Urteil des VG Freiburg vom 11.11.2015

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VG Freiburg Urteil vom 11.11.2015, 1 K 2954/14
Rückwirkendes Inkrafttreten einer Satzung als abgabenrechtliche Tatsache oder
rückwirkendes Ereignis; Verhältnis des Grundsatzes der Gesetzmäßigkeit der
Verwaltung zum Prinzip der Rechtssicherheit
Leitsätze
1. Das rückwirkende Inkrafttreten einer neuen Satzung stellt weder eine Tatsache im
Sinne des § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO noch ein rückwirkendes Ereignis im Sinne § 175
Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO dar.
2. Es besteht kein absoluter Vorrang des Grundsatzes der Gesetzmäßigkeit der
Verwaltung vor dem Prinzip der Rechtssicherheit. Beide Belange stehen sich vielmehr
gleichwertig gegenüber. Die Abwägung beider Verfassungsprinzipien obliegt
grundsätzlich dem Gesetzgeber.
Tenor
Die Klage wird abgewiesen.
Die Kläger tragen die Kosten des Verfahrens als Gesamtschuldner.
Tatbestand
1 Die Kläger begehren die Neufestsetzung der Abwassergebühren für das Jahr
1998.
2 Mit Bescheid vom 10.02.1999 zog die Beklagte die Kläger für das Jahr 1998 zu
einer Abwassergebühr von 1495,26 DM heran. Hiergegen erhoben die Kläger am
21.03.2000 Untätigkeitsklage (1 K 731/00). Mit gerichtlichem Vergleich vom
14.03.2001 verpflichtete sich die Beklagte, diesen Abwassergebührenbescheid zu
reduzieren und durch einen neuen Bescheid auf der Grundlage der
Änderungssatzung vom 7.11.2000 zu ersetzen. Mit Änderungsbescheid vom
23.04.2001 setzte die Beklagte die Abwassergebühren für das Jahr 1998 auf
1432,08 DM fest.
3 Unter dem 27.10.2014 beantragten die Kläger, für das Jahr 1998 bis zum
15.11.2014 Änderungsbescheide zu erlassen. Die neue Änderungssatzung vom
23.10.2014 diene explizit der Realisierung des Kostenüberdeckungsverbots. Diese
Realisierung eines solchen expliziten Willens des Ortsgesetzgebers könne nicht
nach den bisher bekannten Regeln abgehandelt werden.
4 Am 08.12.2014 haben die Kläger Untätigkeitsklage erhoben. Sie machen geltend:
Die Klage sei vor Ablauf der Frist gemäß § 75 VwGO zulässig, da die Beklagte
über gestellte Anträge generell nicht entscheide und die der Beklagten gesetzte
Frist zum 15.11.2014 erfolglos abgelaufen sei. Der Bescheid vom 10.02.1999 und
nachfolgende Änderungsbescheide seien rechtswidrig, weil sich deren
satzungsrechtliche Grundlagen auf einen unzulässigen einheitlichen
Frischwassermaßstab stützten. Diese Bescheide seien jedoch bestandskräftig. Die
Änderungssatzung der Beklagten vom 23.10.2014 habe rückwirkend für das
Gebührenjahr 1998 reduzierte Abwassergebühren für Schmutz-und
Niederschlagswasser bestimmt. Auch diese Änderungssatzung sei - wie alle
vorausgegangenen Gebührensatzregelungen - nichtig. Im Festsetzungsverfahren
sei die Beklagte gemäß Art. 20 Abs. 3 GG an die Änderungssatzung vom
23.10.2014 gebunden. Daher sei der begehrte Änderungsbescheid zu erlassen.
Auf die Bestandskraft bereits ergangener Abwassergebührenbescheide könne
sich die Beklagte nicht berufen, da sie sonst durch Rechtsmissbrauch zum
Nachteil der Gebührenschuldner 230.881,82 EUR bei sich behalten könne. Im
Hinblick auf die Gesamtzusammenhänge (Rechtsmissbrauch der Beklagten) in
Verbindung mit dem Grundsatz der Verlässlichkeit der Rechtsordnung komme es
auf die Bestandskraft bereits ergangener Gebührenbescheide nicht an. Schließlich
sei auf den Grundsatz von Treu und Glauben zu verweisen.
5 Die Kläger beantragen,
6
die Beklagte zu verpflichten, die Abwassergebühren für das Jahr 1998 auf der
Grundlage ihrer Änderungssatzung vom 23.10.2014 neu festzusetzen.
7 Die Beklagte beantragt,
8
die Klage abzuweisen.
9 Sie meint, die Klage sei bereits unzulässig, da die 3-Monats-Frist seit Beantragung
der Gebührenbescheide bei Klageerhebung nicht abgelaufen gewesen sei. Die
Klage sei auch unbegründet, weil die Kläger keinen Anspruch auf Erlass eines
neuen, die Bestandskraft des Bescheides vom 10.02.1999 durchbrechenden
Gebührenbescheides hätten. Die Voraussetzungen für ein Wiederaufgreifen des
Verfahrens nach § 51 VwVfG lägen nicht vor. Entsprechendes gelte für die §§ 130
ff., 172 ff. AO.
10 Dem Gericht liegen zwei Hefte Akten und eine Gebührenkalkulation (Stand
September 2000) der Beklagten sowie die Gerichtsakten des Verfahrens 1 K
731/00 vor. Auf diese Akten und die im vorliegenden Verfahren gewechselten
Schriftsätze der Beteiligten - die Gegenstand der mündlichen Verhandlung
gewesen sind - wird wegen der weiteren Einzelheiten verwiesen.
Entscheidungsgründe
11 Über die Klage entscheidet der Vorsitzende, dem die Kammer den Rechtsstreit zur
Entscheidung übertragen hat, als Einzelrichter (§ 6 Abs. 1 VwGO).
12 I. Die Klage ist als Untätigkeitsklage gemäß § 75 VwGO jedenfalls mittlerweile
zulässig geworden. Da die Einhaltung der Drei-Monats-Frist eine
Sachurteilsvoraussetzung darstellt, die erst im Zeitpunkt der Entscheidung des
Gerichts vorliegen muss, heilt der Zeitablauf einen eventuellen Mangel einer
vorzeitigen Klageerhebung (vgl. Funke-Kaiser in Bader/Stuhlfaut/Funke-Kaiser/v.
Albedyll, Verwaltungsgerichtsordnung, 6. Aufl., § 75 Rn. 7).
13 II. Die Klage ist jedoch unbegründet. Die Kläger haben keinen Anspruch auf eine
Neufestsetzung der Abwassergebühren für das Jahr 1998 (vgl. § 113 Abs. 5
VwGO). Es liegt bereits eine bestandskräftige Gebührenfestsetzung in Gestalt des
Bescheids vom 10.02.1999 vor, der aufgrund des gerichtlichen Vergleichs vom
14.03.2001 mit Änderungsbescheid vom 23.04.2001 geändert wurde. Eine
Abänderung dieser bestandskräftigen Gebührenfestsetzung wäre nur dann
möglich, wenn die tatbestandlichen Voraussetzungen der §§ 172 ff. AO (i.V.m. § 3
Abs. 1 Nr. 4 c KAG) vorliegen würden. Dies ist aber nicht der Fall.
14 1. Der begehrte Erlass eines Änderungsbescheids lässt sich nicht auf § 173 Abs. 1
Nr. 2 AO (i.V.m. § 3 Abs. 1 Nr. 4 c KAG) stützen. Nach dieser Vorschrift können
Abgabenbescheide zu Gunsten des Abgabenpflichtigen u.a. geändert werden,
wenn Tatsachen nachträglich bekannt werden, die zu einer niedrigeren Abgabe
führen, und den Abgabenpflichtigen kein Verschulden an dem nachträglichen
Bekanntwerden trifft. Tatsache ist jeder Lebensvorgang, der insgesamt oder
teilweise den gesetzlichen Steuertatbestand oder ein einzelnes Merkmal dieses
Tatbestands erfüllt; also Zustände und Vorgänge der Seinswelt, die Eigenschaften
der Gegenstände dieser Seinswelt und die gegenseitigen Beziehungen zwischen
diesen Gegenständen (Loose in: Tipke/Kruse, AO/FGO, § 173 AO Rn. 1).
15 Es ist nicht ersichtlich, dass in Bezug auf die Festsetzung der Abwassergebühren
für das Jahr 1998 Tatsachen in diesem Sinne nachträglich bekannt geworden
sind. Das in den Jahren 2010 und 2014 erfolgte rückwirkende Inkrafttreten einer
neuen Satzung stellt jeweils eine Rechtsänderung und keine Tatsache dar (VGH
Bad.-Württ., Beschluss vom 22.04.2013 - 2 S 598/13 - KStZ 2013, 236; Koenig in:
Pahlke/Koenig, AO, 2. Aufl., § 173 Rn. 12; von Wedelstädt in: Beermann/Gosch,
Abgabenordnung/Finanzgerichtsordnung, § 173 AO Rn. 9; Loose in: Tipke/Kruse,
AO/FGO, § 173 AO Rn. 3).
16 Bei den subjektiven Vorstellungen des Gemeinderats der Beklagten bei Erlass der
Satzung vom 23.10.2014 mag es sich zwar möglicherweise um innere Tatsachen
handeln. Sie stellen jedoch offensichtlich keinen Sachverhalt dar, der im Rahmen
eines Abgabentatbestandes rechtlich relevant sein könnte. Sie wären daher auch
ersichtlich ungeeignet, zu einer niedrigeren Abgabe zu führen. Daher ist der
Beweisantrag der Kläger, der darauf zielt, diese subjektiven Vorstellungen des
Gemeinderats der Beklagten näher aufzuklären, auf den Beweis einer im
Zusammenhang mit der Vorschrift des § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO unerheblichen
Tatsache gerichtet.
17 2. Die begehrte Abänderung ist auch nicht von § 175 Abs. 1 Nr. 2 AO gedeckt.
Danach ist ein Steuerbescheid zu ändern, wenn ein Ereignis eintritt, das
abgabenrechtliche Wirkung für die Vergangenheit hat. Der rückwirkende Erlass
einer neuen Satzung (wie auch die rückwirkende Änderung von Steuergesetzen)
stellt jedoch kein rückwirkendes Ereignis im Sinne dieser Vorschrift dar, denn er
verändert nur den satzungsrechtlichen Tatbestand rückwirkend, nicht aber den
eigentlichen Lebenssachverhalt selbst (vgl. Koenig in: Pahlke/Koenig, AO, 2. Aufl.,
§ 175 Rn. 38; Rüsken in: Klein, AO, 9. Aufl., § 175 Rn. 80; Loose in: Tipke/Kruse,
AO/FGO, § 175 AO Rn. 42).
18 Dies gilt unabhängig von den subjektiven Vorstellungen des Satzungsgebers.
Daher ist der in der mündlichen Verhandlung gestellte unbedingte Beweisantrag
der Kläger, der darauf gerichtet ist, den subjektiven „Willen“ des Satzungsgebers
bei Erlass der Satzung vom 23.10.14 zu ermitteln, auch in diesem Zusammenhang
auf den Beweis einer unerheblichen Tatsache gerichtet.
19 3. Der in § 176 AO gewährte Vertrauensschutz kann von vornherein keinen
Anspruch auf Änderung eines bestandskräftigen Abgabenbescheids begründen. §
176 AO schützt in seinem tatbestandlichen Anwendungsbereich allein das
Vertrauen in den Bestand eines bestandskräftigen Abgabenbescheids (vgl. Loose
in: Tipke/Kruse, AO/FGO, § 176 AO Rn. 3).
20 4. Entgegen der Ansicht der Kläger ergibt sich der geltend gemachte Anspruch
nach alledem auch nicht aus dem Gesichtspunkt von Treu und Glauben (§ 242
BGB) oder aus sonstigen allgemeinen Billigkeitserwägungen. Hierfür besteht hier
schon aus Gründen der Rechtsklarheit, Rechtssicherheit und Nachvollziehbarkeit
des Abgabenrechts kein Raum (vgl. zum Erschließungsbeitragsrecht: BVerwG,
Urteil vom 24.02.2010 - 9 C 1.09 - BVerwGE 136, 126).
21 Hoheitliches Handeln ist zwar einerseits durch die Bindung an Gesetz und Recht
(Art. 20 Abs. 3 GG) der Rechtsrichtigkeit verpflichtet. Die jederzeitige
Abänderbarkeit hoheitlicher Maßnahmen zugunsten der materiellen Richtigkeit
wird jedoch durch das Prinzip der Rechtssicherheit eingeschränkt, das - als
Anliegen des Rechtsstaatsprinzips - Verlässlichkeit als Gerechtigkeitskriterium
postuliert. Entgegen der Auffassung der Kläger besteht dabei kein absoluter
Vorrang des Grundsatzes der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung. Beide Belange
stehen sich vielmehr gleichwertig gegenüber (vgl. hierzu und zum Folgenden m.w.
Nachw.: Koenig, AO, 3. Aufl., Vor §§ 172-177 Rn. 1). Die Abwägung beider
Verfassungsprinzipien obliegt grundsätzlich dem Gesetzgeber. Sie hat hier ihren
Niederschlag in der ausdifferenzierten Regelung der §§ 172 ff. AO gefunden.
Danach wird die Änderung bestandskräftiger Verwaltungsakte zugunsten der
materiellen Richtigkeit nur unter bestimmten tatbestandlichen Voraussetzungen
zugelassen. In allen anderen Fällen ist deren Rechtswidrigkeit hinzunehmen.
Dieses ausdifferenzierte Regelungssystem kann grundsätzlich nicht durch einen
Rückgriff auf allgemeine Rechtsgedanken ausgehebelt werden.
22 Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 1, 159 Satz 2 VwGO. Die
Zulassung der Berufung kommt entgegen der Auffassung der Kläger nicht in
Betracht, da keiner der Gründe des § 124 Abs. 2 Nr. 3 oder 4 VwGO vorliegt (§
124a Abs. 1 Satz 1 VwGO).