Urteil des VG Freiburg vom 24.02.2015
degenerative veränderung, datum, ermessensausübung, behinderung
VG Freiburg Urteil vom 24.2.2015, 4 K 2673/13
Straßenverkehrsbehörde; Behinderter; Bindungswirkung von Feststellungen
im Schwerbehindertenausweis; Ermessenslenkung und -bindung durch die
StVOVwV
Leitsätze
Das Ermessen der Straßenverkehrsbehörden nach § 46 Abs. 1 Satz 1 Nr. 11 StVO
wird durch die VwV-StVO gelenkt und, soweit der konkret zu entscheidende
Sachverhalt dort erfasst ist, gebunden.
In atypischen Sonderfällen, die von der VwV-StVO zu § 46 Abs. 1 Nr. 11 StVO nicht
erfasst sind, unterliegen die Straßenverkehrsbehörden keiner abschließenden
Bindung durch diese VwV. Insoweit verbleibt den Straßenverkehrsbehörden ein
eigenes Ermessen.
Hinsichtlich der gesundheitlichen Merkmale, die von der VwV-StVO für eine
Ausnahmegenehmigung nach § 46 Abs. 1 Satz 1 Nr. 11 StVO gefordert werden,
kommt den Feststellungen im Schwerbehindertenausweis bindende Wirkung zu.
Sonstigen Stellungnahmen von Sozialbehörden, die diese außerhalb der
Feststellungen in einem Schwerbehindertenausweis abgeben, kommt demgegenüber
keine Bindungswirkung zu.
Tenor
Der den Antrag des Klägers vom 23.08.2012 auf Erteilung einer
Ausnahmegenehmigung nach der StVO ablehnende Bescheid der Beklagten (ohne
Datum) und der Widerspruchsbescheid des Regierungspräsidiums … vom
19.11.2013 werden aufgehoben und die Beklagte wird verpflichtet, den Antrag des
Klägers auf Erteilung einer Ausnahmegenehmigung nach der StVO unter Beachtung
der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu bescheiden.
Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
Tatbestand
1 Der Kläger wendet sich gegen die Ablehnung seines Antrags, ihm im Wege einer
Ausnahmegenehmigung eine Parkerleichterung nach der StVO zu erteilen.
2 Der Kläger beantragte am 23.08.2012 bei der Beklagten eine
Ausnahmegenehmigung zur Bewilligung von Parkerleichterungen für besondere
Gruppen von Schwerbehinderten. Laut Bescheid des Landratsamts L. vom
02.08.2012 wurde beim Kläger ein Grad der Behinderung (GdB) von 80 sowie das
Merkmal „G" festgestellt.
3 Mit einem Bescheid, der kein Datum trägt, lehnte die Beklagte den Antrag des
Klägers ab, da eine Prüfung des Landratsamts L. - Fachbereich Gesundheit -
ergeben habe, dass beim Kläger die Voraussetzungen für die beantragte
Ausnahmegenehmigung (insbesondere das fehlende Merkmal „B") nicht vorlägen
und diese Ausnahmegenehmigung deshalb nicht erteilt werden könne.
4 Hiergegen erhob der Kläger am 10.01.2013 Widerspruch. Zur Begründung trug er
vor: Die Beklagte habe den Antrag ohne eigene Begründung zurückgewiesen.
Auch das Landratsamt habe sich zur hier relevanten Frage nicht geäußert. Die
Beklagte habe danach kein Ermessen ausgeübt, weshalb der angegriffene
Bescheid allein aus diesem Grund rechtswidrig sei. In der Sache lägen die
Voraussetzungen für die Ausnahmegenehmigung vor. Er habe die Pflegestufe 1
und könne sich nur mit fremder Hilfe und unter großer Anstrengung außerhalb
seines Kraftfahrzeugs bewegen. Daher sei die beantragte
Ausnahmegenehmigung zu erteilen.
5 Mit Widerspruchsbescheid vom 19.11.2013, laut Aktenvermerk versandt am
20.11.2013, wies das Regierungspräsidium … den Widerspruch des Klägers
zurück. Zur Begründung führte das Regierungspräsidium aus: Der Widerspruch sei
unbegründet. Der Antrag des Klägers sei dem dafür zuständigen Versorgungsamt
beim Landratsamt L. zur Stellungnahme vorgelegt worden. Dieses Amt habe
gegenüber der Beklagten am 07.11.2013 nicht bestätigen können, dass die
medizinischen Voraussetzungen beim Kläger gegeben seien, da insbesondere ein
GdB von 80 allein nicht ausreiche. Die Straßenverkehrsbehörde könne die
gewünschte Parkerleichterung jedoch nur dann gewähren, wenn das
Versorgungsamt als Fachbehörde das Vorliegen der erforderlichen medizinischen
Voraussetzungen bestätigt hätte. Die Straßenverkehrsbehörde habe die fachliche
Stellungnahme berücksichtigen müssen und habe hier keinen
Ermessensspielraum.
6 Am 23.12.2013 hat der Kläger Klage erhoben. Zur Begründung trägt er vor: Er
leide an ganz erheblichen orthopädischen Beeinträchtigungen im Hals-,
Lendenwirbel- und Schulterbereich. Hinzu komme ein Morbus Bechterew, der die
Beweglichkeit erheblich einschränke. Er sei dauerhaft auf die Nutzung zweier
Gehhilfen angewiesen. Der Zustand verschlechtere sich fortschreitend. Er könne
sich außerhalb seines Kraftfahrzeugs überhaupt nur noch mit fremder Hilfe oder
großer Anstrengung bewegen. Er habe Pflegestufe 1 mit einem Grad der
Behinderung von 80. Es seien folgende Funktionsbeeinträchtigungen anerkannt
worden: Entzündlich-rheumatische Erkrankung der Gelenke / der Wirbelsäule,
chronisches Schmerzsyndrom, Funktionsbehinderung beider Schultergelenke,
degenerative Veränderung der Wirbelsäule, Bandscheibenschaden,
Nervenwurzelreizerscheinungen, muskuläre Verspannungen, Schulter-Arm-
Syndrom, Depression, somatoforme Schmerzstörung (Fibromyalgie), seelische
Störung, Knorpelschäden am rechten Kniegelenk, Sehminderung beidseitig. Die
angefochtenen Bescheide seien rechtswidrig. Ihm stehe jedenfalls ein subjektiv-
öffentliches Recht auf ermessensfehlerfreie Entscheidung zu, das er im Wege der
Bescheidungsklage geltend machen könne. Es sei unstreitig, dass er die
Voraussetzungen der einschlägigen Verwaltungsvorschrift derzeit nicht unmittelbar
erfülle. Insbesondere in Fällen, in denen sich ein Betroffener auf eine nicht von den
Fallgruppen der Verwaltungsvorschrift erfasste Behinderung berufe, habe die
Straßenverkehrsbehörde einen ihr durch das Gesetz eingeräumten
Entscheidungs- bzw. Ermessensspielraum wahrzunehmen. Sie habe in besonders
gelagerten, atypischen Fällen, die nicht in genereller Weise durch die
Verwaltungsvorschriften vorentschieden seien, eine ihr vom Gesetzgeber
aufgegebene Bewertung des Sachverhalts im Rahmen einer Einzelfallwürdigung
vorzunehmen. Dazu gehöre die Feststellung, ob sonstige besondere Umstände
vorlägen, die bei einem wertenden Vergleich mit den in der Verwaltungsvorschrift
aufgeführten Fallgruppen eine vergleichbare Entscheidung rechtfertigen könnten.
Die entscheidende Behörde sei somit nicht von einer Ermessensentscheidung
entbunden, ob dennoch die Genehmigung zu erteilen sei, wenn besondere,
atypische Fallgestaltungen gegeben seien. Dies hätten die Beklagte und die
Widerspruchsbehörde hier unberücksichtigt gelassen. Die
Straßenverkehrsbehörde sei nicht an die Stellungnahme der Sozialbehörde
gebunden, die diese nach Aktenlage abgegeben habe, denn die Bindungswirkung
des § 69 Abs. 5 SGB IX beziehe sich allein auf die Feststellungen in dem
Schwerbehindertenausweis. Somit wäre die Beklagte entgegen ihrer Auffassung
verpflichtet gewesen, eine eigenständige Prüfung und Ermessensausübung
vorzunehmen. Aufgrund der zahlreichen genannten gesundheitlichen Umstände
liege bei ihm ein atypischer Ausnahmefall vor, so dass Gründe vorlägen, welche
das öffentliche Interesse an dem Verbot, von dem eine Ausnahme erteilt werden
solle, überwögen. Ein atypischer Ausnahmefall liege vor, wenn ein Vergleich der
Beeinträchtigungen des Antragstellers im konkreten Fall mit den in der
Verwaltungsvorschrift zu § 46 StVO geregelten Fällen ergebe, dass die
Beeinträchtigungen ähnlich schwer wögen und es damit sachlich nicht
gerechtfertigt sei, den Antragsteller durch Versagung der Ausnahmegenehmigung
ungleich zu behandeln. Die in der Verwaltungsvorschrift nicht benannte
Erkrankung Morbus Bechterew stelle eine chronisch entzündliche rheumatische
Erkrankung dar, die zu erheblichen Schmerzen und Versteifungen von Gelenken
führe. Insbesondere bei männlichen Patienten könne der Verlauf bis zur völligen
Versteifung führen. Dies sei bei ihm zu befürchten. Seine gesundheitlichen
Beeinträchtigungen entsprächen denen, die den „vertypten" Varianten in VwV zu §
46, Nummer 11 zugrunde lägen. Die Beklagte habe damit hinreichende
Ansatzpunkte für die notwendige Ermessensausübung gehabt. Die Klage sei
damit jedenfalls in Form der Bescheidungsklage begründet. Zudem sei hier ein
atypischer Einzelfall dergestalt gegeben, dass er es im Wege der Annahme einer
Ermessensentscheidung auf Null gebiete, ihm eine Parkerleichterung
zuzuerkennen. Damit habe er sogar unmittelbar einen Anspruch auf die begehrte
Ausnahmegenehmigung. Jedenfalls aber sei die Ablehnung des Antrags
ermessensfehlerhaft gewesen, so dass er die erneute Entscheidung über seinen
Antrag beanspruchen könne.
7 Der Kläger beantragt (sachdienlich),
8
den seinen Antrag vom 23.08.2012 auf Erteilung einer Ausnahmegenehmigung
nach der StVO ablehnende Bescheid der Beklagten (ohne Datum) und den
Widerspruchsbescheid des Regierungspräsidiums … vom 19.11.2013
aufzuheben und die Beklagte wird verpflichtet, seinen Antrag auf Erteilung einer
Ausnahmegenehmigung nach der StVO unter Beach-tung der Rechtsauffassung
des Gerichts neu zu bescheiden.
9 Die Beklagte beantragt,
10 die Klage abzuweisen.
11 Zur Begründung verweist die Beklagte auf die Gründe der angefochtenen
Bescheide. Ergänzend trägt sie vor: Der Kläger habe einen Antrag auf Erteilung
einer Ausnahmegenehmigung für eine Parkerleichterung (ag-light) gestellt. Die
erforderlichen Voraussetzungen hierfür in Form des Merkzeichens B lägen aber
nicht vor. Zudem lägen die Voraussetzungen für die Ausstellung eines
orangefarbenen Parkausweises nach geltender Verwaltungsvorschrift derzeit nicht
vor. Die Straßenverkehrsbehörde könne die Parkerleichterung nur dann gewähren,
wenn das Versorgungsamt als Fachbehörde das Vorliegen der erforderlichen
medizinischen Voraussetzungen bestätigt habe. Die Straßenverkehrsbehörde
habe die fachliche Stellungnahme zu berücksichtigen und keinen
Ermessenspielraum. Auch gebe es keine weiteren Erkenntnisse, um die getroffene
Entscheidung zu ändern.
12 Dem Gericht liegen die einschlägigen Akten der Beklagten und die
Widerspruchsakten des Regierungspräsidiums … (jew. 1. Heft) vor. Der Inhalt
dieser Akten und der Gerichtsakten ist Gegenstand der gerichtlichen
Entscheidung; hierauf wird ergänzend Bezug genommen.
13 Mit Beschluss vom 30.07.2014 hat das Gericht dem Kläger Prozesskostenhilfe
bewilligt und ihm seinen Rechtsanwalt beigeordnet.
Entscheidungsgründe
14 Die Entscheidung ergeht nach dem Übertragungsbeschluss der Kammer gemäß §
6 Abs. 1 VwGO durch den Berichterstatter als Einzelrichter und mit Einverständnis
der Beteiligten nach § 101 Abs. 2 VwGO durch Urteil ohne mündliche
Verhandlung.
15 Die Klage ist zulässig, insbesondere rechtzeitig erhoben worden, obwohl der
Widerspruchsbescheid vom 19.11.2013 nach einem Vermerk in den
Widerspruchsakten am 20.11.2013 versandt wurde, die Klageschrift jedoch erst
am 23.12.2013 beim Gericht eingegangen ist. Denn den Akten des
Regierungspräsidiums … lässt sich nicht entnehmen, dass der
Widerspruchsbescheid, wie dies nach § 73 Abs. 3 Satz 1 und 2 VwGO
vorgeschrieben ist, dem Kläger nach Maßgabe des
Verwaltungszustellungsgesetzes (förmlich) zugestellt worden wäre. In den Akten
befindet sich nur ein Vermerk über eine schlichte (formlose) Versendung. Hinzu
kommt, dass in der Rechtsmittelbelehrung, die dem Widerspruchsbescheid
beigefügt war, ausgeführt ist, dass die einmonatige Klagefrist nach der Zustellung
des Widerspruchsbescheids zu laufen beginne. Da aber eine Zustellung ersichtlich
nicht stattgefunden hat, ist die Rechtsmittelbelehrung insoweit falsch mit der Folge,
dass die Klagefrist ein Jahr betragen hat (vgl. § 58 Abs. 2 VwGO). Diese Frist hat
der Kläger in jedem Fall gewahrt, so dass es nicht darauf ankommt, wann der
Kläger den Widerspruchsbescheid nachweislich erhalten hat.
16 Die Klage ist mit dem vom Kläger ausdrücklich gestellten Bescheidungsantrag
auch begründet. Der den Antrag des Klägers vom 23.08.2012 auf Erteilung einer
Ausnahmegenehmigung nach der StVO ablehnende Bescheid der Beklagten
(ohne Datum) und der Widerspruchsbescheid des Regierungspräsidiums … vom
19.11.2013 sind rechtswidrig und verletzen den Kläger in seinen Rechten; der
Kläger hat einen Anspruch darauf, dass die Beklagte den oben gen. Antrag unter
Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu bescheidet (§ 113 Abs. 5 Satz
2 VwGO).
17 Rechtsgrundlage für das Begehren des Klägers ist § 46 Abs. 1 Satz 1 StVO. Nach
dieser Vorschrift können die Straßenverkehrsbehörden in bestimmten Einzelfällen
oder allgemein für bestimmte Antragsteller Ausnahmen von bestimmten in § 46
Abs. 1 Satz 1 Nummern 1 bis 11 StVO bezeichneten Vorschriften genehmigen. In
dem Antrag des Klägers vom 23.08.2012 ist die Rede von der Bewilligung von
Parkerleichterungen. Insoweit kommt hier die Nummer 11 von § 46 Abs. 1 Satz 1
StVO in Betracht. Die Beklagte ist auch die nach § 46 Abs. 1 StVO zuständige
Straßenverkehrsbehörde (siehe § 47 Abs. 2 Nr. 7 StVO sowie §§ 1 und 3 Abs. 2
des [baden-württembergischen] Gesetzes über die Zuständigkeiten nach der
Straßenverkehrsordnung in der Fassung des Gesetzes vom 01.07.2004 [GBl, S.
469] - StVOZuG - und §§ 15 ff. LVG). Soweit die Beklagte - anders als das
Regierungspräsidium … in seinem Widerspruchsbescheid vom 19.11.2013, in dem
richtigerweise auf § 46 Abs. 1 Nr. 11 StVO als Ermächtigungsgrundlage abgestellt
wurde - in dem angefochtenen Bescheid (ohne Datum) sowie in der
vorausgehenden Korrespondenz und laut dem von ihr ausgegebenen
Antragsformular von § 46 Abs. 2 Satz 1 StVO als Ermächtigungsgrundlage
ausgeht, unterliegt sie einem (im Ergebnis hier allerdings unbeachtlichen) Irrtum,
da sie nach dieser Vorschrift keine Zuständigkeit besitzt. Denn es gibt erkennbar
keine landesrechtliche Bestimmung, die der Beklagten eine Zuständigkeit für
Maßnahmen nach § 46 Abs. 2 StVO zuweist (vgl. hierzu §§ 1 bis 4 StVOZuG
sowie die Verordnung des Ministeriums für Umwelt und Verkehr über
Zuständigkeiten nach der Straßenverkehrsordnung und der Ferienreiseverordnung
in der Fassung vom 03.07.2001 [GBl, S. 464], in denen keine Zuständigkeit der
unteren Verwaltungsbehörden nach § 46 Abs. 2 StVO begründet ist; zu § 46 Abs.
1 Satz 1 Nr. 11 StVO als Ermächtigungsgrundlage in Fällen der vorliegenden Art
vgl. u. a. auch OVG NRW, Urteil vom 23.08.2011 - 8 A 2247/11 -, juris, m.w.N.; VG
Frankfurt, Urteil vom 05.06.2013 - 4 K 4243/12.F. -, juris; VG Sigmaringen, Urteil
vom 29.10.2009 - 8 K 2267/07 -, juris).
18 Nach seinem klaren Wortlaut („kann“) räumt § 46 Abs. 1 Satz 1 StVO den
Straßenverkehrsbehörden ein Ermessen ein, welches gemäß § 114 VwGO nur
einer eingeschränkten richterlichen Überprüfung zugänglich ist. Dieses Ermessen
wird durch die aufgrund von Art. 84 Abs. 2 GG erlassene Allgemeine
Verwaltungsvorschrift zu § 46 Abs. 1 Nr. 11 StVO vom 04.06.2009 (BAnz. 2009, S.
2050 ff.) - VwV-StVO - gelenkt und, soweit der konkret zu entscheidende
Sachverhalt von der VwV-StVO erfasst wird, gebunden. Bei dieser VwV-StVO
handelt es sich nicht um eine Rechtsnorm, sondern um innerdienstliche Richtlinien,
die keine unmittelbaren Rechte und Pflichten für den Bürger begründen. Das
bedeutet, dass die Beklagte nur in Ansehung des Gleichbehandlungsgebots aus
Art. 3 Abs. 1 GG verpflichtet ist, denjenigen schwerbehinderten Menschen
Parkerleichterungen zu gewähren, die dort als Anspruchsberechtigte aufgeführt
sind (vgl. OVG NRW, Urteil vom 23.08.2011, a.a.O.).
19 Umgekehrt, das heißt in Fällen, die von der VwV-StVO zu § 46 Abs. 1 Nr. 11 StVO
nicht erfasst sind, unterliegen die Straßenverkehrsbehörden keiner
abschließenden Bindung. Da Krankheiten äußerst vielfältig und unterschiedlich
auftreten können, ist es möglich, dass eine bestimmte Art der Behinderung nicht
von der VwV-StVO erfasst ist. In solchen Fällen, in denen sich ein Antragsteller auf
eine nicht von den Fallgruppen der VwV-StVO erfasste Beeinträchtigung beruft, hat
die Straßenverkehrsbehörde den ihr durch das Gesetz eingeräumten
Entscheidungsspielraum (Ermessen) wahrzunehmen. In Ausübung dieses
Ermessens hat sie in besonders gelagerten atypischen Fällen, die nicht in
genereller Weise durch die Verwaltungsvorschriften vorentschieden sind, die ihr
vom Gesetzgeber aufgegebene Bewertung des Sachverhalts im Rahmen einer
Einzelfallwürdigung vorzunehmen. Dazu gehört die Feststellung, ob sonstige
besondere Umstände vorliegen, die bei einem wertenden Vergleich mit den in der
Verwaltungsvorschrift angeführten Fallgruppen eine vergleichbare Entscheidung
rechtfertigen (vgl. OVG NRW, Urteil vom 23.08.2011, a.a.O.; VG Aachen, Urteil
vom 20.12.2012 - 2 K 2270/10 -, juris; VG Braunschweig, Urteil vom 06.06.2012 - 6
A 122/11 -, juris). Eine solche gesetzlich gebotene Ermessensausübung haben die
Beklagte und in der Folge auch das Regierungspräsidium … unterlassen.
20 Zutreffend und wohl auch vom Kläger unbestritten ist hier, dass der Kläger die in
der VwV-StVO zu § 46 Abs. 1 Satz 1 Nr. 11 StVO bezeichneten Voraussetzungen
für eine Ausnahmegenehmigung nicht erfüllt. Insbesondere fehlt bei ihm das unter
Nr. II. 3.c) und d) genannte Merkmal „B“ (über die Notwendigkeit einer ständigen
Begleitung). Hinsichtlich dieser gesundheitlichen Merkmale, die von der VwV-StVO
für eine Ausnahmegenehmigung nach § 46 Abs. 1 Satz 1 Nr. 11 StVO gefordert
werden, kommt den Feststellungen im Schwerbehindertenausweis gemäß § 69
Abs. 5 Satz 2 SGB IX bindende Wirkung zu (OVG NRW, Urteil vom 23.08.2011,
a.a.O.; VG Sigmaringen, Urteil vom 29.10.2009, a.a.O.). Das heißt, dass die
Straßenverkehrsbehörden insoweit weder von den positiven noch von den
negativen, das heißt unterbliebenen, Feststellungen solcher Merkmale durch die
für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes zuständigen (Sozial-
)Behörden abweichen dürfen.
21 Sonstigen Stellungnahmen dieser (Sozial-)Behörden, die diese außerhalb der
Feststellungen in einem Schwerbehindertenausweis abgeben, kommt
demgegenüber keine Bindungswirkung zu (OVG NRW, Urteil vom 23.08.2011,
a.a.O.; VG Frankfurt, Urteil vom 05.06.2013, a.a.O., m.w.N.; König, in:
Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 43. Aufl. 2015, 2-StVO, § 46 RdNr.
23). Das Gericht folgt dieser in der Rechtsprechung vertretenen Ansicht, da die
Straßenverkehrsbehörden nach der Ermessensvorschrift in § 46 Abs. 1 Satz 1
StVO in ihrem Hoheitsbereich Ausnahmen schaffen können, wozu die
Sozialbehörden keine Befugnisse haben. Die Sozialbehörden können nur nach
den für sie geltenden Vorschriften entscheiden und Empfehlungen abgeben. Ob
die Straßenverkehrsbehörde jedoch einen atypischen Fall oder Ausnahmefall
annimmt, bleibt allein ihr überlassen; die Stellungnahmen der für die Durchführung
des Bundesversorgungsgesetzes zuständigen (Sozial-)Behörden können
allenfalls, ggf. auch mit einem beachtlichen Gewicht, in die Ermessenserwägungen
der Straßenverkehrsbehörden einfließen (vgl. hierzu VG Sigmaringen, Urteil vom
29.10.2009, a.a.O., m.w.N.). Fühlt eine Straßenverkehrsbehörde sich hingegen an
eine nicht bindende Stellungnahme der Sozialbehörde rechtlich gebunden und übt
sie deshalb kein eigenes Ermessen aus, wie das die Beklagte in dem
angefochtenen Bescheid (ohne Datum) und das Regierungspräsidium … im
Widerspruchsbescheid vom 19.11.2013 ausdrücklich getan haben, dann liegt ein
(kompletter) Ermessensausfall vor mit der Folge, dass diese Bescheide
rechtswidrig und damit vom Verwaltungsgericht aufzuheben sind (vgl.
Kopp/Ramsauer, VwVfG, 15. Aufl. 2014, § 40 RdNr. 86, m.w.N.).
22 Im vorliegenden Fall hat auch durchaus Anlass für die Prüfung einer
Ausnahmegenehmigung im Rahmen einer Ermessensentscheidung bestanden,
weil im Fall des Klägers Hinweise auf einen atypischen Sachverhalt vorliegen, der
von der VwV-StVO nicht erfasst ist. Denn bei ihm liegen - u. a. in Form eines in
seinen konkreten Auswirkungen nicht abschließend geklärten Morbus Bechterew
sowie in der Summe der dem Kläger im Bescheid des Landratsamts Lörrach vom
02.08.2011 bescheinigten vielfältigen Erkrankungen - physische und psychische
Beeinträchtigungen bei der Teilnahme am öffentlichen Straßenverkehr vor, die ggf.
durchaus mit den Beeinträchtigungen der in der VwV-StVO anerkannten
Krankheiten vergleichbar sind. Bei Vorliegen derartiger Anhaltspunkte wäre die
Beklagte verpflichtet gewesen zu prüfen, ob im Ergebnis beim Kläger tatsächlich
Beeinträchtigungen mit dem Gewicht der in der VwV-StVO anerkannten
Erkrankungen gegeben sind, und dann entweder zu entscheiden, ob eine
Ausnahmegenehmigung (im Ermessenswege) erteilt werden kann, oder
darzulegen, aus welchen Gründen das auch unter Berücksichtigung des
Gleichheitssatzes aus Art. 3 GG nicht geschehen soll. Für die Annahme einer
Ermessensreduzierung auf Null besteht keine Veranlassung und zwar weder im
Sinne einer (zwingenden) Versagung der Ausnahmegenehmigung noch
umgekehrt im Sinne einer Stattgabe des vom Kläger gestellten Antrags (wobei
Letzteres hier schon deshalb nicht in Betracht kommt, weil der Kläger ausdrücklich
nur einen so gen. Bescheidungsantrag im Sinne des § 113 Abs. 5 Satz 2 VwGO
gestellt hat, über den das Gericht nach § 88 VwGO nicht hinausgehen darf).
Hiernach wird die Beklagte die unterbliebene Ermessensausübung in einem neuen
Bescheid nachzuholen haben.
23 Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Das Gericht sieht keinen
Grund, diese gemäß § 167 Abs. 2 VwGO für vorläufig vollstreckbar zu erklären.
24 Gründe des § 124 Abs. 2 Nrn. 3 oder 4 VwGO, aus denen die Berufung vom
Verwaltungsgericht zuzulassen wäre, sind nicht gegeben.