Urteil des VG Freiburg vom 31.01.2007

VG Freiburg (deutsch, sprache, mutter, gespräch, bescheinigung, estland, familie, bundesrepublik deutschland, zeitpunkt, eltern)

VG Freiburg Urteil vom 31.1.2007, 2 K 1013/06
Familiärer Spracherwerb als Bekenntnis zum deutschen Volkstum.
Leitsätze
§ 15 Abs. 2 S. 2 BVFG n.F., wonach für eine Bescheinigung nach § 15 Abs. 1 BVFG ein Aufnahmebescheid nach eigenem Recht vorliegen muss, ist
auf Personen, die bis zum 31. Dezember 2004 als Abkömmling in den Aufnahmebescheid eines Elternteils einbezogen waren, nicht anwendbar.
Einzelfall einer hinreichenden familiären Vermittlung des Deutschen i.S.v. § 6 Abs. 2 BVFG, in dem die während der frühen Kindheit erworbenen
deutschen Sprachkenntnisse im Rahmen von jeweils dreimonatigen Sommerferienaufenthalten bei Deutsch sprechenden Verwandten bewahrt und
aktualisiert wurden.
Tenor
Der Bescheid des Regierungspräsidiums Karlsruhe vom 26. April 2006 wird aufgehoben. Der Beklagte - Regierungspräsidium Karlsruhe - wird
verpflichtet, der Klägerin die beantragte Bescheinigung nach § 15 Abs. 1 BVFG zu erteilen.
Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
Tatbestand
1
Die am ... Juli 1976 in Sillamäe / Estland geborene Klägerin begehrt eine Bescheinigung für Spätaussiedler nach § 15 Abs. 1 BVFG.
2
Unter dem 5. Mai 1997 stellte der Bevollmächtigte der Klägerin für diese beim Bundesverwaltungsamt Antrag auf Aufnahme nach dem BVFG.
Ausweislich Seite 5 des Antrags - Angaben zur Sprache - hat die Klägerin die deutsche Sprache ab dem 1. Lebensjahr von der Mutter sowie den
Großeltern mütterlicherseits sowie außerhalb des Elternhauses in der Schule (Deutsch als Fremdsprache) gelernt. Deutsch werde im engsten
Familienkreis jetzt häufig gesprochen.
3
Am 11. Januar 2000 wurde die Klägerin bei der Deutschen Botschaft in Tallinn angehört. Laut Protokoll gab die Klägerin an, die deutsche
Sprache sei ihr von den Großeltern mütterlicherseits und ihrer Mutter vermittelt worden; ferner habe sie Deutsch am Wirtschaftsinstitut (3 Jahre, 2
Stunden pro Woche) gelernt. Unter 1.3 (Erziehung und Kultur) wurde u.a. vermerkt, die Klägerin habe angegeben, etwa bis zum 5. Lebensjahr
Gelegenheit gehabt zu haben, Deutsch zu sprechen. In Estland habe sie mit ihrer Mutter bis Anfang der 90er Jahre aus Angst fast kein Deutsch
gesprochen. Unter 2.2 (Sprachvermögen) wurde ausgeführt, die Klägerin habe sich nur auf sehr einfache Weise in deutscher Sprache
verständlich machen können. Sie spreche ohne erkennbare Dialektkenntnisse. Außer bei Sätzen, die wie auswendig gelernt geklungen hätten,
könne sie meist nur mit einzelnen Stichworten antworten, unbekannte Vokabeln könne sie nicht umschreiben und ein wirklicher Dialog sei nicht
möglich gewesen. Die deutschen Sprachkenntnisse der Klägerin wurden mit Kategorie IV („Ein Gespräch kam nicht zustande. Die gestellten
Fragen wurden zwar verstanden, jedoch konnte sich der Antragsteller nur bruchstückhaft (keine zusammenhängenden Sätze, aber mehr als
einzelne Wörter) in deutscher Sprache verständlich machen. Eine Verständigung war ohne Sprachmittler möglich.“) bewertet.
4
Unter dem 27. März 2000 erteilte das Bundesverwaltungsamt - Außenstelle Bramsche - der Klägerin und ihrer 1998 geborenen Tochter einen
Einbeziehungsbescheid als Abkömmlinge der X, Mutter der Klägerin.
5
Mit Bescheid vom selben Tag wurde der Aufnahmeantrag der Klägerin abgelehnt. Zur Begründung wurde ausgeführt, die Klägerin beherrsche
die deutsche Sprache nicht im erforderlichen Umfang. Aus der Anhörung am 11. Januar 2000 habe sich ergeben, dass die Klägerin die deutsche
Sprache weder als Muttersprache noch als bevorzugte Umgangssprache beherrsche. Ein Gespräch im dialogischen Sinn sei nicht zustande
gekommen, Dialektkenntnisse seien nicht erkennbar und sie habe nur bis zu ihrem 5. Lebensjahr Deutsch gesprochen. Daraus ergebe sich,
dass bisher einer anderen Sprache im täglichen Leben der Familie der Vorzug gegeben worden sei. Die Klägerin hat gegen diesen Bescheid
keine Rechtsbehelfe eingelegt.
6
Am 20. Juni 2000 reiste die Klägerin ins Bundesgebiet ein.
7
Am 3. August 2000 fand in Torgau eine weitere Anhörung der Klägerin statt. Ausweislich des Anhörungsprotokolls gab sie dort an, als Kind
Deutsch „bis 4 Jahre mit Oma und Opa“ sowie Russisch gelernt zu haben. Ferner gab sie an, von Großvater und Großmutter mütterlicherseits
sowie ihrer Mutter die deutsche Sprache „etwas“ vermittelt bekommen zu haben sowie außerhalb des Elternhauses „gelernt in der Hochschule (3
Jahre)“. Unter 2.2 (Sprachvermögen) wurde vermerkt, die Klägerin habe die Fragen immer nur bruchstückhaft mit einzelnen Wörtern beantwortet,
Dialektform sei nicht erkennbar. Sie habe zugegeben, dass ihr Deutsch doch nur mehr Schuldeutsch sei. Die deutschen Sprachkenntnisse der
Klägerin wurden mit Kategorie II („Ein Gespräch war trotz gelegentlicher Mängel (bei Wortwahl, Grammatik, Satzbau, Sprachfluß) problemlos
möglich. Ein Sprachmittler war nicht erforderlich.“) beurteilt.
8
Unter dem 3. August 2000 beantragte die Klägerin die Ausstellung einer Bescheinigung für Ehegatten und Abkömmlinge eines Spätaussiedlers
nach § 15 Abs. 2 BVFG, die ihr unter dem 19. Dezember 2000 durch das Landratsamt Torgau-Oschatz erteilt wurde.
9
Mit Schreiben vom 19. Oktober 2005 beantragte die Klägerin die Erteilung einer Spätaussiedlerbescheinigung gem. § 15 Abs. 1 BVFG. Die
Klägerin sei deutsche Volkszugehörige. Sie stamme von einer deutschen Volkszugehörigen ab, habe sich durch Eintragung im Inlandspass zur
deutschen Volkszugehörigkeit bekannt und sei aufgrund der Benutzung der Sprache in der Familie in der Lage gewesen, im Zeitpunkt der
Einreise ein einfaches Gespräch in Deutsch zu führen.
10 Der Antrag wurde mit Bescheid des Regierungspräsidiums Karlsruhe vom 26. April 2006 abgelehnt. Nach neuem Recht seien Höherstufungen
ohne Aufnahmebescheid vom Bundesverwaltungsamt nicht mehr zulässig (§ 15 Abs. 2 S. 2 BVFG). Die Klägerin verfüge jedoch nicht über einen
eigenen Aufnahmebescheid.
11 Die Klägerin hat am 26. Mai 2006 Klage erhoben. Sie sei im Wege des Aufnahmeverfahrens in die Bundesrepublik Deutschland eingereist und
erfülle die Voraussetzung des § 4 Abs. 1 BVFG. Sie stamme ferner von einer deutschen Volkszugehörigen, nämlich ihrer Mutter, ab. Sie habe von
ihrer Mutter und ihren Großeltern die deutsche Sprache in der Familie erlernt und sei im Zeitpunkt der Einreise in der Lage gewesen, ein
einfaches Gespräch zu führen. Sie habe sich auch immer zum deutschen Volkstum bekannt. Bis kurz vor der Einschulung habe die Klägerin mit
ihren Großeltern und ihrer Mutter nur deutsch gesprochen. Zu diesem Zeitpunkt habe sie die deutsche Sprache genauso beherrscht wie diese.
Danach habe sie natürlich weniger deutsch gesprochen, da der Schulunterricht ausschließlich in russischer Sprache abgelaufen sei. Aber auch
danach habe sie weiterhin mit ihrer Mutter deutsch gesprochen.
12 Die Klägerin beantragt,
13
den Bescheid des Regierungspräsidiums Karlsruhe vom 26. April 2006 aufzuheben und den Beklagten - Regierungspräsidium Karlsruhe -
zu verpflichten, der Klägerin die beantragte Bescheinigung nach § 15 Abs. 1 BVFG zu erteilen.
14 Der Beklagte beantragt,
15
die Klage abzuweisen.
16 Nach § 15 Abs. 2 S. 2 BVFG könne eine Bescheinigung nach § 15 Abs. 1 BVFG nur ausgestellt werden, wenn die Erteilung eines
Aufnahmebescheids beantragt und nicht bestands- oder rechtkräftig abgelehnt worden sei. Die Aufnahme der Klägerin als Spätaussiedlerin sei
bestandskräftig abgelehnt worden, da ein einfaches Gespräch auf Deutsch im dialogischen Sinn nicht zustande gekommen sei. Damit stehe fest,
dass die Klägerin das Aussiedlungsgebiet nicht im Wege des Aufnahmeverfahrens nach § 4 Abs. 1 BVFG verlassen habe. Die Klägerin erfülle
auch materiell nicht die Voraussetzungen als Spätaussiedlerin nach § 4 Abs. 1 BVFG. Die familiäre Vermittlung der deutschen Sprache werde als
bestätigendes Merkmal des Bekenntnisses zum deutschen Volkstum gefordert. Dieses sei nur festgestellt, wenn jemand im Zeitpunkt der
Aussiedlung aufgrund dieser Vermittlung zumindest ein einfaches Gespräch auf Deutsch führen könne. Nach den Feststellungen des
Bundesverwaltungsamts sei ein einfacher Dialog mit der Klägerin nicht möglich gewesen, Fragen seien nicht verstanden, Antworten nur
bruchstückhaft gegeben worden. Eine familiäre Vermittlung der Sprache sei nicht erfolgt. Nach eigenen Angaben handele es sich um
Schuldeutsch, hätten Mutter und Großeltern nur bis zum 4. Lebensjahr Deutsch gesprochen und habe die Klägerin Deutsch 3 Jahre lang an der
Hochschule erlernt. Eine Vermittlung der deutschen Sprache bis zur Selbständigkeit sei nicht erfolgt.
17 Mit Beschluss vom 21. Dezember 2006 hat die Kammer den Antrag der Klägerin auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung ihres
Bevollmächtigten, Rechtsanwalt Y, Freiburg, abgelehnt. Mit Beschluss vom 23. Januar 2007 hat die Kammer der Beschwerde der Klägerin
abgeholfen, der Klägerin Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlung bewilligt und Rechtsanwalt Y, Freiburg als Bevollmächtigten beigeordnet.
18 In der mündlichen Verhandlung am 31. Januar 2007 wurde die Klägerin informatorisch zum Erlernen der deutschen Sprache angehört. Ferner
wurde die die Mutter der Klägerin, Z, als Zeugin zum Gebrauch der deutschen Sprache innerhalb der Familie vernommen.
19 Dem Gericht haben die einschlägigen Verwaltungsakten (1 Heft) vorgelegen. Darauf sowie auf die Gerichtsakte wird wegen der weiteren
Einzelheiten verwiesen.
Entscheidungsgründe
20 Die als Verpflichtungsklage gem. §§ 40, 42 VwGO zulässige Klage ist begründet. Der Bescheid des Regierungspräsidiums Karlsruhe vom 26.
April 2006 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten; das beklagte Land - Regierungspräsidium Karlsruhe - ist verpflichtet, der
Klägerin die beantragte Bescheinigung nach § 15 Abs. 1 BVFG zu erteilen (§ 113 Abs. 5 S. 1 VwGO).
21 Dahinstehen kann, ob vorliegend Gründe für ein Wiederaufgreifen des Verfahrens i.S.d. § 51 Abs. 1 LVwVfG vorgelegen haben, da das
Regierungspräsidium Karlsruhe auf den Antrag der Klägerin hin das Verfahren tatsächlich wiederaufgegriffen und in der Sache entschieden hat.
22 Die Klägerin hat einen Anspruch auf eine Bescheinigung nach § 15 Abs. 1 BVFG, denn sie ist Spätaussiedlerin i.S.d. § 4 Abs. 1 BVFG.
I.
23 Einem Anspruch der Klägerin auf Ausstellung einer Bescheinigung nach § 15 Abs. 1 BVFG steht nicht bereits entgegen, dass ihr Antrag auf
Erteilung eines Aufnahmebescheides mit Bescheid des Bundesverwaltungsamts am 27. März 2000 bestandskräftig abgelehnt worden und sie
auf der Grundlage eines Einbeziehungsbescheids vom 27. März 2000 als Abkömmling der X (jetzt Y), Mutter der Klägerin, ins Bundesgebiet
eingereist ist.
24 Zwar regelt § 15 Abs. 2 S. 2 BVFG in der durch Art. 6 Ziff. 4. b) des Gesetzes zur Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung und zur Regelung
des Aufenthalts und der Integration von Unionsbürgern und Ausländern (v. 30.7.2004 - Zuwanderungsgesetz - BGBl. I S. 1950) eingefügten, ab
dem 1. Januar 2005 geltenden Fassung diesbezüglich, dass eine Bescheinigung nach Absatz 1 nur ausgestellt werden kann, wenn die Erteilung
eines Aufnahmebescheides beantragt und nicht - wie bei der Klägerin der Fall - bestands- oder rechtskräftig abgelehnt worden ist. Auch steht die
Formulierung der Anwendungsvorschrift des § 100b Abs. 2 BVFG in ihrer letztlich verabschiedeten Fassung - anders als der Gesetzentwurf
(Drucksache 17/240 v. 7.2.2003) - einer Anwendung der materiellen Regelung des § 15 Abs. 2 S. 2 BVFG n.F. auch auf Personen, die, wie die
Klägerin, vor dem 1. Januar 2005 in den Erstaufnahmeeinrichtungen des Bundes registriert wurden, nicht entgegen, denn sie trifft eine
Übergangsregelung nur hinsichtlich des Verfahrens, indem sie bestimmt, dass es bei einer Registrierung vor dem 1. Januar 2005 bei der
bisherigen Zuständigkeit der Bundesländer verbleibt. Allerdings entsteht der Spätaussiedlerstatus durch Vorliegen der Voraussetzungen bei der
Einreise kraft Gesetzes; die Ausstellung einer Bescheinigung gemäß § 15 Abs. 1 BVFG ist deklaratorisch (BVerwG, Urt. v. 12.3.2002 - 5 C 28/01 -
in juris; v. Schenckendorff, Vertriebenen- und Flüchtlingsrecht, B 2 § 15 BVFG n.F. Ziff. 4 a)). Eine Anwendung des § 15 Abs. 2 S. 2 BVFG n.F. auf
diesen Personenkreis bedeutete, dass ein unter der alten Rechtslage bereits entstandener Status eines Spätaussiedlers durch neu erlassene
Vorschriften hinfällig würde. Dass eine solche echte - retroaktive - Rückwirkung hier ausnahmsweise zulässig sein könnte, ist nicht ersichtlich
(vgl. VG Ansbach, Urt. v. 22.6.2005 - AN 15 K 04.02834 -). § 15 Abs. 2 S. 2 BVFG ist daher im Falle der Klägerin nicht anwendbar.
II.
25 Die Voraussetzungen des § 15 Abs. 1 BVFG sind vorliegend gegeben. Nach der maßgeblichen, ab dem 1. Januar 1993 geltenden Fassung des
§ 15 Abs. 1 BVFG erhalten Spätaussiedler zum Nachweis ihrer Spätaussiedlereigenschaft auf Antrag eine Bescheinigung. Spätaussiedler ist
nach § 4 Abs. 1 BVFG in der Regel ein deutscher Volkszugehöriger, der die Republiken der ehemaligen Sowjetunion, Estland, Lettland oder
Litauen nach dem 31. Dezember 1992 im Wege des Aufnahmeverfahrens verlassen und innerhalb von sechs Monaten im Geltungsbereich des
Gesetzes seinen ständigen Aufenthalt genommen hat, wenn er zuvor unter bestimmten Voraussetzungen seinen Wohnsitz in den
Aussiedlungsgebieten hatte
(1)
von einem deutschen Staatsangehörigen oder deutschen Volkszugehörigen abstammt und er sich bis zum Verlassen der Aussiedlungsgebiete
nur zum deutschen Volkstum bekannt hat oder nach dem Recht des Herkunftsstaates zur deutschen Nationalität gehört hat
(2)
nur zum deutschen Volkstum oder die rechtliche Zuordnung zur deutschen Nationalität muss gemäß § 6 Abs. 2 S. 2 BVFG bestätigt werden durch
die familiäre Vermittlung der deutschen Sprache; die Vermittlung der deutschen Sprache lässt sich nur bei demjenigen feststellen, der im
Zeitpunkt der Aussiedlung auf Grund dieser Vermittlung zumindest ein einfaches Gespräch auf Deutsch führen kann (§ 6 Abs. 2 S. 3 BVFG)
(3)
26
(1)
Geltungsbereich des Gesetzes ihren ständigen Aufenthalt genommen; unerheblich ist in diesem Zusammenhang, das die Klägerin nicht mit
eigenem Aufnahmebescheid, sondern aufgrund der Einbeziehung in den Aufnahmebescheid ihrer Mutter gem. § 27 Abs. 1 S. 2 BVFG ins
Bundesgebiet eingereist ist, denn der Begriff des Verlassens der Aussiedlungsgebiete „im Wege des Aufnahmeverfahrens“ umfasst alle nach §
27 BVFG möglichen Verfahrensgestaltungen (v. Schenckendorff, aaO., § 15 BVFG n.F. Ziff. 4 b), m.w.N.).
27
(2)
Volkszugehörigen, ihrer Mutter Z, ab. Auch hat sie sich bis zum Verlassen der Aussiedlungsgebiete zu ihrem deutschen Volkstum bekannt. In
ihren 1992 ausgestellten sowjetischen Inlandspass hat sie, obwohl ihr Vater Russe, sie selbst folglich gemischt-nationaler Abstammung ist, als
Nationalität „deutsch“ eintragen lassen, seit 1998 war sie Mitglied der Deutschen Gesellschaft in Sillamäe.
28
(3)
ferner davon überzeugt, dass die Klägerin im Zeitpunkt der Aussiedlung in der Lage gewesen ist, ein einfaches Gespräch auf Deutsch zu führen
(a)
29
(a)
Interaktion die Fähigkeit des Hörverstehens und mündlichen Ausdrucks voraus. Das Gespräch ist gegenseitige sprachliche, also nicht gestische
Verständigung. Dabei ist nicht ausreichend ein nur punktuelles Sich-verständlich-Machen oder eine nur punktuelle Antwort. Vielmehr setzt ein
Gespräch einen, wenn auch einfachen und begrenzten, Gedankenaustausch zu einem Thema, also innerhalb eines Gesprächskontextes voraus.
Für die Fähigkeit, ein einfaches Gespräch auf Deutsch zu führen, muss sich der Antragsteller über einfache Lebenssachverhalte aus dem
familiären Bereich (z. B. Kindheit, Schule, Sitten und Gebräuche), über alltägliche Situationen und Bedürfnisse (Wohnverhältnisse, Einkauf,
Freizeit, Reisen, Wetter u. ä.) oder die Ausübung eines Berufs oder einer Beschäftigung - ohne dass es dabei auf exakte Fachbegriffe ankäme -
unterhalten können. In formeller Hinsicht genügt für ein einfaches Gespräch eine einfache Gesprächsform. Dafür sind nicht ausreichend das
Aneinanderreihen einzelner Worte ohne Satzstruktur oder insgesamt nur stockende Äußerungen. Andererseits muss ein Antragsteller aber auch
weder über einen „umfassenden deutschen Wortschatz“ verfügen noch in grammatikalisch korrekter Form bzw. ohne gravierende
grammatikalische Fehler sprechen können, noch eine deutlich über fremdsprachlich erworbene hinausgehende Sprachfähigkeit besitzen.
Erforderlich ist zum einen die Fähigkeit zu einem sprachlichen Austausch über die o. g. Sachverhalte in ganzen Sätzen, wobei begrenzter
Wortschatz und einfacher Satzbau genügen und Fehler in Satzbau, Wortwahl und Aussprache nicht schädlich sind, wenn sie nach Art oder Zahl
dem richtigen Verstehen nicht entgegenstehen. Erforderlich ist zum anderen ein einigermaßen flüssiger Austausch in Rede und Gegenrede. Ein
durch Nichtverstehen bedingtes Nachfragen, Suchen nach Worten oder stockendes Sprechen, also ein langsameres Verstehen und Reden als
zwischen in Deutschland aufgewachsenen Personen, steht dem erst entgegen, wenn Rede und Gegenrede soweit oder so oft auseinander
liegen, dass von einem Gespräch als mündlicher Interaktion nicht mehr gesprochen werden kann (vgl. auch VGH Bad.-Württ., Urteil vom
26.7.2002 - 6 S 1066/01 -, in juris).
30 Die Kammer ist davon überzeugt, dass die Klägerin im Zeitpunkt ihrer Aussiedlung im Juni 2000 in der Lage gewesen ist, ein einfaches
Gespräch in deutscher Sprache in diesem Sinne zu führen. Dies ergibt sich aus den beiden Anhörungsprotokollen (v. 11.1.2000 in Tallinn und v.
3.8.2000 in Torgau). Die Klägerin antwortete zwar meist in kurzen und einfachen, grammatikalisch nicht fehlerfreien Sätzen. Sie verstand jedoch
die ihr gestellten Fragen ganz überwiegend und war zu einem, wenn auch begrenzten und einfachen, sprachlichen Austausch im Sinne der
BVerwG-Rechtsprechung in der Lage. So gab sie beispielsweise auf die Bitte, etwas über ihre Heimatstadt zu erzählen, an: „Ist eine Stadt, ca.
20.000 Einwohner, ist ein Fluss. Ort liegt an der Ostsee, es gibt einen Park, Wald“, und auf die Frage, welcher Religion sie angehöre, antwortete
sie: “Ich bin katholisch, meine Tochter und mein Ehemann ist katholisch“ (jew. Protokoll 3.8.2000). In der zusammenfassenden Bewertung kam
der Anhörer bei der Anhörung vom 11. Januar 2000 zu dem Ergebnis, die Klägerin könne sich „nur auf sehr einfache Weise in deutscher
Sprache verständlich machen“, ein „wirklicher Dialog“ zu verschiedenen Themen sei „nicht möglich“ gewesen, und die Sprachkenntnisse wurden
mit der vierten (von sechs) Kategorien bewertet. Andererseits wurde der Klägerin im Protokoll vom 3. August 2000 bescheinigt, ein Gespräch sei
„trotz gelegentlicher Mängel (bei Wortwahl, Grammatik, Satzbau, Sprachfluß) problemlos möglich“ gewesen, und ihre Sprachkenntnisse wurden
in der zweitobersten Kategorie angesiedelt. Vor dem Hintergrund dieser widersprüchlichen zusammenfassenden Bewertungen in den
Anhörungsprotokollen geht die Kammer bei einer eigenen Würdigung der protokollierten Fragen und Antworten davon aus, dass die Klägerin
zwar nicht die strengen Voraussetzungen erfüllte, die das Bundesverwaltungsamt im ablehnenden Bescheid vom 27. März 2000 an das
Sprachvermögen der Klägerin gestellt hat - Beherrschen des Deutschen als Muttersprache oder bevorzugte Umgangssprache -, dass sie bei
ihrer Einreise aber in der Lage gewesen ist, ein einfaches Gespräch in deutscher Sprache zu führen, wie es im Rahmen des § 6 Abs. 2 BVFG
ausreichend ist.
31
(b)
Mutter als Zeugin ferner, dass ihr jedenfalls die wesentlichen Grundlagen dieser Sprachkenntnisse familiär vermittelt worden sind und nicht auf
dem mehrjährigen fremdsprachlichen Unterricht während ihres Studiums an der Akademie (2 Wochenstunden) beruhen (anders noch der nach
Aktenlage ergangene PKH-Beschluss v. 21.12.2006).
32 § 6 Abs. 2 S. 3 BVFG setzt voraus, dass die Fähigkeit, ein einfaches Gespräch auf Deutsch zu führen, gerade auf familiärer - und nicht etwa
schulischer - Vermittlung beruht. Das ergibt sich aus dem Wortlaut, der Verknüpfung von Ursache (familiärer Vermittlung) und Wirkung (Fähigkeit,
ein einfaches Gespräch auf Deutsch zu führen) und dem systematischen Zusammenhang zwischen den Sätzen 2 und 3 des § 6 Abs. 2 BVFG
(vgl. BVerwG, Urt. v. 4.9.2003 - 5 C 33/02 - in juris, m.w.N.). Die familiäre Vermittlung der deutschen Sprache während der Prägephase, die mit
dem Säuglingsalter beginnt und mit der Selbständigkeit endet (BVerwG, Urt. v. 19.10.2000 - 5 C 37/99 - in juris), muss solange gedauert haben,
bis das zum Führen eines einfachen Gesprächs auf Deutsch erforderliche Sprachniveau erreicht ist (BVerwG, Urt. v. 4.9.2003 - 5 C 33/02 - in
juris). Dagegen muss die familiäre Vermittlung des Deutschen - d.h. die Vermittlung durch die Eltern, ein Elternteil oder andere Verwandte (VGH
Bad.-Württ., Urt. v. 5.2.2003 - 6 S 2060/02 - in juris) - nicht der einzige Grund für die sprachlichen Fähigkeiten des Betroffenen im Zeitpunkt der
Aussiedlung sein. Der zusätzliche außerfamiliäre Spracherwerb ist vielmehr unschädlich, wenn nur die familiäre Vermittlung der Grund für die
Fähigkeit zu einem einfachen Gespräch ist. Solange diese Kausalität nicht völlig unterbrochen wird, während der Prägungsphase erworbene
Deutschkenntnisse bis zur Aussiedlung vielmehr in nennenswertem Umfang fortbestehen, ist es als unschädlich anzusehen, wenn die
Kenntnisse sich nach Abschluss der Prägephase verschlechtern und durch Sprachkurse aufgefrischt und aktualisiert werden. Auch in diesem
Falle beruht die Fähigkeit zum Führen eines einfachen Gesprächs auf Deutsch ursächlich auf der familiären Sprachvermittlung. Ein Teil der
sprachlichen Fähigkeiten ist dann eben nur nicht mehr aktiv, sondern passiv vorhanden (vgl. VGH München, Urt. v. 17.7.2006 - 11 B 05.3183 - in
juris; OVG NRW, Urt. v. 12.5.2005 - 14 A 349/04 -, in juris; VGH Bad.-Württ., Urt. v. 5.2.2003 - 6 S 2060/02 - in juris; jew. m.w.N.).
33 Zur Überzeugung des Gerichts nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme hat die Klägerin ihr ausreichendes Sprachniveau in der Kindheit und
Jugend im familiären Umfeld erworben und später an der Akademie in rechtlich unschädlicher Weise lediglich aufgefrischt.
34 Nach den glaubhaften Angaben der Klägerin und ihrer Mutter hatte die Klägerin bis zum Alter von 5 Jahren in Estland recht häufig innerhalb der
Familie Gelegenheit, Deutsch zu sprechen. Denn in dieser Zeit lebte für etwa 2 Jahre die Großmutter mütterlicherseits, die praktisch kein
Russisch verstand, im Haushalt der Familie der Klägerin. Es ist daher nachvollziehbar, dass die Klägerin in dieser frühen Phase immer wieder -
mit ihrer Großmutter und dadurch auch mit ihrer Mutter - Deutsch gesprochen hat, auch wenn bei Anwesenheit ihres Vaters Russisch die
bevorzugte Sprache war und sie in einen russischen Kindergarten ging. Nach dem Tod der Großmutter 1982 und damit dem Wegfall der
Notwendigkeit, Deutsch zu sprechen, nahm in einem überwiegend russisch geprägten Umfeld ohne Kontakt zu anderen Deutschen der
Gebrauch des Deutschen sicherlich auch innerhalb der Familie ab, auch wenn die Klägerin und ihre Mutter in der mündlichen Verhandlung
mehrfach betonten, sich immer wieder „ganz normal“ auf Deutsch unterhalten zu haben.
35 Entscheidend für die Prägung der Klägerin und die Vermittlung der deutschen Sprache auch über die frühe Kindheit der Klägerin hinaus waren
nach Überzeugung der Kammer jedoch ihre wiederholten Aufenthalte bei ihren Verwandten in Kasachstan. Wie die Klägerin im Rahmen ihrer
Anhörung - bestätigt durch die Angaben ihrer Mutter - berichtete, wurde sie zusammen mit ihrer älteren Schwester jedes Jahr im Sommer zu
Beginn der Sommerferien nach Kasachstan gebracht, wo neben ihren Großeltern mütterlicherseits drei Schwestern ihrer Mutter mit ihren
Familien lebten und wo sie jeweils drei Monate lang - in den Anfangsjahren bei ihren Großeltern, später bei einer Schwester ihrer Mutter -
wohnte. Wie die Klägerin anschaulich schilderte, sprachen ihre Verwandten, die inzwischen alle in Deutschland sind, untereinander und mit ihr
nur Deutsch, mit der Folge, dass sie nach ihrer Rückkehr nach Estland jedes Mal wochenlang Schwierigkeiten hatte, bis sie sich wieder in der
russischen Sprache zuhause fühlte. Auf diese Weise verbrachte die Klägerin bis zu ihrem 10. Lebensjahr jeweils etwa ¼ des Jahres in einem
Deutsch sprechenden Umfeld und war auch in der Folge zwei weitere Male (mit 12 oder 13 Jahren und mit 15 Jahren) für 3 oder 4 Monate bei
ihren Verwandten in Kasachstan. Vor diesem Hintergrund ist es nachvollziehbar, dass die Klägerin zuhause mit ihrer Mutter auch nach dem Tod
der Großmutter zumindest gelegentlich Deutsch gesprochen hat. Auch wenn im Anhörungsprotokoll vom 11. Januar 2000 die Angabe der
Klägerin, sie habe in Estland mit ihrer Mutter fast kein Deutsch gesprochen, vermerkt ist - eine Aussage, von der die Klägerin in der mündlich
Verhandlung angab, sie sich nicht erklären zu können -, wäre es durchaus lebensfremd anzunehmen, die Klägerin habe sich nach
dreimonatigem intensivem Gebrauch der deutschen Sprache in Kasachstan nach ihrer Rückkehr nach Estland jeweils von heute auf morgen
auch gegenüber ihrer Mutter vollständig vom Deutschen ab- und dem Russischen zugewandt.
36 Bei einer Gesamtwürdigung aller Umstände ist die Kammer daher zu der Überzeugung gelangt, dass der durch die regelmäßigen Besuche der
Klägerin bei ihrer Verwandtschaft in Kasachstan ermöglichte wiederholte intensive Kontakt mit der deutschen Sprache bis zum Alter von 15
Jahren und der zumindest gelegentliche Gebrauch der deutschen Sprache in Estland mit ihrer Mutter und seit etwa 1990 auch mit deutschen
Bekannten zu einem hinreichend kontinuierlichen Spracherwerb der Klägerin geführt und ihr so eine Basis geschaffen haben, die sie in die Lage
versetzt hat, das so Erworbene zu bewahren. Auch wenn die Klägerin im Erwachsenenalter über mehrere Jahre Sprachkurse an der Akademie
besucht hat, ist daher davon auszugehen, dass zumindest der Grundstock der jetzt bei ihr vorhandenen Sprachkenntnisse in der Familie gelegt
worden sein muss.
III.
37 Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Berufung ist nicht zuzulassen, da kein Berufungszulassungsgrund vorliegt (§§ 124a
Abs. 2, 124 Abs. 2 VwGO).