Urteil des VG Freiburg vom 28.07.2016

besitz von betäubungsmittel, aufschiebende wirkung, ecstasy, wahrscheinlichkeit

VG Freiburg Beschluß vom 28.7.2016, 4 K 1916/16
Besitz von Haschisch als Anlass für eine ärztliche Begutachtung und andauernde Zweifel an
der Eignung zum Führen eines Kraftfahrzeugs
Leitsätze
Nicht jeder Besitz von Haschisch darf zum Anlass genommen werden, eine ärztliche Begutachtung zu
verlangen. Letzteres setzt tatsächliche Anhaltspunkte dafür voraus, dass bei dem Betroffenen ein Konsum- oder
Bevorratungsverhalten gegeben ist, das anders als ein bloß gelegentlicher Cannabiskonsum aus sich heraus
andauernde Zweifel an der Eignung zum Führen eines Kraftfahrzeugs rechtfertigt.
Es kann dahingestellt bleiben, ob der in der Rechtsprechung vertretenen Auffassung, wonach für die
Anwendbarkeit von § 14 Abs. 1 Satz 2 FeV der Besitz von Betäubungsmitteln tatsächlich (zweifelsfrei)
nachgewiesen sein muss und hinreichend konkrete Verdachtsmomente für einen solchen Besitz nicht genügen,
uneingeschränkt zu folgen ist oder ob es den Fall gibt, in dem es ausreichend sein kann, wenn eine
überwiegende Wahrscheinlichkeit für den Besitz von Betäubungsmittel spricht.
Tenor
Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs des Antragstellers gegen die Fahrerlaubnisentziehung und die
Untersagung des Führens fahrerlaubnispflichtiger Kraftfahrzeuge im öffentlichen Straßenverkehr im Bescheid
der Antragsgegnerin vom 08.06.2016 wird wiederhergestellt.
Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens.
Der Streitwert wird auf 2.500 EUR festgesetzt.
Gründe
1 Der Antrag des Antragstellers auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung seines Widerspruchs ist
sachdienlich allein gerichtet gegen die im Bescheid der Antragsgegnerin vom 14.03.2016 (
unter I.)
ausgesprochene Entziehung seiner Fahrerlaubnis (der Klasse B) und Untersagung des Führens
fahrerlaubnispflichtiger Kraftfahrzeuge im öffentlichen Straßenverkehr. Die des Weiteren im oben genannten
Bescheid unter II. ausgesprochene Verpflichtung zur unverzüglichen Ablieferung des Führerscheins ist
ebenso wie die Zwangsgeldandrohung unter IV. eine (Neben-)Folge der unter I. getroffenen Entscheidung.
Die Kammer geht davon aus, dass der Antragsteller kein eigenständiges Interesse an der Suspendierung
dieser Entscheidungen hat, deren Rechtmäßigkeit mit der Entscheidung unter I. steht und fällt; dafür spricht
auch das Vorbringen des Antragstellers, das sich mit den Nebenentscheidungen unter II. und IV. im
angegriffenen Bescheid nicht befasst.
2 Dieser Antrag ist gemäß § 80 Abs. 5 VwGO zulässig und begründet. Das private Interesse des
Antragstellers, vorläufig weiter im Besitz der Fahrerlaubnis zu bleiben und ein Kraftfahrzeug im öffentlichen
Straßenverkehr führen zu dürfen, überwiegt das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung der
Fahrerlaubnisentziehung im angegriffenen Bescheid. Dies folgt daraus, dass bei einer Prüfung der Sach- und
Rechtslage Überwiegendes dafür spricht, dass der Widerspruch des Antragstellers gegen die
Fahrerlaubnisentziehung deshalb erfolgreich sein wird, weil nicht mit der erforderlichen Gewissheit
feststeht, dass der Antragsteller zum Führen von Kraftfahrzeugen ungeeignet ist.
3 Nach den §§ 3 Abs. 1 StVG und 46 Abs. 1 und 3 FeV hat die Fahrerlaubnisbehörde die Fahrerlaubnis zu
entziehen, wenn sich jemand als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen erweist. Dies gilt
insbesondere, wenn Erkrankungen oder Mängel nach der Anlage 4 zur Fahrerlaubnisverordnung vorliegen
oder erheblich oder wiederholt gegen verkehrsrechtliche Vorschriften oder Strafgesetze verstoßen wurde
und dadurch die Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen ausgeschlossen ist. Voraussetzung der
Entziehung ist, dass die Nichteignung positiv festgestellt wird. (Bloße) Bedenken an der Kraftfahreignung
genügen für die Entziehung der Fahrerlaubnis nicht (
vgl. u. a. BVerwG, Urteil vom 09.06.2005, NJW 2005,
3081). Wenn allerdings Tatsachen bekannt werden, die Bedenken an der Eignung des Fahrerlaubnisinhabers
zum Führen eines Kraftfahrzeuges begründen, hat die Fahrerlaubnisbehörde unter den in den §§ 11 bis 14
FeV genannten Voraussetzungen durch die Anordnung der Vorlage von ärztlichen bzw. medizinisch-
psychologischen Gutachten die Eignungszweifel aufzuklären (
vgl. §§ 3 Abs. 1 Satz 3 StVG und 2 Abs. 8
StVG, § 46 Abs. 3 FeV) und je nach Ergebnis der Eignungsuntersuchung in einem zweiten Schritt eine
Entscheidung über die Entziehung der Fahrerlaubnis zu treffen. Wenn sich der Betroffene weigert, sich
untersuchen zu lassen, oder wenn er das von der Fahrerlaubnisbehörde geforderte Gutachten nicht
fristgerecht beibringt, darf die Fahrerlaubnisbehörde gemäß § 11 Abs. 8 Satz 1 FeV bei ihrer Entscheidung
auf die Nichteignung schließen. Der Schluss auf die Nichteignung ist jedoch nur zulässig, wenn die
Anordnung der ärztlichen bzw. medizinisch-psychologischen Untersuchung rechtmäßig, insbesondere
anlassbezogen und verhältnismäßig ist (
vgl. BVerwG, Urteil vom 09.06.2005, a.a.O.).
4 Die Anordnung der Antragsgegnerin vom 11.01.2016 gegenüber dem Antragsteller, das Gutachten eines
Facharztes für Neurologie und Psychiatrie über eine Einnahme von Betäubungsmitteln oder anderer
psychoaktiv wirkender Stoffe, welche die Fahreignung des Antragstellers in Frage stellen, beizubringen, war
jedoch aller Voraussicht nach nicht rechtmäßig. Dabei ging die Antragsgegnerin zunächst zu Recht davon
aus, dass als Rechtsgrundlage für diese Anordnung allein § 14 Abs. 1 Satz 2 FeV in Verbindung mit § 46 Abs.
3 FeV in Betracht kommt. Danach kann die Beibringung eines ärztlichen Gutachtens angeordnet werden,
wenn der Betroffene Betäubungsmittel im Sinne des Betäubungsmittelgesetzes widerrechtlich besitzt oder
besessen hat. Die Voraussetzungen dieser Vorschrift liegen hier jedoch mit großer Wahrscheinlichkeit nicht
vor.
5 Dass der Antragsteller am Tag seiner Kontrolle durch die Polizei am 06.09.2015 u. a. im Besitz von 0,4 g
Haschisch war, hat die Antragsgegnerin selbst zur Recht nicht als ausreichend für die Anordnung zu
Beibringung eines ärztlichen Gutachtens angesehen. Denn nicht jeder nachgewiesene Besitz von
Haschischprodukten darf zum Anlass genommen werden, eine ärztliche Begutachtung zu verlangen.
Letzteres setzt tatsächliche Anhaltspunkte dafür voraus, dass bei dem Betroffenen ein Konsum- oder
Bevorratungsverhalten gegeben ist, das - anders als ein bloß gelegentlicher Cannabiskonsum - aus sich
heraus andauernde Zweifel an der Eignung zum Führen eines Kraftfahrzeugs rechtfertigt (
vgl. u. a. Hess
VGH, Urteil vom 24.11.2010, NJW 2011, 1691; Nieders. OVG, Beschluss vom 03.06.2010 - 12 PA 41/10 -,
juris; OVG NRW, Beschluss vom 15.05.2009 - 16 B 114/09, juris; Dauer, in: Hentschel/König/Dauer,
Straßenverkehrsrecht, 43. Aufl., FeV [3] § 14 RdNr. 17, m.w.N.). Solche Anhaltspunkte fehlen hier vor allem
in Anbetracht der Rechtslage, nach der der gelegentliche Konsum von Cannabis-Produkten die
Kraftfahreignung nicht ausschließt, solange der Betreffende zwischen dem Konsum und dem Fahren von
Fahrzeugen trennen kann, gänzlich.
6 Aber auch der Fund einer halben Tablette letztlich unbekannter Substanz in der Hosentasche des
Antragstellers rechtfertigte nach dem der Kammer bekannten Sach- und Streitstand voraussichtlich nicht die
Anforderung eines Gutachtens. Insoweit muss es weitestgehend feststehen, dass es sich bei dem
Gegenstand, der sich im Besitz des Antragstellers befand, um ein Betäubungsmittel handelt (
Bayer. VGH,
Beschluss vom 22.01.2008 - 11 CS 07.2766 -, juris; VG Saarland, Beschluss vom 09.08.2011, NJW 2012,
405; VG Oldenburg, Beschluss vom 05.08.2008 - 7 B 2074/08 -, juris; Dauer, a.a.O., § 14 FeV RdNr. 17). Die
Kammer kann es hier dahingestellt sein lassen, ob der in der Rechtsprechung vertretenen Auffassung,
wonach für die Anwendbarkeit von § 14 Abs. 1 Satz 2 FeV der Besitz von Betäubungsmitteln tatsächlich
(zweifelsfrei) nachgewiesen sein muss und hinreichend konkrete Verdachtsmomente für einen solchen
Besitz nicht genügen (so
Bayer. VGH, Beschluss vom 22.01.2008, VG Saarland, Beschluss vom 09.08.2011,
und VG Oldenburg, Beschluss vom 05.08.2008, jew. a.a.O.), uneingeschränkt zu folgen ist oder ob es doch
auch den Fall gibt, in dem es ausreichend sein kann, wenn eine überwiegende Wahrscheinlichkeit für den
Besitz von Betäubungsmittel spricht. Denn es fehlt hier selbst an einer solchen überwiegenden
Wahrscheinlichkeit dafür, dass die halbe Tablette in der Hosentasche des Antragstellers ein
Betäubungsmittel, nach Auffassung der Antragsgegnerin konkret in der Form von Ecstasy, war.
7 Der Antragsteller hat nach seinem Vortrag, dem die Antragsgegnerin insoweit nicht zu widersprechen
vermag, von Anfang an behauptet, dass es sich bei der bei ihm gefundenen halben Tablette um eine halbe
Viagra-Tablette gehandelt habe. Diese Behauptung ist ihm, nachdem die Polizei diese halbe Tablette, die sie
zunächst beschlagnahmt hatte, offenkundig nicht mehr in ihrem Besitz hat, nicht zu widerlegen. Der
Antragsteller hat die Tablette genau nach Farbe (lila) und Namen („Fildena Generika 100 mg“) bezeichnet,
wie sie nach Recherchen der Kammer im Internet tatsächlich auch im Handel ist. Allein die in einem
Aktenvermerk einer Mitarbeiterin der Antragsgegnerin über ein Telefongespräch mit dem zuständigen
Polizeibeamten enthaltene Behauptung, ein Polizeibeamter könne aufgrund seiner Erfahrung mit bloßem
Auge ohne Weiteres Ecstasy-Pillen als solche erkennen, reicht für die erforderliche Wahrscheinlichkeit, dass
der Antragsteller Ecstasy tatsächlich besessen haben soll, nicht aus (
in dem betreffenden Aktenvermerk ist
des Weiteren u. a. wörtlich festgehalten: „Irrtümer gebe es nur in 99 % der Fälle“). Denn ob eine solche
Behauptung bei der vorliegenden Sachverhaltskonstellation hinreichend belastbar ist, unterliegt aus Sicht
der Kammer nicht unerheblichen Zweifeln. Die Antragsgegnerin trägt in ihrer Antragserwiderung vor,
Polizisten könnten anhand des optischen Erscheinungsbildes, des Geruchs oder Ähnlichem sehr wohl
deutlich erkennen, ob es sich bei den aufgefundenen Materialien um Drogen oder nicht um Drogen handele.
Dem ist jedoch entgegenzuhalten, dass gerade Ecstasy-Tabletten in allen erdenklichen Farben und Formen,
auch in den ihrerseits ebenso vielfältigen Farben und Formen von Viagra- bzw. Viagra-Generika-Tabletten,
auf dem Markt sind und dass Ecstasy geruchslos ist (
siehe u. a.: http://www.ecstasy-info.de/;
http://www.drogenberatung-konstanz.de/index.php?option=com_content&view=article&id=53&Itemid=58).
Insoweit ist die Situation - entgegen dem Vortrag der Antragsgegnerin - nicht vergleichbar mit Haschisch
bzw. Marihuana, das sich wegen des Aussehens und des Geruchs recht deutlich von anderen Substanzen
unterscheiden lässt. Angesichts dieser Unsicherheit ist die Behauptung des Antragstellers, bei der halben
Tablette in seiner Hosentasche habe sich es um Viagra gehandelt, nicht mit dem gebotenen Grad an
Wahrscheinlichkeit zu widerlegen, zumal das betreffende Asservat nach Auskunft des Landeskriminalamts
inzwischen vernichtet sei.
8 Damit fehlt es hier an den Voraussetzungen für die Aufforderung zur Beibringung eines Gutachtens nach
Maßgabe von § 14 Abs. 1 Satz 2 FeV und somit auch an den Voraussetzungen für die Entziehung der
Fahrerlaubnis des Antragstellers und die Untersagung des Führens fahrerlaubnispflichtiger Kraftfahrzeuge im
öffentlichen Straßenverkehr.
9 Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
10 Die Streitwertfestsetzung beruht auf den §§ 63 Abs. 2, 53 Abs. 2 Nr. 2 und 52 Abs. 2 GKG in Verbindung mit
der Empfehlung Nr. 1.5 und in Anlehnung an die Empfehlung Nr. 46.3 des Streitwertkatalogs für die
Verwaltungsgerichtsbarkeit, Fassung 2013; der hiernach vorgesehene Streitwert in Höhe von 5.000 EUR
wird für das Eilverfahren halbiert.