Urteil des VG Freiburg vom 12.03.2015

aufenthalt, familie, tante, tod

VG Freiburg Urteil vom 12.3.2015, 4 K 1734/14
Erstattung von Jugendhilfeleistungen
Leitsätze
Zur Abgrenzung zwischen informeller freiwilliger und unentgeltlicher Verwandtenpflege
außerhalb des jugendhilferechtlichen Regimes und Einstufung der Verwandten als
Pflegefamilie i.S.d. § 33 SGB VIII
Solange Verwandte freiwillig und unentgeltlich ein Kind bei sich aufnehmen, fehlt es
an der Erforderlichkeit jugendhilferechtlicher Maßnahmen i.S.d. § 27 Abs. 1 SGB VIII
Fehlt es infolge des Todes des allein sorgeberechtigten Elternteils bis zur Bestallung
eines Vormundes an einem Leistungsberechtigten i.S.d. § 36a Abs. 3 Satz 1 Nr. 1
SGB VIII, liegt ein Ausnahmefall vor, auf den § 36a Abs. 3 Satz 2 SGB VIII zumindest
analog anwendbar ist.
§ 86 Abs. 2 Satz 4 SGB VIII ist nicht in § 86 Abs. 4 SGB VIII hineinzulesen (entgegen
Wiesner, SGB VIII, 4. Aufl., § 86 Rn. 25a)
Ein Anspruch auf Zahlung des sog. Verwaltungskostendrittels des § 89c Abs. 2 SGB
VIII besteht nicht, wenn die Bestimmung der örtlichen Zuständigkeit aufgrund der
tatsächlichen Umstände nicht einfach gelagert ist.
Tenor
Die Beklagte wird verurteilt, die dem Kläger in der Zeit vom 10.04.2010 bis zum
31.07.2014 entstandenen Kosten in Höhe von 119.614,78 EUR, die er für
Maßnahmen der Jugendhilfe für A. K. aufgewendet hat, zuzüglich 5 Prozentpunkten
Zinsen über dem jeweiligen Basiszinssatz ab dem 01.08.2014 zu erstatten.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Der Kläger trägt ¼, die Beklagte trägt ¾ der Kosten des Verfahrens.
Tatbestand
1 Der Kläger begehrt von der Beklagten die Erstattung von Kosten, die er seit dem
07.04.2010 für jugendhilferechtliche Leistungen betreffend A. K. erbringt.
2 Die am … 1998 geborene A. K. lebte mit ihrem Bruder S. und ihrer allein
sorgeberechtigten Mutter B. K. bis zum 07.04.2010 im Zuständigkeitsbereich der
Beklagten. Der Kindsvater lebte und lebt nach wie vor im Ausland. Für A. wurden
vor dem 07.04.2010 keine jugendhilferechtlichen Leistungen erbracht. Am
07.04.2010 verschwand B. K. zunächst spurlos. Am Abend des 07.04.2010 bzw.
am 08.04.2010 nahm Frau C. S., Schwester von B. K., wohnhaft in H. im
Zuständigkeitsbereich des Klägers, ihre Nichte A. bei sich auf und gab der Polizei
im Rahmen der Vermisstenmeldung hiervon Kenntnis. Am Samstag, dem
10.04.2010, wurde B. K. tot aufgefunden; dies wurde Familie S. und A. K. am
selben Tag mitgeteilt. Am Montag, dem 12.04.2010, erklärte Frau S. bei einer
Vorsprache beim Jugendamt der Beklagten, A. solle auf Dauer in ihrer Familie
bleiben. Frau S. wurde von der Beklagten an den Kläger verwiesen.
3 Unmittelbar im Anschluss an den Tod der Mutter kam es zwischen dem Kläger und
der Beklagten zu einem Schriftwechsel betreffend die Zuständigkeit für eventuelle
Anträge auf jugendhilferechtliche Leistungen, in welchem jedoch keine Einigkeit
erzielt werden konnte. Daraufhin wurde vereinbart, dass der Kläger, falls für A.
jugendhilferechtliche Leistungen beantragt würden, hierüber im Wege des § 86d
SGB VIII entscheiden solle.
4 Unter dem 22.04.2010, eingegangen beim Kläger am 26.04.2010, stellte Frau S.
nach Gesprächen mit dem Allgemeinen sozialen Dienst des Klägers beim Kläger
einen Antrag auf Hilfe zur Erziehung betreffende A., der, da Frau S. mangels
Personensorge für A. nicht antragsberechtigt war, zunächst nicht bearbeitet wurde,
und bewarb sich zugleich zusammen mit ihrem Mann um Aufnahme von A. als
Pflegekind in ihrem Haushalt. Der Antrag auf Hilfe zur Erziehung wurde unter dem
12.05.2010 von dem am 11.05.2010 bestellten Vormund des Kindes,
Rechtsanwalt G., unterzeichnet.
5 In einem Hilfeplangespräch vom 12.05.2010 beschloss das Beraterteam des
Klägers trotz verbleibender Zweifel, eine Hilfe nach § 33 SGB bei Familie S.
einzurichten.
6 Mit Bescheid vom 05.07.2010, geändert durch Bescheide vom 23.08.2010 und
10.02.2011, gewährte der Kläger - nach Absprache mit der Beklagten auf
Grundlage von § 86d SGB VIII - erstmals für die Zeit vom 07.04.2010 bis zum
06.04.2011 Hilfe zur Erziehung in Form der Vollzeitpflege gemäß §§ 27, 33 SGB
VIII, mit Bescheid vom 27.10.2010 ergänzt um Hilfe zur Erziehung durch eine
soziale Gruppenarbeit gemäß § 29 SGB VIII als Annexleistung. Beide Hilfen
wurden mit Bescheiden vom 18.05.2011 verlängert. Mit Bescheid vom 23.11.2011
gewährte der Kläger im Rahmen von § 86d SGB VIII für die Zeit vom 02.10.2011
bis 30.09.2012, hernach verlängert bis zum 14.10.2012, Hilfe zur Erziehung
gemäß §§ 27, 34 SGB VIII in der Einrichtung X. Ab dem 15.10.2012 wurde dann
wieder Hilfe zur Erziehung in Form der Vollzeitpflege gewährt (Bescheide vom
19.12.2012, 12.11.2013), ab dem 09.01.2014 erneut Hilfe zur Erziehung gemäß §§
27, 34 SGB VIII (Bescheide vom 27.02.2014). Die Hilfegewährung, die am
31.07.2014 endete, erfolgte jeweils unter Berufung auf § 86d SGB VIII. Bis zum
31.07.2014 belief sich der ungedeckte jugendhilferechtliche Aufwand auf
119.729,28 EUR.
7 Mit Schreiben vom 05.07.2010 setzte der Kläger die Beklagte darüber in Kenntnis,
dass im Rahmen der vorläufigen Leistungsgewährung gemäß § 86d SGB VIII für
A. K. ab dem 07.04.2010 Hilfe zur Erziehung in Vollzeitpflege gemäß § 27, 33 SGB
VIII in der Pflegefamilie S. gewährt werde. Die Zuständigkeit richte sich gemäß § 86
Abs. 4 SGB VIII nach dem gewöhnlichen Aufenthalt des Kindes innerhalb der
letzten sechs Monate vor Beginn der Leistung. Dies sei Z. gewesen, weshalb die
Beklagte ab Hilfebeginn örtlich und kostenrechtlich zuständig sei. Die Beklagte
wurde um Anerkennung ihrer Zuständigkeit und Erstattung der ab dem 07.04.2010
geleisteten Aufwendungen gebeten.
8 Mit Schreiben vom 12.10.2011 machte der Kläger gegenüber der Beklagten erneut
einen Kostenerstattungsanspruch nach § 86 Abs. 1 Satz 3, § 86d, § 89c SGB VIII,
ergänzt um das „Verwaltungsdrittel“ nach § 89c Abs. 2 SGB VIII, geltend, und
setzte mit Schreiben vom 12.12.2012 Frist für die Abgabe eines
Kostenanerkenntnisses bis zum 18.12.2012. Die Stadt Z. erklärte daraufhin mit
Schreiben vom 17.12.2012 den Verzicht der Einrede der Verjährung und verwies
in der Sache auf ein zur Entscheidung stehendes Verfahren vor dem
Bundesverwaltungsgericht (5 C 25/12).
9 Mit Schreiben vom 05.05.2014 legte der Kläger gegenüber der Beklagten dar,
auch aus der zwischenzeitlich ergangenen Entscheidung des
Bundesverwaltungsgerichts in der Sache 5 C 25/12 ergebe sich keine veränderte
Bewertung für die hier vorliegende Rechtslage und daraus resultierende
Leistungsgewährung. Vielmehr ergebe sich aus § 86 Abs. 1 Satz 3 i.V.m. Abs. 4
Satz SGB VIII zweifelsfrei die Zuständigkeit der Beklagten.
10 Mit E-Mail vom 21.05.2014 erklärte die Beklagte, ihre Zuständigkeit sowie
Kostenerstattungsverpflichtung anzuerkennen und die Hilfegewährung
schnellstmöglich zu übernehmen; mit erneuter E-Mail vom 05.06.2014 zog die
Beklagte ihre Zusage zur Fallübernahme und Kostenerstattung vollumfänglich
zurück.
11 Der Kläger hat am 29.07.2014 Klage erhoben. Er trägt zur Begründung vor, mit
dem Tod der Kindsmutter am 07.04.2010 habe diese den Erziehungsanspruch
gegenüber ihrer Tochter A. nicht mehr wahrnehmen können. Da der nicht
sorgeberechtigte Kindsvater seit Jahren in Marokko wohnhaft sei und selbst ein
Elternrecht nicht ausübe, sei im Rahmen eines eingeleiteten familiengerichtlichen
Verfahrens Rechtsanwalt G. mit Bestallung vom 05.07.2010 [richtig: 11.05.2010]
zum Vormund bestimmt worden, der dem Antrag auf Hilfe zur Erziehung
rückwirkend beigetreten sei. Für die notwendige Leistungsgewährung einer Hilfe
zur Erziehung sei die Beklagte örtlich zuständiger Jugendhilfeträger gemäß § 86
Abs. 4 Satz 1 SGB VIII. Entgegen der Auffassung der Beklagten sei unerheblich,
ob sich A. bei ihrer Tante in H. tatsächlich aufgehalten oder einen gewöhnlichen
Aufenthalt begründet habe, da die spezialrechtliche Regelung bei Beginn der Hilfe
am 07.04.2010 nicht an einen aktuellen gesetzlichen Aufenthalt des Kindes
anknüpfe, sondern (weiterhin) an den eines Elternteils, wenn das Kind oder der
Jugendliche während der letzten sechs Monate vor Beginn der Leistung bei einem
Elternteil seinen gewöhnlichen Aufenthalt gehabt habe. Dieser Tatbestand habe
hier vorgelegen, denn A. K. habe den letzten gemeinsamen gewöhnlichen
Aufenthalt am 07.04.2010 mit ihrer allein sorgeberechtigten Kindesmutter B. K. in
Freiburg gehabt. Indem der Gesetzgeber in § 86 Abs. 4 SGB VIII einen Zeitraum
von sechs Monaten benenne, trage er genau solchen Situationen wie vorliegend
Rechnung. Dabei sei unerheblich, ob Beginn der Leistung am 07.04.2010 oder am
12.05.2010 sei. Daher sei die Beklagte örtlich zuständig gewesen; da sie nicht tätig
geworden sei, habe der Kläger auf Grundlage des § 86d SGB VIII gehandelt.
Daraus ergebe sich ein Kostenerstattungsanspruch des Klägers ab dem
07.04.2010 gegenüber der Beklagten. Auch liege unbestreitbar ein pflichtwidriges
Handeln der Beklagten im Sinne von § 89c Abs. 2 SGB VIII vor. Die Ausführungen
der Beklagten, dass A. ab dem 07.04.2010 vollumfänglich durch Familie S.
aufgenommen worden sei, entbehrten jeder rechtlichen und tatsächlichen
Grundlage. Die Kindesmutter sei zunächst vermisst gewesen. Erst am 11.04.2010
seien A. und die Familienangehörigen über den Tod der Mutter informiert worden.
Wenn die Tante am 12.04.2010 erklärt habe, A. solle auf Dauer bei der Familie
bleiben, sei dies allenfalls ein Angebot ohne verbindliche Rechtswirkung, da zu
diesem Zeitpunkt keine sorgeberechtigte Vertretung für A. geregelt gewesen sei.
Dass A. zu diesem Zeitpunkt einen eigenen gesetzlichen Aufenthalt sollte
begründet haben, sei eine vollkommen abwegige Konstruktion; eine solche
Entscheidung wäre dem 11-jährigen Mädchen gar nicht möglich gewesen.
Deshalb bemesse sich die jugendhilferechtliche Zuständigkeit ausschließlich nach
dem letzten gemeinsamen gesetzlichen Aufenthalt, der von Mutter und Tochter
unbestreitbar im Zuständigkeitsbereich der Beklagten gewesen sei. Im Übrigen sei
zu berücksichtigen, dass selbst dann, wenn die Tante selbst nicht
antragsberechtigt gewesen sei, in Kenntnis der Sachlage von einer schwebend
wirksam-unwirksamen Antragstellung auszugehen sei, der der Vormund nach
seiner Bestallung rückwirkend zugestimmt habe. Eine rückwirkende
Hilfegewährung sei erforderlich geworden, weil die Beklagte trotz Kenntnis der
Sachverhalte, dortiger Antragstellung und späterer Aufforderung durch den Kläger,
die örtliche Zuständigkeit anzuerkennen, keine Hilfe zur Erziehung eingeleitet oder
geleistet habe.
12 Der Kläger beantragt,
13 die Beklagte zu verurteilen, die dem Kläger in der Zeit vom 07.04.2010 bis zum
31.07.2014 entstandenen Kosten in Höhe von 119.729,28 EUR, die er für
Maßnahmen der Jugendhilfe für A. K. aufgewendet hat, zuzüglich 5
Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz ab dem 01.08.2014 zu
erstatten sowie die Beklagte zu verurteilen, an den Kläger weitere 38.295,22 EUR
zuzüglich 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz ab dem
29.07.2014 zu bezahlen.
14 Die Beklagte beantragt,
15 die Klage abzuweisen.
16 Zur Begründung trägt sie vor, durch den Aufenthalt des nicht sorgeberechtigten
Vaters in Marokko und dem am 10.04.2010 festgestellten Ableben der Mutter richte
sich die Zuständigkeit für die Gewährung von Leistungen nach dem SGB VIII nach
der Vorschrift des § 86 Abs. 4 SGB VIII. Maßgeblicher Zeitpunkt sei der Beginn der
Leistung, das heißt der Zeitpunkt, in dem eine Hilfe tatsächlich einsetze und eine
eindeutige Willensbekundung des Personensorgeberechtigten, sein
Einverständnis für eine Hilfe zu erklären, vorliege. Ein solches Einverständnis habe
frühestens am 12.05.2010 vorgelegen. Ihren gewöhnlichen Aufenthalt habe A. bis
zum Abend des 07.04.2010 unstreitig bei ihrer Mutter und damit im Zuständigkeit
der Beklagten gehabt. Am Abend des 07.04.2010 habe sie Aufnahme bei ihrer
Tante, bei der sie sich auch zuvor nach der Schule aufgrund der Berufstätigkeit
ihrer Mutter aufgehalten habe, im Zuständigkeitsbereich des Klägers gefunden.
Insoweit sei zu diesem Zeitpunkt offen gewesen, ob und wann eine Rückkehr der
damals 12-Jährigen in den mütterlichen Haushalt erfolgen könne. Eindeutig sei
jedoch gewesen, dass A. bis zu einer möglichen Rückkehr der Mutter bei der
Familie ihrer Tante verbleiben werde. Zu diesem Zeitpunkt habe sich daher der
Mittelpunkt der Lebensbeziehungen verlagert und offen gestaltet. Daher sei am
Abend des 07.04.2010 ein eigener gewöhnlicher Aufenthalt im
Zuständigkeitsbereich des Klägers begründet worden. Das werde dadurch
unterstützt, dass die Tante am 12.04.2010 gegenüber der Beklagten erklärt habe,
dass A. in ihrer Familie bleiben werde. Mit Bescheid vom 05.07.2010 habe der
Kläger rückwirkend ab dem 07.04.2010 jugendhilferechtliche Leistungen bewilligt;
dies habe nur dem Zweck dienen können, eine bis zu diesem Zeitpunkt
bestandhabende Zuständigkeit der Beklagten wieder herzustellen. Dies
widerspreche aber dem Grundsatz, dass keine rückwirkende Erfüllung eines
Anspruchs im Bereich der Jugendhilfe möglich sei. Damit sei von einer
rechtmäßigen Hilfegewährung erst nach Bestallung eines Vormunds und dessen
Antrag vom 12.05.2010 auszugehen. Zu diesem Zeitpunkt habe A. ihren
gewöhnlichen Aufenthalt im Zuständigkeitsbereich des Klägers begründet gehabt,
so dass dieser nach § 86 Abs. 4 SGB VIII für die Gewährung von Leistungen
örtlich abschließend zuständig sei.
17 Dem Gericht haben die einschlägigen Verfahrensakten des Klägers (5 Bde.) und
der Beklagten (1 Bd.) vorgelegen. Hierauf sowie auf die Gerichtsakten wird wegen
der weiteren Einzelheiten verwiesen.
Entscheidungsgründe
18 Die Klage ist als allgemeine Leistungsklage zulässig. Soweit der Kläger von der
Beklagten die Erstattung der für Maßnahmen der Jugendhilfe für A. K.
aufgewendeten Kosten in Höhe von 119.729,28 EUR begehrt, ist die Klage auch
ganz überwiegend - nämlich in Höhe von 119.614,78 EUR - begründet (1.). Der
weitere Antrag, die Beklagte zu verurteilen, an den Kläger weitere 38.295,22 EUR
zu bezahlen (so gen. Verwaltungskostendrittel), erweist sich dagegen als
unbegründet (2.).
19
1.
Rechtsgrundlage für den Anspruch des Klägers gegenüber der Beklagten auf
Erstattung des ungedeckten jugendhilferechtlichen Aufwands betreffend A. K. ist §
89c Abs. 1 Satz 2 SGB VIII. Nach dieser Vorschrift sind Kosten, die ein örtlicher
Träger im Rahmen seiner Verpflichtung zum vorläufigen Tätigwerden nach § 86d
SGB VIII aufgewendet hat, von dem örtlichen Träger zu erstatten, dessen
Zuständigkeit durch den gewöhnlichen Aufenthalt nach (u.a.) § 86 SGB VIII
begründet wird. § 86d SGB VIII betrifft die Verpflichtung zum vorläufigen
Tätigwerden desjenigen Jugendhilfeträgers, in dessen Bereich sich das Kind oder
der Jugendliche tatsächlich aufhält. Diese Verpflichtung zum vorläufigen
Tätigwerden tritt ein, wenn die örtliche Zuständigkeit nicht feststeht oder wenn der
zuständige örtliche Träger nicht tätig wird.
20 Die Voraussetzungen dieser Erstattungsvorschrift sind zur Überzeugung des
Gerichts ab dem 10.04.2010 gegeben.
21
1.1
A. hielt sich seit dem 07.04.2010 bei ihrer Tante C. S. und damit tatsächlich im
Zuständigkeitsbereich des Klägers auf. Mit der Beklagten konnte zeitnah keine
Einigkeit über die örtliche Zuständigkeit erzielt werden. Der Kläger war aufgrund
dieses Zuständigkeitsstreits - was zwischen den Beteiligten auch nicht im Streit
steht - zur vorläufigen Hilfeleistung gemäß § 86d SGB VIII verpflichtet.
22
1.2
Ferner sind die vom Kläger ab dem 10.04.2010 aufgewendeten Kosten von der
Beklagten zu erstatten, weil deren Zuständigkeit gemäß § 86 SGB VIII begründet
worden ist.
23
1.2.1
Rechtsgrundlage für die örtliche Zuständigkeit ist vorliegend § 86 Abs. 4 Satz
1 SGB VIII, der regelt, dass sich die Zuständigkeit nach dem gewöhnlichen
Aufenthalt des Kindes oder Jugendlichen vor Beginn der Leistung richtet, wenn die
Eltern bzw. der maßgebliche Elternteil im Inland keinen gewöhnlichen Aufenthalt
haben, ein solcher nicht feststellbar ist oder wenn sie verstorben sind.
24 Im Falle von A. hatte der nicht sorgeberechtigte Vater, D. K., für den gesamten hier
maßgeblichen Zeitraum im Inland keinen gewöhnlichen Aufenthalt. Ihre allein
sorgeberechtigte Mutter, B. K., ist am 07.04.2010 verstorben. Die Zuständigkeit
richtet sich bei dieser Konstellation nach § 86 Abs. 4 Satz 1 SGB VIII, ohne dass
es einer abschließenden Entscheidung darüber bedürfte, ob sich dies aus § 86
Abs. 4 Satz 1 1. Alt. i.V.m. Abs. 1 Satz 3 SGB VIII oder aus § 86 Abs. 4 Satz 1 3.
Alt. i.V.m. Abs. 2 Satz 1 SGB VIII ergibt.
25
1.2.2
Gemäß § 86 Abs. 4 Satz 1 SGB VIII ist für die Ermittlung des zuständigen
Jugendhilfeträgers an den „gewöhnlichen Aufenthalt“ von A. „vor Beginn der
Leistung“ anzuknüpfen. Die Kammer ist zu der Überzeugung gelangt, dass dieser
gewöhnliche Aufenthalt im Zuständigkeitsbereich der Beklagten war.
26
1.2.2.1
Dies ergibt sich jedoch entgegen der Auffassung des Klägers nicht bereits
daraus, dass für die Entscheidung über die Zuständigkeit auch im Rahmen des §
86 Abs. 4 Satz 1 SGB VIII an den gewöhnlichen Aufenthalt eines Elternteils
anzuknüpfen wäre, wenn das Kind während der letzten sechs Monate vor Beginn
der Leistung bei einem Elternteil einen gewöhnlichen Aufenthalt hatte; wäre dies
der Fall, wäre, da die Klägerin mit ihrer Mutter vor Beginn der Leistung ihren
gewöhnlichen Aufenthalt im Stadtgebiet von F hatte, die Beklagte unstreitig
zuständig. Ein Rückgriff auf den gewöhnlichen Aufenthalt der Mutter ist vorliegend
jedoch nicht zulässig. Der Kläger begründet seine Auffassung mit Hinweis auf § 86
Abs. 2 Satz 4 SGB VIII, der auch im Falle des Abs. 4 einschlägig sei (so
konkludent Wiesner, SGB VIII, 4. Aufl., § 86 Rn. 25a, wo auf die Abs. 2 betreffende
Kommentierung in Rn. 20 verwiesen wird). Dieser Auffassung vermag das Gericht
nicht zu folgen. Gegen das Hineinlesen der Regelung des § 86 Abs. 2 Satz 4 SGB
VIII in § 86 Abs. 4 SGB VIII spricht vor allem die ausgesprochen feine
Ausdifferenzierung der Zuständigkeitsregelungen in § 86 SGB VIII. Hätte der
Gesetzgeber die Regelung des Abs. 2, die von dem Gedanken getragen ist, den
früheren gewöhnlichen Aufenthalt des Kindes bei einem Elternteil nachwirken zu
lassen, auch für die Fälle des Abs. 4 für anwendbar erklären wollen, so wäre zu
vermuten gewesen, dass er entweder - wie er es in Abs. 3 getan hat - explizit auf
Abs. 2 verwiesen oder aber die Regelung des Abs. 4 entsprechend formuliert
hätte. Beides aber ist nicht der Fall. Vielmehr stellt § 86 Abs. 4 Satz 1 SGB VIII
ausdrücklich allein auf den aktuellen gewöhnlichen Aufenthalt des Kindes
(unmittelbar) vor Beginn der Leistung und Satz 2 der Regelung allein darauf ab, ob
das Kind selbst, wenn es unmittelbar vor Beginn der Leistung keinen
gewöhnlichen Aufenthalt hatte, in den letzten sechs Monaten vor Beginn der
Leistung überhaupt einen gewöhnlichen Aufenthalt hatte; darauf, ob dies ein
Aufenthalt beim personensorgeberechtigten Elternteil war oder nicht, kommt es
nach dem Gesetzeswortlaut dagegen nicht an. Anders als § 86 Abs. 2 SGB VIII,
der primär an den gesetzlichen Aufenthalt der Eltern bzw. des
personensorgeberechtigten Elternteils anknüpft, ist im Rahmen des Abs. 4 allein
der gewöhnliche Aufenthalt des Kindes unmittelbar vor Beginn der Leistung oder in
den letzten sechs Monaten vor deren Beginn entscheidend. Gerade der Umstand,
dass der Gesetzgeber durch den in Abs. 3 eingefügten Verweis auf Abs. 2 Satz 4
klar zu erkennen gegeben hat, dass er auch außerhalb der in Abs. 2 geregelten
Fallkonstellationen eine Anknüpfung an den gewöhnlichen Aufenthalt eines
Elternteils erwogen hat, steht einer analogen Anwendung des Abs. 2 Satz 4 auf die
in Abs. 4 geregelten Fallkonstellationen entgegen.
27
1.2.2.2
A. K. selbst hatte aber vor Beginn der Leistung ihren gewöhnlichen
Aufenthalt im Zuständigkeitsbereich der Beklagten.
28
1.2.2.2.1
Zentraler Streitpunkt zwischen den Beteiligten ist die Frage, welcher
Zeitpunkt den Beginn der jugendhilferechtlichen Leistung markiert; während der
Kläger von einem Leistungsbeginn am 07.04.2010, dem Zeitpunkt des
Verschwindens von B. K., ausgeht, ist für die Beklagte als Beginn der Leistung
frühestens der Zeitpunkt der Antragstellung durch Familie S. beim Kläger auf
Bewilligung jugendhilferechtlicher Leistungen für A. in Form vollstationärer Pflege
am 22.04.2010 anzusehen. Das Gericht ist zu der Auffassung gelangt, dass die
jugendhilferechtliche Leistung in dem Zeitpunkt begonnen hat, in dem A. K. und
Familie S. die Nachricht vom Tod der B. K. überbracht wurde, mithin am
10.04.2010. Dies beruht auf folgenden Erwägungen:
29
1.2.2.2.1.1
Als Beginn der Leistung sind unterschiedliche Zeitpunkte -
Antragstellung, behördliche Entscheidung, tatsächlicher Beginn der Leistung -
denkbar. Für den Regelfall einer auf Grundlage einer behördlichen Entscheidung
erfolgenden jugendhilferechtlichen Maßnahme hat das Bundesverwaltungsgericht
entschieden, dass für die Bestimmung des „Beginns“ der Leistung im Sinne von §
86 SGB VIII und damit auch für die Bestimmung des Zeitpunkts „vor“ Beginn der
Leistung grundsätzlich (erst) das Einsetzen der Hilfegewährung und damit der
Zeitpunkt maßgeblich ist, ab dem die konkrete Hilfeleistung tatsächlich gegenüber
dem Hilfeempfänger erbracht wird (BVerwG, Urteile vom 29.01.2004 - 5 C 9.03 -,
juris, vom 25.03.2010 - 5 C 12.09 -, juris, vom 19.10.2011 - 5 C 25.10 -, juris und
vom 14.11.2013 - 5 C 34.12 -, juris; ebenso OVG Nieders., Beschluss vom
15.04.2010 - 4 LC 266/08 -, juris; OVG NRW, Beschluss vom 07.09.2012 - 12 A
1434/12 -, juris).
30
1.2.2.2.1.2
Dieser Zeitpunkt des tatsächlichen Hilfebeginns ist grundsätzlich auch
dann maßgeblich, wenn es sich um eine selbstbeschaffte Leistung im Sinne des §
36a Abs. 3 SGB VIII handelt. Hier ist zwar der Hilfegewährung eine
Zuständigkeitsprüfung nicht vorausgegangen. Sie wird aber nachträglich
durchgeführt mit der Folge, dass es im Rahmen der ex-post-Betrachtung für die
Prüfung der Zuständigkeit auf den Zeitpunkt ankommt, in dem die Hilfe gewährt
worden wäre; bei einer Selbstbeschaffung im Sinne von § 36a Abs. 3 SGB VIII ist
im Hinblick auf die Zuständigkeit daher auf den Zeitpunkt abzustellen, in dem die -
zurecht - selbst beschaffte Leistung in Anspruch genommen worden ist (Kunkel,
SGB VIII, 4. Aufl., § 86 Rn. 10; Jans/Happe/Saurbier/Maas, Kinder- und
Jugendhilferecht, Stand 4/2014, § 86 Rn. 11; Münder/Meysen/Trenczek,
Frankfurter Kommentar SGB VIII, 7. Aufl., § 86 Rn. 11; differenzierend jurisPK-SGB
VIII, Stand 02/2015, § 86 Rn. 52).
31 Die Voraussetzungen für eine selbstbeschaffte Leistung im Sinne von § 36a Abs. 3
SGB VIII lagen am 10.04.2010 vor.
32
1.2.2.2.1.3
Die objektiven Voraussetzungen für die Gewährung
jugendhilferechtlicher Leistungen für A. waren grundsätzlich bereits am 07.04.2010
gegeben; hätte sich nicht Familie S. bereit erklärt, A. nach dem plötzlichen
Verschwinden ihrer Mutter bis zur Klärung der Situation bei sich aufzunehmen,
wäre das Jugendamt verpflichtet gewesen, die damals 11-Jährige umgehend in
Obhut zu nehmen, da ein Verbleib bei ihrem zwar volljährigen, aber psychisch
erkrankten Bruder in der gemeinsamen Wohnung in Z. nicht in Betracht kam.
33 Allerdings hatte sich A. bereits vor dem Tod ihrer Mutter regelmäßig bei ihrer Tante
und deren Familie aufgehalten. Solange über das Schicksal von B. K. nichts
bekannt war, alle Beteiligten daher annehmen durften, dass sie in naher Zukunft
die Erziehung ihrer Tochter wieder würde übernehmen können, ist vor dem
Hintergrund der engen verwandtschaftlichen Beziehungen und tatsächlichen
Bindungen zwischen A. und der Familie ihrer Tante mangels anderer
Anhaltspunkte daher davon auszugehen, dass A.s Tante die Betreuungs- und
Erziehungsaufgabe - wie auch bei A.s früheren Aufenthalten bei Familie S. -
zunächst freiwillig und unentgeltlich übernommen hat. Auch wenn daher aufgrund
der Abwesenheit von A.s Mutter als der allein die elterliche Sorge ausübenden
Bezugsperson bereits ab dem 07.04.2010 eine erzieherische Mangelsituation in
A.s Herkunftsfamilie gegeben war, war aufgrund der innerfamiliären Lösung mit
Familie S. öffentliche Hilfe zur Erziehung zu diesem Zeitpunkt (noch) nicht
notwendig im Sinne von § 27 Abs. 1 SGB VIII (vgl. zur fehlenden Notwendigkeit
jugendhilferechtlicher Leistungen bei Verwandtenpflege: BVerwG, Urteil vom
09.12.2014 - 5 C 32.13 -, juris; Sächs. OVG, Beschluss vom 28.05.2009 - 1 A
54/08 -, juris; OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 27.06.2013 - 7 A 10040/13 -, juris).
34 Dies änderte sich in dem Moment, in dem am Samstag, dem 10.04.2010, A. und
Familie S. die Todesnachricht betreffend B. K. überbracht wurde. In diesem
Moment nämlich war für Familie S. wie auch das Jugendamt ersichtlich, dass
nunmehr keine nur vorübergehende Regelung der Betreuung von A. mehr
erforderlich war, dass sich vielmehr die Frage, wo und bei wem A. zukünftig leben,
wer fortan ihre Erziehung und Betreuung übernehmen würde, grundsätzlich und
auf lange Sicht stellte. Dass Familie S. diese Erziehungsaufgabe nicht dauerhaft im
Rahmen der Verwandtenpflege kostenlos übernehmen wollte, vielmehr von
Anfang an (nur) die Bereitschaft hatte, im Rahmen eines jugendhilferechtlichen
Regimes - als Pflegefamilie - tätig zu werden, ergibt sich für die Kammer mit
hinreichender Deutlichkeit aus dem Ablauf der weiteren Ereignisse. So sprach
Frau S. bereits am Montag, dem 12.04.2010 - und somit am ersten Werktag nach
Bekanntwerden des Todes von B. K. -, beim Jugendamt der Beklagten vor, wo
bereits über die Höhe eines möglichen Pflegegeldes gesprochen. Frau S. jedoch
an das für ihren Wohnsitz zuständige Jugendamt des Klägers verwiesen wurde.
Offenbar noch in derselben Woche fand ein Gespräch zwischen Frau S. und dem
Allgemeinen sozialen Dienst des Klägers statt, in welchem Frau S. über
verschiedene Möglichkeiten informiert und wo neben der Unterbringung in einer
Pflegefamilie auch die Option einer vollstationären Hilfe in einer Einrichtung
angesprochen wurde. Unter dem 22.04.2010 schließlich stellte Frau S. beim
Beklagten Antrag auf Hilfe zur Erziehung und bewarb sich unter gleichem Datum
zusammen mit ihrem Ehemann um Aufnahme von A. als Pflegekind. Während der
zehn Tage, die zwischen der Nachricht vom Tod der B. K. und der Antragstellung
lagen, stand Familie S., wie für das Jugendamt zu erkennen war, nicht vor der
Entscheidung, ob sie A. zukünftig im Rahmen der Verwandtenpflege - und damit
außerhalb eines jugendhilferechtlichen Regimes - oder als Pflegefamilie betreuen
würde, sondern vor der Frage, ob sie als Pflegefamilie von A. zur Verfügung
stehen würde oder ob nicht angesichts der eigenen nicht unproblematischen
Familiensituation eine andere Form der Unterbringung von A., etwa in einem Heim,
vorzugswürdig wäre.
35
1.2.2.2.1.4
Ist folglich davon auszugehen, dass mit der Klarheit über den Tod der
sorgeberechtigten Mutter von A. am 10.04.2010 Hilfe zur Erziehung notwendig
wurde, weil Familie S. nicht für eine dauerhafte Aufnahme von A. in ihren Haushalt
ohne jugendhilferechtliche Anbindung zur Verfügung stand, dass ferner die
Unterbringung bei Familie S. - trotz gewisser Bedenken - auch vom Jugendamt
des Klägers als geeignete Hilfemaßnahme angesehen wurde und ist schließlich
Familie S., wenngleich mit A. verwandt, auch als „andere Familie“ im Sinne von §
33 Satz 1 SGB VIII anzusehen, wie sich klar aus § 27 Abs. 2a SGB VIII ergibt,
lagen zu diesem Zeitpunkt die Voraussetzungen für die Gewährung
jugendhilferechtlicher Leistungen in Form der Vollzeitpflege (§ 33 SGB VIII) vor im
Sinne von § 36a Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 SGB VIII.
36
1.2.2.2.1.5
Ferner duldete die Deckung des Bedarfs keinen Aufschub bis zu einer
Entscheidung des Klägers (§ 36a Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 SGB VIII); vielmehr mussten
für A. ab sofort - und damit auch schon während des Verwaltungsverfahrens -
dauerhafte neue Lebensbeziehungen geschaffen, ihr Bedarf an Erziehung und
Betreuung gedeckt und ihr Unterhalt sichergestellt werden (vgl. BVerwG, Urteil vom
01.03.2012 - 5 C 12.11 -, juris).
37
1.2.2.2.1.6
Schließlich ist es unschädlich, dass es am 10.04.2010 an der
Voraussetzung des § 36a Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 SGB VIII, nämlich dem
Inkenntnissetzen des Trägers der öffentlichen Jugendhilfe über den Hilfebedarf
durch den Leistungsberechtigten, fehlte. Denn leistungsberechtigt im Sinne von §
27 Abs. 1 SGB VIII ist allein der Personensorgeberechtigte, sind nicht aber die
Pflegeeltern (OVG Niedersachsen, Beschluss vom 20.05.2008 - 4 LA 150/07 -,
juris; OVG NRW, Urteil vom 25.04.2001 - 12 A 924/99 -, juris; VG Aachen, Urteil
vom 19.08.2014 - 2 K 644/12 -, juris; VG Ansbach, Urteil vom 26.01.2012 - AN 14
K 11.02209 -, juris). Familie S. war daher, da nicht personensorgeberechtigt für A.,
nicht antragsberechtigt; vielmehr gab es bis zur Bestallung von Rechtsanwalt G.
als Vormund nach dem Tod von B. K. für deren Tochter keinen
Personensorgeberechtigten. Gab es folglich bis zur Bestallung von Rechtsanwalt
G. am 11.05.2010 aber keinen Personensorge- und damit Leistungsberechtigten,
der den Träger öffentlicher Jugendhilfe über den Hilfebedarf hätte in Kenntnis
setzen können, ist die Ausnahmevorschrift des § 36a Abs. 3 Satz 2 SGB VIII
zumindest analog anzuwenden. Da Rechtsanwalt G. den von Familie S. unter dem
22.04.2010 gestellten Antrag auf jugendhilferechtliche Leistungen für A. in Form
der Vollzeitpflege bereits am Tag nach seiner Bestallung, am 12.05.2010,
genehmigt hat, hat er den Kläger unverzüglich im Sinne von § 36a Abs. 3 Satz 2
SGB VIII vom jugendhilferechtlichen Bedarf in Kenntnis gesetzt.
38
1.2.2.2.2
Als Beginn der jugendhilferechtlichen Leistungen im Sinne von § 86 Abs.
4 SGB VIII ist folglich die Überbringung der Nachricht vom Tod der B. K. an Familie
S. und A. am 10.04.2010 anzusehen. Vor diesem Zeitpunkt aber hatte A. ihren
gewöhnlichen Aufenthalt (noch) in der gemeinsam mit ihrer Mutter und ihrem
Bruder genutzten Wohnung in F, mithin im Zuständigkeitsbereich der Beklagten.
39
1.2.2.2.2.1
Die Auslegung des unbestimmten Rechtsbegriffes des gewöhnlichen
Aufenthalts i.S.d. § 86 SGB VIII richtet sich gemäß § 37 SGB I nach der
Legaldefinition in § 30 Abs. 3 Satz 2 SGB I, die gemäß § 37 SGB I in Ermangelung
abweichender Regelungen auch auf Leistungen nach SGB VIII mit der Maßgabe
anwendbar ist, dass der unbestimmte Rechtsbegriff unter Berücksichtigung von
Sinn und Zweck sowie Regelungszusammenhang der jeweiligen Norm
auszulegen ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 31.08.1995 - 5 C 11.94 -, juris). Nach § 30
Abs. 3 Satz 2 SGB I hat jemand den gewöhnlichen Aufenthalt dort, wo er sich unter
Umständen aufhält, die erkennen lassen, dass er an diesem Ort oder in diesem
Gebiet nicht nur vorübergehend verweilt. Maßgeblich dafür ist, ob der Betreffende
sich an dem fraglichen Ort „bis auf weiteres“ im Sinne eines zukunftsoffenen
Verbleibs aufhält und dort den Mittelpunkt seiner Lebensbeziehungen hat
(BVerwG, Urteil vom 18.05.2000 - 5 C 27.99 -, juris; Urteil vom 18.03.1999 - 5 C
11.98 -, juris; Urteil vom 07.07.2005 - 5 C 9.04 -, juris; Urteil vom 14.11.2013 - 5 C
25.12 -, juris). Daraus folgt zugleich, dass jemand seinen gewöhnlichen Aufenthalt
aufgibt bzw. verliert, wenn er seinen Aufenthaltsort tatsächlich wechselt und die
konkreten Umstände erkennen lassen, dass er am bisherigen Aufenthaltsort nicht
mehr bis auf Weiteres verbleiben und nicht mehr den Mittelpunkt seiner
Lebensbeziehungen haben wird (BVerwG, Urteil vom 29.09.2010 - 5 C 21.09 -,
juris; VG Oldenburg, Urteil vom 09.11.2012 - 13 A 2075/11 -, juris; VG Freiburg,
Urteil vom 07.11.2013 - 4 K 1340/12 -, juris). Erforderlich ist zudem, dass der
Ausführung des Willens, an einem Ort den gewöhnlichen Aufenthalt zu begründen,
keine objektiven Hindernisse entgegenstehen (OVG NRW, Beschluss vom
11.06.2008 - 12 A 1277/08 - juris; VG Gelsenkirchen, Urteil vom 03.04.2008 - 2 K
1700/07 -, juris). Für die Beurteilung von Aufenthaltsverhältnissen ist eine
gegenwartsbezogene, vorausschauende Sicht maßgebend, bei der alle für die
Beurteilung der künftigen Entwicklung bei Beginn eines strittigen Zeitraums
erkennbaren Umstände zu berücksichtigen sind (VG Aachen, Urteil vom
30.10.2006 - 2 K 2796/04 -, juris; Kasseler Kommentar zum
Sozialversicherungsrecht, 67. Erg.Lief. 2010, § 30 SGB I Rn. 19).
40
1.2.2.2.2.2
Diese Kriterien zugrunde gelegt, war der gewöhnliche Aufenthaltsort
von A. am 10.04.2010 in Z. im Zuständigkeitsbereich der Beklagten. Zwar hielt sich
A. zu diesem Zeitpunkt seit drei Tagen tatsächlich bei ihrer Tante im
Zuständigkeitsbereich des Klägers auf. Dieser Aufenthalt sollte jedoch erkennbar
vorübergehender Natur sein bis zu dem Moment, zu dem B. K. gefunden würde
und ihre Erziehungsaufgaben wieder würde wahrnehmen können. So befand sich
der Hausstand von A. zu diesem Zeitpunkt noch in der Wohnung im R. auf
Gemarkung der Beklagten und sie besuchte weiter ihre bisherige Schule. Auch
wenn bis zur Todesnachricht nicht klar war, wie lange A. bei ihrer Tante bleiben
würde, war bis zum 10.04.2010 jedenfalls nichts dafür ersichtlich, dass sie ihren
Lebensmittelpunkt von Z. hin zu ihrer Tante verlegt oder dies auch nur vorgehabt
hätte, ganz abgesehen davon, dass zu diesem Zeitpunkt kein
Personensorgeberechtigter einer derartigen Änderung des Lebensmittelpunktes
hätte zustimmen können.
41
1.2.3
Steht damit zur Überzeugung des Gerichts fest, dass die Beklagte gemäß §
86 Abs. 4 Satz 1 SGB VIII zuständige Behörde gewesen ist, hat sie gemäß § 89c
Abs. 1 Satz 2 SGB VIII dem Kläger die ab dem 10.04.2010 aufgewendeten, nicht
anderweitig gedeckten Kosten in Höhe von 119.614,78 EUR zu erstatten.
42
1.3
Dies gilt jedoch nicht für die Kosten, die für den Zeitraum bis zum 10.04.2010
angefallen sind. Denn vor dem 10.04.2010 waren jugendhilferechtliche Leistungen,
wie gesehen, (noch) nicht erforderlich im Sinne von § 27 Abs. 1 SGB VIII, da
Familie S. A.s Bedarf an Betreuung, Pflege und Erziehung insoweit freiwillig und
unentgeltlich gedeckt hat. Die rückwirkend ab dem 07.04.2010 bis zum 09.04.2010
bewilligten jugendhilferechtlichen Leistungen in Form der Vollzeitpflege in Höhe
von 114,50 EUR entsprachen damit nicht jugendhilferechtlichen Vorschriften; sie
sind daher gemäß § 89f SGB VIII nicht zu erstatten.
43
2.
Hat der Kläger gegen die Beklagte mithin einen Anspruch auf Erstattung der
aufgewendeten Kosten, hat er auch einen Anspruch auf Zahlung von
Prozesszinsen. Nach § 291 BGB hat der Schuldner von dem Eintritt der
Rechtshängigkeit an eine Geldschuld zu verzinsen, und zwar auch dann, wenn er
nicht in Verzug ist. § 291 BGB ist sinngemäß auch auf öffentlich-rechtliche
Geldforderungen anwendbar, wenn das einschlägige Fachrecht - wie hier das
Sozialrecht - keine abweichende Regelung trifft (BVerwG, Urteil vom 18.05.2000 -
5 C 27.99 -, juris; Urteil vom 22.02.2001 - 5 C 34.00 -, juris; OVG NRW, Beschluss
vom 08.05.2000 - 22 A 1123/98 -, juris). Der Beginn der Verzinsung beginnt mit
Klageerhebung bei Gericht - hier also dem 04.08.2014 -, der Zinssatz für
Prozesszinsen beträgt 5 Prozentpunkte über dem Basiszinssatz, § 291 Satz 2
BGB i.V.m. § 288 Abs. 1 Satz 2 BGB.
44
3.
Soweit der Kläger von der Beklagten auf Grundlage von § 89c Abs. 2 SGB VIII
einen zusätzlichen Betrag in Höhe eines Drittels der Kosten wegen pflichtwidrigen
Verhaltens der Beklagten verlangt, hat seine Klage dagegen keinen Erfolg.
45 Ob ein pflichtwidriges Verhalten vorgelegen hat, lässt sich schwerlich nach
allgemeinen objektiven Merkmalen abstrakt festlegen, sondern ist abhängig von
den Gegebenheiten des konkreten Falles, also von der Bewertung des zugrunde
liegenden Sachverhalts im Zusammenspiel mit den maßgeblichen
verfahrensmäßigen und materiell-rechtlichen Vorgaben der jeweils einschlägigen
sozialrechtlichen Vorschriften. Pflichtwidrigkeit wird in der Regel angenommen,
wenn der erstattungspflichtige Träger seine Zuständigkeit erkannt hat bzw. bei
Anwendung der ihm obliegenden Sorgfalt hätte erkennen müssen, und dennoch
die Hilfeleistung ablehnt, verzögert oder unzureichend gewährt (vgl. Wiesner, SGB
VIII, 4. Aufl., § 89c Rn. 8; Hauck, SGB VIII Stand 2014, § 89c Rn. 10). Eine
Bestimmung der örtlichen Zuständigkeit kann insbesondere auch dann schwierig
sein mit der Folge, dass die Ablehnung der Hilfestellung nicht als pflichtwidrig
anzusehen ist, wenn sie im Einzelfall von der Wertung tatsächlicher Umstände
abhängt (Bayer. VGH, Beschluss vom 14.11.2011 - 12 ZB 09.2095 -, juris).
46 Hier ist die Bestimmung der örtlichen Zuständigkeit - wie auch die engagierte
Diskussion in der mündlichen Verhandlung gezeigt hat - nicht einfach gelagert.
Insbesondere die Frage, welcher Zeitpunkt als Beginn der jugendhilferechtlichen
Leistung anzusehen ist, ist im Tatsächlichen aufgrund der konkreten Konstellation
- so der mehrtägigen Ungewissheit über den Verbleib der allein
personensorgeberechtigten Mutter, dem Aufenthalt A.s bereits während dieser
Zeitspanne bei Familie S., dem Fehlen eines Personensorgeberechtigten nach
Bekanntwerden des Todes von B. K. - nicht einfach zu beantworten, erfordert
vielmehr einen relativ großen Begründungsaufwand. Daher stellt es kein
pflichtwidriges Verhalten im oben ausgeführten Sinne dar, dass die Beklagte ihre
Zuständigkeit abgelehnt hat.
47
4.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 155 Abs. 1 Satz 1, § 188 Satz 2 2. HS
VwGO. Die Kammer sieht im Rahmen ihres Ermessens davon ab, die
Entscheidung im Kostenpunkt für vorläufig vollstreckbar zu erklären. Gründe für die
Zulassung der Berufung bereits durch das Verwaltungsgericht sind nicht gegeben.
48
Beschluss vom 12.03.2015
49 Der Streitwert für das Verfahren vor dem Verwaltungsgericht wird auf
158.024,50
EUR
festgesetzt (§§ 63 Abs. 2, 52 Abs. 3 GKG).
50 Wegen der Beschwerdemöglichkeit gegen die Streitwertfestsetzung wird auf § 68
Abs. 1 GKG verwiesen.