während Herr I. nie in Deutschland gelebt hat (
zur Anwendbarkeit von § 86
Abs. 3 i.V.m. Abs. 2 Satz 2 und 4 SGB VIII in einem solchen Fall siehe Nieders. OVG, Beschluss vom
15.04.2010 - 4 L 266/08 -, juris; Kunkel/Kepert, a.a.O., § 86 RdNr. 30).
31
2.2.2
Die Personensorge für A. stand auch für den gesamten hier maßgeblichen Zeitraum vom 24.09.2012
bis zum 31.12.2014 keinem Elternteil zu.
32
2.2.2.1
Herr I. hat sein elterliches Sorgerecht spätestens mit dem Beschluss des Amtsgerichts C. M. vom
25.08.2011 verloren, mit dem das (komplette elterliche) Sorgerecht für A. auf ihre Mutter übertragen wurde
(
zur Anwendbarkeit von § 86 Abs. 3 SGB VIII auch bei Änderung der Sorgerechtsverhältnisse nach Beginn
der Leistung [im Sinne des Prinzips der dynamischen bzw. wandernden Zuständigkeit] siehe OVG Rhld.-Pf.,
Urteil vom 13.08.2009 - 7 A 10443/09 -, juris; Bohnert, a.a.O., § 86 RdNr. 41).
33
2.2.2.2
Aber auch die Mutter O. K. hat vor Beginn des hier maßgeblichen Zeitraums ihr Personensorgerecht
für A. (und J.) verloren. Denn mit Beschluss vom 16.07.2012 hat das Amtsgericht C. M. Folgendes
entschieden. „Das Personensorgerecht für die Kinder J. K., geb. am 16.11.2005 (richtig wäre 2007) und A.
K., geb. am 26.8.2005 wird auf E. und I. K. als Pflegepersonen mit den Rechten und Pflichten aus § 1630 III
BGB übertragen.“
34 Durch diesen Beschluss des Amtsgerichts C. M. hat die Mutter das (umfassende) Personensorgerecht für ihre
Tochter A. verloren. Dafür sprechen bereits der Wortlaut der Beschlussformel sowie die Gründe des
Beschlusses, aus denen hervorgeht, dass das Amtsgericht das gesamte Personensorgerecht und nicht etwa
nur einzelne Teile davon, die explizit zu bezeichnen gewesen wären, auf die Großeltern E. und I. K.
übertragen hat. Damit hat das Amtsgericht, was der Kläger möglicherweise verkennt, keinesfalls das
gesamte elterliche Sorgerecht übertragen, sondern eben nur (aber immerhin) das gesamte
Personensorgerecht als einem (wesentlichen) Teil des elterlichen Sorgerechts, das neben dem Recht der
Personensorge auch das Recht der Vermögenssorge umfasst (
§ 1626 Abs. 1 BGB). In den Gründen des
Beschlusses vom 16.07.2012 sowie gerade im Vergleich mit dem Beschluss vom 25.08.2011 bringt das
Amtsgericht C. M. deutlich zum Ausdruck, dass ihm der Unterschied zwischen der (umfassenden) elterlichen
Sorge und der Personensorge, die allein im Beschluss vom 16.07.2012 auf die Pflege- bzw. Großeltern
übertragen worden ist, sehr wohl bewusst war und ist. Da das Recht der Vermögenssorge durch das
Amtsgericht C. M. nicht ebenfalls übertragen wurde, kann die für die unterschiedliche Auffassung der
Beteiligten maßgebliche Frage hier dahingestellt bleiben, ob es zulässig sein kann, das elterliche Sorgerecht
vollständig, also sowohl das uneingeschränkte Personen- als auch das Vermögenssorgerecht, im Wege von §
1630 Abs. 3 BGB zu übertragen (
vgl. hierzu dies verneinend - allerdings ohne klare Differenzierung
zwischen dem umfassenden elterlichen Sorgerecht und dem Personensorgerecht - Thür. OVG, Beschluss
vom 09.12.2008 - 1 UF 162/08 -, juris; Y. Döll, in: Erman, BGB, 14. Aufl. 2014, § 1630 RdNr. 12; zur anderen
Auffassung, die eine vollständige Übertragung des elterlichen Sorgerechts nach § 1630 Abs. 3 BGB für
zulässig hält, siehe KG [Berlin], Beschluss vom 08.02.2006 - 25 UF 74/05 -, juris; ebenso - ausdrücklich
gegen den o. gen. Beschluss des OVG Thür. - AG Erfurt, Beschluss vom 19.06.2014 - 36 F 533/14 -, juris; VG
Sigmaringen, Urteil vom 15.01.2004 - 2 K 1126/02 -, juris; B. Hamdan, in: jurisPK-BGB, 7. Aufl. 2014, §
1630 RdNrn. 12 ff.). Dagegen entspricht es weit überwiegender Auffassung in Rechtsprechung und
Literatur, der sich die Kammer anschließt, dass durch eine familiengerichtliche Entscheidung nach § 1630
Abs. 3 BGB zumindest das Personensorgerecht (als Teil des elterlichen Sorgerechts) umfassend übertragen
werden kann (
siehe - neben den oben gen. Zitaten zur Auffassung, die sich sogar für die Zulässigkeit einer
vollständigen Übertragung des elterlichen Sorgerechts durch § 1630 Abs. 3 BGB ausspricht - BVerwG, Urteil
vom 15.12.1995, NJW 1996, 2385; Palandt, BGB, 73. Aufl. 2014, § 1630 RdNr. 11; Peschel-Gutzeit, in:
Staudinger, BGB, 2015, § 1630 RdNrn. 52 ff.; Kunkel, in: Kunkel, a.a.O., § 7 RdNr. 6; a. A. insoweit nur
Bayer. VGH, Urteil vom 16.11.2004 - 12 B 00.3364 -, juris). Von dieser Möglichkeit der umfassenden
Übertragung des Personensorgerechts von der Mutter auf die Groß- bzw. Pflegeeltern von A. hat das
Amtsgericht C. M. in seinem Beschluss vom 16.07.2017 Gebrauch gemacht.
35 Zu demselben Ergebnis gelangte man auch, wenn man in dem Beschluss des Amtsgerichts C. M. vom
16.07.2012 keine vollständige Übertragung des Personensorgerechts sähe. Denn zumindest wäre die
Mutter von A. durch diesen Beschluss an der Ausübung ihrer Personensorge gehindert. Auch das bedeutete
unabhängig von einem vorübergehenden oder endgültigen Entzug des Personensorgerechts, dass ihr die
Personensorge nicht im Sinne von § 86 Abs. 3 SGB VIII zusteht (
so OVG Sachs.-Anh., Urteil vom 09.06.2016
- 4 L 140/15 -, juris, mit Hinweis auf BVerwG, Beschluss vom 13.09.2004 - 5 B 65.04 -, juris, wonach die
Eltern während des Ruhens der elterlichen Sorge an der Ausübung der Personensorge gehindert seien und
ihnen diese nicht, wie von § 86 Abs. 3 SGB VIII gefordert, zustehe).
36 Damit liegen die Voraussetzungen des § 86 Abs. 3 SGB VIII für eine entsprechende Anwendung von § 86
Abs. 2 Satz 2 und 4 SGB VIII vor. Weil, wie zuvor dargelegt, beiden Elternteilen von A. K. zumindest seit
dem 16.07.2012 und damit schon vor Beginn des hier maßgeblichen Zeitraums und auch in dessen Verlauf
die Personensorge nicht zustand und weil A. schon vor Beginn der Leistung bei keinem Elternteil ihren
gewöhnlichen Aufenthalt hatte, scheidet eine entsprechende Anwendung von § 86 Abs. 2 Satz 2 SGB VIII
aus. Stattdessen ergibt sich die örtliche Zuständigkeit aus einer entsprechenden Anwendung von § 86 Abs.
2 Satz 4, 1. Halbsatz SGB VIII. Danach ist, wenn das Kind oder der Jugendliche während der letzten sechs
Monate vor Beginn der Leistung bei keinem Elternteil einen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, der örtliche
Träger der Jugendhilfe zuständig, in dessen Bereich das Kind oder der Jugendliche vor Beginn der Leistung
zuletzt seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte. Da A. K. lange vor dem Beginn der Leistung am 01.05.2010,
nämlich bereits seit dem 20.01.2009, und danach durchgehend bis zum Ende des in diesem Verfahren
maßgeblichen Zeitraums ihren gewöhnlichen Aufenthalt bei keinem Elternteil, sondern bei ihren Groß- bzw.
Pflegeeltern in H. hatte und hat, war und ist der Kläger auch ohne die Regelung in § 86 Abs. 6 SGB VIII und
trotz Verlagerung des gewöhnlichen Aufenthalts der Mutter von A. nach Lahr zuständiger Träger der
Jugendhilfe geblieben.
37 Aus anderen Regelungen in § 86 Abs. 1 bis 5 SGB VIII (als aus dem hier einschlägigen § 86 Abs. 3 SGB VIII),
auf die § 89a Abs. 3 SGB VIII verweist, ergeben sich keine anderen Zuständigkeiten. § 86 Abs. 1 SGB VIII
wird im Falle verschiedener gewöhnlicher Aufenthalte der Elternteile, wie das hier beim Vater A. I. und der
Mutter O. K. der Fall ist (
siehe oben), von § 86 Abs. 2 SGB VIII verdrängt, der wiederum jedoch dann keine
Anwendung finden kann, wenn keinem Elternteil die Personensorge zusteht, wie das hier ebenso der Fall
ist. § 86 Abs. 4 SGB VIII ist deshalb nicht anwendbar, weil die Mutter von A. K. seit der Geburt von A.
durchweg im Inland immer einen gewöhnlichen Aufenthalt gehabt hat (und weiterhin hat). Schließlich
kommt auch § 86 Abs. 5 SGB VIII zumindest deshalb nicht zur Anwendung, weil im hier maßgeblichen
Zeitraum keinem Elternteil das Personenrecht zustand (
siehe oben).
38
3.
Hat der Kläger gegen den Beklagten mithin einen Anspruch auf Erstattung der aufgewendeten Kosten,
hat er auch einen Anspruch auf Zahlung von Prozesszinsen. Nach § 291 BGB hat der Schuldner von dem
Eintritt der Rechtshängigkeit an eine Geldschuld zu verzinsen, und zwar auch dann, wenn er nicht in
Verzug ist. § 291 BGB ist sinngemäß auch auf öffentlich-rechtliche Geldforderungen anwendbar, wenn das
einschlägige Fachrecht - wie hier das Sozialrecht - keine abweichende Regelung trifft (
BVerwG, Urteile vom
22.02.2001 - 5 C 34.00 - und vom 18.05.2000 - 5 C 27.99 -, jew. juris; OVG NRW, Beschluss vom
08.05.2000 - 22 A 1123/98 -, juris; Urteil der Kammer vom 12.03.2015 - 4 K 1734/14 -). Insbesondere trifft
auch § 89f Abs. 2 Satz 2 SGB VIII insoweit keine abweichende Regelung, weil danach ausdrücklich nur
Verzugszinsen, aber keine (von Verzugszinsen wesensmäßig zu unterscheidenden) Prozesszinsen
ausgeschlossen werden (
so BVerwG, Urteil vom 22.02.2001, a.a.O.). Der Beginn der Verzinsung beginnt mit
Klageerhebung bei Gericht, hier also am 16.01.2015, der Zinssatz für Prozesszinsen beträgt 5
Prozentpunkte über dem Basiszinssatz
(§ 291 Satz 2 BGB i.V.m. § 288 Abs. 1 Satz 2 BGB).
39 Die Kostenentscheidung folgt aus § 155 Abs. 1 Satz 1 und § 188 Satz 2, 2. Halbsatz VwGO.
40 Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf den §§ 167 Abs. 1 VwGO und 709 ZPO.
41 Gründe des § 124 Abs. 2 Nrn. 3 oder 4 VwGO, aus denen die Berufung vom Verwaltungsgericht zuzulassen
wäre, sind nicht gegeben.