Urteil des VG Freiburg vom 07.11.2007

VG Freiburg (bundesamt für migration, kläger, nigeria, hiv, medizinische betreuung, bundesrepublik deutschland, diabetes mellitus, behandlung, abschiebung, erkrankung)

VG Freiburg Urteil vom 7.11.2007, A 1 K 600/06
Abschiebehindernis wegen schwerer Erkrankung (hier: HIV) und fehlender konkreter
Behandlungsmöglichkeit im Heimatstaat; Ermessensreduzierung auf Null
Leitsätze
Bereits eine HIV-Infektion (und nicht schon der Ausbruch von AIDS) genügt grundsätzlich, um für den Fall der
Rückkehr nach Nigeria eine extreme Lebensgefahr anzunehmen.
Tenor
Die Beklagte - Bundesamt für Migration und Flüchtlinge - wird verpflichtet, zugunsten des Klägers festzustellen,
dass betreffend Nigeria die Voraussetzungen für die Aussetzung einer Abschiebung gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1
AufenthG vorliegen. Der Bundesamtsbescheid vom 20.7.2006 wird aufgehoben, soweit er dieser Verpflichtung
entgegen steht.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Von den Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens tragen der Kläger 2/3 und die Beklagte 1/3.
Tatbestand
1 Der Kläger, ein am ... 1974 geborener nigerianischer Staatsangehöriger, reiste im Jahr 2000 nach Deutschland
ein. Sein erster Asylantrag vom 27.6.2000, bei dem er angab, kamerunischer Staatsangehöriger blieb erfolglos
(Bescheid des BAMF vom 11.7.2000), seine anschließende Klage wurde durch Urteil des VG Freiburg vom
24.5.2002 (A 1 K 10283/02), rechtskräftig seit 2.7.2002, abgewiesen. In diesem Klageverfahren hatte der Kläger
zur - aus Sicht des damals zur Entscheidung berufenen Gerichts unglaubhaften - Begründung angegeben,
Leibwächter von John Fru Ndi und wegen Vorfällen in diesem Zusammenhang geflohen zu sein.
2 Nachdem er zunächst im August 2002 Deutschland freiwillig verlassen hatte, kehrte der Kläger im Juli 2003 mit
einem Visum zur Familienzusammenführung nach Deutschland zurück. Zuvor hatte er in Nigeria eine deutsche
Staatsangehörige geheiratet. Vom 23.7.2003 bis zum 7.4.2005 war der Kläger im Besitz einer befristeten
Aufenthaltserlaubnis. Nachdem diese wegen Trennung der Ehegatten nicht mehr verlängert wurde, ergänzte das
Bundesamt mit Bescheid vom 22.7.2005 die Abschiebungsandrohung aus dem Bescheid vom 11.7.2000 um
den Zielstaat Nigeria.
3 Am 16.11.2005 beantragte der Kläger beim Bundesamt, ausschließlich bezogen auf die Feststellung eines
Abschiebungshindernisses, ein Wiederaufgreifen seines Verfahrens. Zur Begründung des Antrags gab er, belegt
durch eine ärztliche Bescheinigung, eine HIV-Infektion an, die laut ärztlicher Bescheinigung erstmals im August
2000 diagnostiziert worden war.
4 Nachdem das Bundesamt mit Entscheidung vom 20.7.2006 (zugestellt am 27.7.2006) die Abänderung der
negativen Feststellung im Bescheid vom 11.7.2000 abgelehnt hatte, hat der Kläger am 9.8.2006 Klage erhoben
und beantragt,
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den Bescheid des Bundesamts vom 20.7.2006 aufzuheben und die Beklagte -Bundesamt für Migration
und Flüchtlinge - zu verpflichten, zu seinen Gunsten festzustellen, dass betreffend Nigeria die
Voraussetzungen für die Aussetzung einer Abschiebung gemäß § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG vorliegen.
6 Die Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen.
8 Wegen weiterer Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Schriftsätze der Beteiligten sowie den
Akteninhalt (3 Hefte des Bundesamts, ein Heft abgeschlossene Gerichtsakten des ersten Asylverfahrens)
Bezug genommen. Der Kläger ist ergänzend informatorisch in der mündlichen Verhandlung angehört worden;
wegen des Inhalts seiner Angaben wird auf die Sitzungsniederschrift verwiesen.
Entscheidungsgründe
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Die zulässige Klage ist teilweise begründet, weil der Kläger den von ihm geltend gemachten Anspruch auf
Feststellung eines Abschiebungshindernisses zwar nicht aus § 60 Abs. 2 bis Abs. 6 AufenthG, subsidiär
jedoch wenigstens aus § 60 Abs. 7 AufenthG hat (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).
10 Dieser Anspruch des Klägers ergibt sich aus §§ 51 Abs. 5, 48, 49 VwVfG i.V.m. § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG.
Die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis Abs. 3 VwVfG lagen nicht vor, weil der Kläger die neue Sachlage -
seine HIV-Infektion - nicht rechtzeitig geltend gemacht hat. Nachdem er im April 2005 (Ablehnung der
Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis) Kenntnis davon hatte, kein weiteres Aufenthaltsrecht zu besitzen, hätte
er ein mögliches Abschiebungshindernis nicht erst im November 2005 zum Anlass eines Abänderungsantrags
machen dürfen (vgl. § 51 Abs. 3 VwVfG).
11 Ein Anspruch des Klägers auf Wiederaufgreifen und auf eine positive Entscheidung ergibt sich jedoch daraus,
dass ein Festhalten an der bestandskräftigen negativen Entscheidung zu § 53 AuslG a. F. bzw. § 60 Abs. 7
AufenthG zu einem schlechthin unerträglichen Ergebnis führen würde, sodass das Ermessen des Bundesamts
auf Null reduziert ist. Dies kommt immer dann in Betracht, wenn der Ausländer bei einer Abschiebung einer
extremen individuellen Gefahrensituation - der Schwere nach vergleichbar einer extremen allgemeinen
Gefahrensituation im Sinne der Rechtsprechung zu § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG a.F. / § 60 Abs. 7 Satz 1
AufenthG - ausgesetzt würde und das Absehen von einer Abschiebung daher verfassungsrechtlich dringend
geboten ist (BVerwG, Urt. v. 20.10.2004 - 1 C 15.03 - Juris). Ein sog. zielstaatsbezogenes
Abschiebungshindernis i.S.d. genannten Vorschriften kann sich aus der Krankheit eines Ausländers ergeben,
wenn sich diese im Heimatstaat erheblich verschlimmert, weil die Behandlungsmöglichkeiten unzureichend
sind. Ferner kann zu einem solchen Abschiebungshindernis der Umstand führen, dass der betroffene
Ausländer trotz an sich verfügbarer medikamentöser und ärztlicher Behandlung die medizinische Versorgung
tatsächlich nicht erlangen kann. Die zielstaatsbezogene Gefahr für Leib und Leben besteht mithin auch dann,
wenn die notwendige Behandlung oder Medikation allgemein zur Verfügung steht, dem betroffenen Ausländer
individuell jedoch aus finanziellen oder sonstigen Gründen nicht zugänglich ist (BVerwG, Urt. v. 29.10.2002 - 1
C 1.02 - AuAS 2003, 106).
12 Diese Voraussetzungen liegen beim Kläger vor. Denn er ist, wie sich aus sämtlichen bislang vorgelegten
Attesten des Universitätsklinikums Freiburg (zuletzt dasjenige vom 5.11.2007) ergibt, in einer Weise an HIV
erkrankt, dass ein im Falle der Abschiebung nach Nigeria drohender Abbruch der die Krankheit zur Zeit
erfolgreich stabilisierenden antiretroviralen Kombinationstherapie (Dreifachkombination) zwangsläufig zum
Eintreten von typischen HIV-assoziierten Folgeerkrankungen führt, die dann - ohne entsprechende Behandlung
- innerhalb eines überschaubaren Zeitraums zum Siechtum und Tode des Klägers führen (vgl. zum Folgenden
bereits ausführlich: VG Freiburg, Urt. v. 18.9.2007 - A 1 K 822/06). So kann in Übertragung der Auskunft des
Universitätsklinikums Tübingen an das VG Stuttgart vom 9.5.2006 zu den Folgen des Abbruchs einer
antiretroviralen Kombinationstherapie davon ausgegangen werden, dass der Abbruch der zur Zeit in
Deutschland gewährten Kombinationstherapie beim Kläger zu einem raschen Absinken der CD-4-Helferzellen
und einem starken Ansteigen der Virusbelastung führen würde (vgl. ferner die ausführliche Darstellung des
Vorsitzenden der AIDS-Kommission der Kassenärztlichen Vereinigung Berlin [Basisinformationen zu HIV und
AIDS in Abschiebeverfahren], Asylmagazin 2000, 13 ff.). Der Immundefekt würde in absehbarer Zeit wieder
wirksam, mit der Folge, dass das Risiko der Erkrankung an lebensbedrohlichen Infektionen wie u.a.
Tuberkulose und Nierenversagen rapide ansteigt. Auch wenn hinsichtlich des zeitlichen Eintritts von solchen
Folgeerkrankungen und des von dieser verursachten Todes Bandbreiten von einem halben Jahr bis zu einigen
Jahren gegeben sein dürften, so stellt sich der tödliche Verlauf der Entwicklung des Gesundheitszustands des
Klägers ohne weitere medizinische Betreuung dennoch mit einer überschaubaren Zwangsläufigkeit ein.
13 Dabei hat der Kläger aufgrund seiner persönlichen Situation auch keine Möglichkeit, in Nigeria die Fortsetzung
der - allein lebenserhaltenden - antiretroviralen Therapie dauerhaft sicherzustellen. Zwar ist nach Auskünften
der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Lagos an das VG Stuttgart vom 27.4.2006 und einem Bericht
der Schweizerischen Flüchtlingshilfe vom 12.7.2006 zu den Behandlungsmöglichkeiten für Personen mit
HIV/AIDS davon auszugehen, dass in Nigeria die für die Fortsetzung der antiretroviralen Behandlung
notwendigen Laboreinrichtungen und Medikamente vorhanden sind und jedenfalls die Medikamente in allen
Bundesstaaten Nigerias teilweise kostenlos an bedürftige Kranke abgegeben werden. Allerdings ergibt sich aus
Bundesstaaten Nigerias teilweise kostenlos an bedürftige Kranke abgegeben werden. Allerdings ergibt sich aus
diesen Auskünften auch, dass die Laboruntersuchungen und die Medikamente in der weit überwiegenden Zahl
der Fälle selbst bezahlt werden müssen, da die kostenlose Versorgung mit Medikamenten auf landesweit
40.000 Personen beschränkt war, während die Anzahl der bedürftigen Patienten bei 520.000 liegt. Zudem ergibt
sich aus den Auskünften, dass die Kosten für die Medikamente sehr teuer sind und selbst bei einer
Behandlung in öffentlichen Krankenhäusern monatlich sechs Euro für das antiretrovirale Medikament sowie ca.
10 Euro monatlich für die Laboruntersuchung bezahlt werden müssen, so dass die meisten Patienten die
Behandlung aus Geldmangel unterbrechen müssen oder erst gar nicht antreten können, wenn sie nicht im
Umkreis der Familie über einen ausreichenden finanziellen Rückhalt verfügen.
14 Beim Kläger ist zur Überzeugung des Gerichts im Falle einer Rückkehr nach Nigeria eine Lebenssituation
gegeben, die es ihm nicht möglich macht, die in seinem Fall notwendige antiretrovirale Kombinationstherapie
zu erhalten. Ein wesentliches Hindernis würde beim Kläger schon darin bestehen, dass er an weiteren (nicht
HIV-assoziierten) Erkrankungen wie latentem Diabetes mellitus sowie arterieller Hypertonie leidet. Aus diesem
Grund ist mit hoher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass er, der ohnehin schon geschwächt ist, nicht in
der Lage wäre, den bestehenden Verteilungskampf unter den mittellosen HIV-Kranken in Nigeria um die
äußerst begrenzten kostenlosen Medikamente aufzunehmen und zu bestehen. Auch ist das Gericht davon
überzeugt, dass der Kläger in Nigeria über keinen familiären oder anderweitigen Rückhalt verfügt, der es ihm
ermöglichen würde, seine Behandlung dort faktisch und finanziell zu organisieren. Seine Einreise im Jahr 2003
war mit finanzieller Unterstützung seiner deutschen Ehefrau möglich, von der er mittlerweile jedoch getrennt
bzw. geschieden ist. Es liegt auf der Hand, dass ein etwaiger nachehelicher Unterhalt, sollte er überhaupt
geschuldet sein, letztlich rein tatsächlich nicht würde erbracht werden können. Das Gericht glaubt dem Kläger
schließlich auch, dass sein Bruder nicht in der Lage ist, mit dem Einkommen eines Händlers eine solch
außergewöhnliche Lebenssituation, wie sie in einer HIV-Erkrankung begründet liegt, aufzufangen. Glaubhaft ist
schließlich, dass der Bruder nichts von der Erkrankung des Klägers weiß. Selbst im Falle einer Offenbarung
wäre in keiner Weise sicher, ob die Familie helfen oder den Kläger nicht viel mehr - weil stigmatisiert durch
seine Erkrankung - verstoßen würde.
15 Da in Nigeria schätzungsweise zwischen 12 und 24 Mill. Einwohner an HIV infiziert sind und immerhin 520.000
Personen einer antiretroviralen Therapie bedürfen, ist die beim behandlungsbedürftigen Kläger gegebene
Gefahr, ohne weitere Behandlung in Nigeria an einer HIV-assoziierten Folgeerkrankung zu versterben, als eine
allgemeine Gefahr im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG anzusehen (so auch OVG Sachsen, Urt. v.
06.06.2005 - A 5 B 281/04 -). Allerdings stellt sich die dem Kläger drohende Entwicklung im Falle einer
Abschiebung nach Nigeria mit einer solchen Zwangsläufigkeit, dass das Gericht - ungeachtet der möglichen
Bandbreite des zeitlichen Eintritts des Todes - eine extreme Todesgefahr annimmt, die trotz der Sperrwirkung
des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG zugunsten einer politischen Abschiebeschutzentscheidung nach § 60a
AufenthG die Annahme eines individuellen Abschiebehindernisses rechtfertigt und fordert. Denn das Gericht
ist, wie oben näher ausgeführt, überzeugt, dass der Kläger mit höchster Wahrscheinlichkeit in Nigeria keine
Maßnahmen ergreifen kann, um die lebenserhaltende Therapie fortzuführen, so dass mit der Abschiebung und
dem damit gegebenen Abbruch der Therapie eine Kausalkette in Gang gesetzt wird, die dann zwangsläufig zu
einer Erkrankung des Klägers mit einer tödlichen HIV-assoziierten Folgeerkrankung in Nigeria führt. Dies kann
wegen des grundrechtlichen Schutzes aus Art. 1 Abs. 1 und 2 Abs. 2 GG auch über die Sperrwirkung des § 60
Abs. 7 Satz 2 AufenthG nicht mehr gerechtfertigt sein. Schließlich bedurfte es deshalb, um untragbare
Ergebnisse zu vermeiden, einer Abänderung der ursprünglich negativen Bundesamtsentscheidung.
16 Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO, 83 b AsylVfG.