Urteil des VG Freiburg vom 22.02.2017

aufschiebende wirkung, konzentration, cannabis, fahreignung

VG Freiburg Beschluß vom 22.2.2017, 1 K 541/17
Leitsätze
Eine exakt quantifizierte THC-Konzentration im Blut unterhalb des Grenzwertes von 1 ng/ml (hier 0,76 ng/ml)
kann im Einzelfall einen konkreten Gefahrverdacht begründen und die Untersuchung des Trennungsvermögens
durch Einholung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens rechtfertigen.
Tenor
Der Antrag wird abgelehnt.
Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens.
Der Streitwert wird auf 2.500,00 EUR festgesetzt.
Gründe
1
Der Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruches des Antragstellers vom ...
gegen den Bescheid des Landratsamtes Rottweil vom ... gem. § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO ist zulässig, aber
unbegründet.
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Nach § 80 Abs. 5 VwGO kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag die aufschiebende Wirkung im Fall des
Abs. 2 Nr. 4 ganz oder teilweise wiederherstellen. Das Gericht trifft dabei eine eigene, originäre
Ermessensentscheidung. Es hat bei der Entscheidung über die Wiederherstellung der aufschiebenden
Wirkung abzuwägen zwischen dem von der Behörde geltend gemachten Interesse an der sofortigen
Vollziehung ihres Bescheides und dem Interesse des Antragstellers an der aufschiebenden Wirkung seines
Rechtsbehelfs. Bei dieser Abwägung sind auch die Erfolgsaussichten des Hauptsacheverfahrens zu
berücksichtigen. Ergibt die im Rahmen des Verfahrens nach § 80 Abs. 5 VwGO allein mögliche summarische
Prüfung, dass der Rechtsbehelf offensichtlich erfolglos sein wird, tritt das Interesse des Antragstellers
regelmäßig zurück. Erweist sich dagegen der angefochtene Bescheid schon bei kursorischer Prüfung als
offensichtlich rechtswidrig, besteht kein öffentliches Interesse an dessen sofortiger Vollziehung. Ist der
Ausgang des Hauptsacheverfahrens dagegen nicht hinreichend absehbar, verbleibt es bei einer allgemeinen
Interessenabwägung.
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Nach diesen Grundsätzen ist die aufschiebende Wirkung vorliegend nicht wiederherzustellen, denn nach
summarischer Prüfung wird der Widerspruch des Antragstellers ohne Erfolg sein. Der Bescheid vom ... ist
nach derzeitiger Sach- und Rechtslage rechtmäßig und das öffentliche Vollzugsinteresse überwiegt daher
das Aussetzungsinteresse des Antragstellers.
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Das Landratsamt ... hat dem Antragsteller mit Bescheid vom ... in Anwendung von § 3 Abs. 1 Satz 1 StVG, §
46 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3 i.V.m. § 14 Abs. 1 Satz 3 FeV die Fahrerlaubnis entzogen, weil er der Anordnung
vom ... zur Vorlage eines medizinisch-psychologischen Gutachtens nicht Folge geleistet hat, welches die
Frage klären sollte, ob der Antragsteller bei gelegentlichem Cannabiskonsum in der Lage ist, zwischen
Konsum und Führen eines Kraftfahrzeugs sicher zu trennen.
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Weigert sich der Betroffene, sich untersuchen zu lassen, oder bringt er der Fahrerlaubnisbehörde das von ihr
geforderte Gutachten nicht fristgerecht bei, so darf diese nach § 11 Abs. 8 Satz 1 FeV bei ihrer Entscheidung
auf die Nichteignung des Betroffenen schließen und die Fahrerlaubnis entziehen, wenn sie den Betroffenen
bei der Anordnung auf die Rechtsfolge des § 11 Abs. 8 Satz 1 FeV hingewiesen hat. Der Schluss auf die
Nichteignung ist jedoch nur zulässig, wenn die Anordnung des Gutachtens formell und materiell rechtmäßig,
insbesondere anlassbezogen und verhältnismäßig ist (BVerwG, Urt. v. 05.07.2001 - 3 C 13/01 - NJW 2002,
78 und v. 09.06.2005 - 3 C 25/04 -, NJW 2005, 3081; VGH Bad.-Württ., Beschl. v. 20.04.2010 - 10 S
319/10 -, NJW 2010, 3256, Beschl. v. 10.12.2010 - 10 S 2173/10 -, VBlBW 2011, 196 und Urt. v.
10.12.2013 - 10 S 2397/12 -, juris).
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Die Gutachtensanforderung vom ... dürfte formell und materiell rechtmäßig sein.
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Die Gutachtensaufforderung wird vorliegend auf § 14 Abs. 1 Satz 3 FeV gestützt. Danach kann die
Beibringung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens angeordnet werden, wenn gelegentliche
Einnahme von Cannabis vorliegt und weitere Tatsachen Zweifel an der Eignung begründen.
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Unbestritten hat der Antragsteller am ... gegen ... Uhr ein Kraftfahrzeug geführt, obwohl er - wie die
Analyse der Blutprobe ergab - zuvor Cannabis konsumiert hatte.
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In Nr. 9.2.1 der Anlage 4 zur FeV wird bezüglich Cannabis ausgeführt, dass die Eignung zum Führen von
Kraftfahrzeugen bei regelmäßiger Einnahme grundsätzlich nicht besteht. Liegt nur eine gelegentliche
Einnahme von Cannabis vor, so ist eine Eignung weiterhin gegeben, wenn zwischen Konsum und Fahren
getrennt wird und kein zusätzlicher Gebrauch von Alkohol oder anderen psychoaktiv wirkenden Stoffen,
keine Störung der Persönlichkeit und kein Kontrollverlust vorliegen (Nr. 9.2.2).
10 Mit dem Antragsteller ist davon auszugehen, dass er (lediglich) Gelegenheitskonsument ist. Seinen Angaben
dazu stehen keine objektivierbaren Tatsachen entgegen. Soweit der Antragsgegner mit Schriftsatz vom ...
scheinbar nunmehr von einem regelmäßigen Konsum ausgeht, dürfte dagegen schon der in der forensisch-
toxikologischen Untersuchung der Blutproben des Antragstellers vom ... festgestellte Wert der THC-
Carbonsäurekonzentration von 20 µg/L sprechen. Auch dürfte nicht bereits feststehen, dass dem
Antragsteller das erforderliche Trennungsvermögen i.S.v. Nr. 9.2.2 der Anlage 4 zur FeV fehlt. Nach der
ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg (vgl. nur Urt. v. 13.12.2007 -
10 S 1272/07 - und v. 22.11.2012 - 10 S 3174/11 - unter ausführlicher Auseinandersetzung mit
naturwissenschaftlich-medizinischen Erkenntnissen und Beschl. v. 02.10.2014 - 10 S 1586/14 - alle juris),
der die Kammer folgt, liegt ein Verstoß gegen das Trennungsverbot erst - aber auch schon - bei einer
Teilnahme am Straßenverkehr unter dem Einfluss einer THC-Konzentration ab 1,0 ng/ml im Blut vor.
11 Dies bedeutet jedoch nicht, dass bei einer THC-Konzentration unter 1,0 ng/ml ohne weiteres das
Trennungsvermögen gegeben ist. Ebenso dürfte eine Fahrt mit einer THC-Konzentration < 1,0 ng/ml im Blut
allein regelmäßig noch keine konkreten Eignungszweifel begründen (vgl. BayVGH, Beschl. v. 25.01.2006 -
11 CS 05.1711 - juris Rn. 45 und Beschl .v. 27.09.2010 - 11 CS 10.1104 -, juris Rn. 2 und 4; so auch VG
Freiburg, Beschl. v. 08.02.2017 - 6 K 187/17 -; Köhler-Rott, DAR 2007, 682, 687; a.A. Hartung, VBlBW,
2005, 369, 376; Dauer, in: Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 42 Aufl. § 2 StVG Rn. 59).
12 Vielmehr ist dann zu prüfen, ob weitere Umstände vorliegen, die auf ein fehlendes Trennungsvermögen
schließen lassen oder die Einholung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens rechtfertigen.
13 Die beim Antragsteller durch das forensisch-toxikologische Gutachten festgestellte THC-Konzentration von
0,76 ng/ml genügt hier, um einen konkreten Gefahrverdacht zu begründen und rechtfertigt die
Untersuchung des Trennungsvermögens (vgl. auch Beschluss der Kammer vom 26.08.2010 - 1 K 985/10 -).
Nach gesicherter naturwissenschaftlicher Erkenntnis wird THC nach inhalativen Konsum im Blut sehr schnell
abgebaut. Nach der Aufnahme einer „normalen“ Einzelwirkdosis ist THC nur vier bis sechs Stunden im Blut
nachweisbar. Auch nach dem Konsum höherer Dosierungen sinkt die THC-Konzentration im Blut bei
Gelegenheitskonsumenten innerhalb von ca. sechs Stunden nach Rauschende auf einen Wert von ca. 1
ng/ml ab. Etwa nach zwölf Stunden ist THC nicht mehr bzw. nur noch mit Werten unter 0,7 ng/ml
nachweisbar (vgl. zum Ganzen VGH Bad.-Württ., Beschl. v. 02.10.2014, a.a.O.; BayVGH, Beschl. v.
19.07.2010 - 11 CS 10.540 - juris; sowie v. 20.09.2007 - 11 CS 07.1589 - juris - jeweils mit Nachweisen aus
dem medizinisch-naturwissenschaftlichen Originalschrifttum). Ungeachtet dessen, dass die Nachweisbarkeit
von THC im Blut in gewissem Maße auch von den Umständen des Einzelfalles abhängt, kann deshalb nach
gesicherter naturwissenschaftlicher Erkenntnis davon ausgegangen werden, dass der THC-Nachweis im
Blutserum nach der Blutentnahme am frühen Abend des ... schwerlich durch den vom Antragsteller
gegenüber dem Landratsamt ... angegebenen Konsumvorgang am ... gegen ... Uhr (und damit fast 24
Stunden zuvor) erklärt werden kann. Vielmehr liegt es nahe, dass der Konsum in zeitlicher Nähe zum
Fahrtantritt erfolgte. Sollte der letzte Konsum vor Fahrtantritt aber tatsächlich länger als 24 Stunden
zurückgelegen haben, so würde daraus nach wissenschaftlicher Erkenntnis zumindest zu folgern sein, dass
es zuvor zu einer erheblichen Akkumulation von Cannabinoiden im Körper gekommen ist. Eine solche
Akkumulation ist aber nur bei erhöhter Konsumfrequenz und geeigneter Dosierung zu erwarten (vgl. VGH
Bad.-Württ., Urt. v. 22.11.2012 - 10 S 3174/11 - juris), was dann allerdings auf eine Konsumhäufigkeit
hindeuten würde, die im Übergangsbereich zum - nach Nr. 9.2.1 der Anlage 4 zur Fahrerlaubnis-Verordnung
ohne Weiteres die Fahreignung ausschließenden - regelmäßigen Konsum läge. Vorliegend ist daher davon
auszugehen, dass der Drogenkonsum im engen zeitlichen Zusammenhang mit der Verkehrsteilnahme
gestanden haben dürfte. Dies wirft die Frage auf, ob der Antragsteller als gelegentlicher Konsument
tatsächlich die Einnahme der Droge und die Teilnahme am Straßenverkehr sicher trennen kann.
14 Die Gutachtensanordnung vom ... entspricht auch in formeller Hinsicht den gesetzlichen Anforderungen.
Insbesondere hat das Landratsamt ... die zu klärende Fragestellung unter Berücksichtigung der
Besonderheiten des Einzelfalls hinreichend anlassbezogen formuliert (§ 11 Abs. 6 Satz 1 FeV) und in der
Anordnung bestimmt, dass das Gutachten von einer für die Fragestellung zuständige Begutachtungsstelle
für Fahreignung erstellt werden sollte (§ 14 Abs. 1 Satz 3 FeV). Der Sachverhalt, aufgrund dessen das
Landratsamt ... Zweifel an der Fahreignung des Antragstellers hat, wurde im Übrigen ausführlich und
nachvollziehbar dargestellt. Auch die gem. § 11 Abs. 6 Satz 2 FeV gesetzte Frist zur Vorlage des Gutachtens
war angemessen.
15 Der Antragsteller ist seiner aufgrund der rechtmäßigen Gutachtensanordnung bestehenden Obliegenheit
zur Mitwirkung an der Aufklärung der vorhandenen Eignungszweifel nicht nachgekommen, so dass das
Landratsamt ... zu Recht gem. § 11 Abs. 8 Satz 1 FeV auf seine Nichteignung zum Führen von
Kraftfahrzeugen geschlossen hat.
16 Auch die summarische Überprüfung der an die sofort vollziehbare Fahrerlaubnisentziehung anknüpfenden
Folgemaßnahmen ergibt keine rechtlichen Bedenken. Die Verpflichtung zur Vorlage des Führerscheins folgt
aus § 47 Abs. 2 Satz 1 FeV. Da auch insoweit in zulässiger Weise die sofortige Vollziehung angeordnet
worden ist, ist dieser Verwaltungsakt vollstreckbar i.S.v. § 2 Nr. 2 LVwVG. An der Rechtmäßigkeit der in der
Entscheidung des Landratsamts ... verfügten Androhung eines Zwangsmittels bestehen ebenfalls keine
ernstlichen Zweifel. Sie findet ihre Rechtsgrundlage in §§ 26, 28 LVwVG (i.V.m. §§ 2, 18, 19 Abs. 1 Nr. 3, 20
Abs. 1, Abs. 2 LVwVG).
17 Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
18 Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 53 Abs. 3 Nr. 2 i.V.m. § 52 Abs. 1 GKG i.V.m. Nr. 46 des
Streitwertkatalogs 2013. Bei der Festsetzung des Streitwerts im Verfahren wegen der Entziehung einer
Fahrerlaubnis sind die nach § 6 Abs. 3 FeV eigenständig bedeutsamen Fahrerlaubnisklassen nach dem
Streitwertkatalog 2013 für die Verwaltungsgerichtsbarkeit anzusetzen. Das ist hier nach dem
angefochtenen Bescheid des Landratsamtes ... die Fahrerlaubnisklasse B. Hieraus folgt für das
Hauptsacheverfahren ein Streitwert von 5.000,00 EUR (Nr. 46.3 des Streitwertkatalogs 2013). Dieser
Betrag ist für das Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes zu halbieren (Nr. 1.5 des Streitwertkatalogs), so
dass sich ein Betrag von 2.500,00 EUR ergibt.