Urteil des VG Freiburg vom 19.07.2010

VG Freiburg (antragsteller, wiederherstellung der aufschiebenden wirkung, verfügung, einreise, antrag, öffentliches interesse, öffentliche ordnung, aug, rumänien, gesellschaft)

VG Freiburg Beschluß vom 19.7.2010, 5 K 762/10
Verlust des Freizügigkeitsrechts
Leitsätze
1. Der Verlust des Freizügigkeitsrechts auf Einreise und Aufenthalt kann auch dann festgestellt werden, wenn der
EU-Bürger nur eine Freizügigkeitsberechtigung für Kurzaufenthalte nach § 2 Abs. 5 FreizügG/EU besitzt.
2. Die Verlustfeststellung wird nicht rechtswidrig, wenn der Betroffene diese Freizügigkeitsberechtigung vor Erlass
der gerichtlichen Entscheidung verliert.
Tenor
Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung von Rechtsanwältin F., M., wird abgelehnt.
Der Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz wird abgelehnt.
Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens.
Der Streitwert wird auf 2.500,00 EUR festgesetzt.
Gründe
1
Dem Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung einer Rechtsanwältin ist nicht
stattzugeben, da der Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz, wie sich aus den nachstehenden Ausführungen
ergibt, keine hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet (§§ 166 VwGO, 114, 121 Abs. 2 ZPO).
2
Die Kammer legt den Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz sachdienlich als Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO
aus (§ 88 VwGO), gerichtet auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Klage des Antragstellers (5
K 765/10) gegen die vom Regierungspräsidium Freiburg in dessen Verfügung vom 07.04.2010 unter Ziff. I
getroffene Feststellung, dass der Antragsteller das Freizügigkeitsrecht auf Einreise und Aufenthalt verloren
habe, sowie auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die Androhung der Abschiebung nach
Rumänien oder einen anderen Aufnahmestaat (Ziff. II).
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Der so ausgelegte Antrag ist zulässig, hat aber keinen Erfolg.
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Die Kammer hält es bei der gegebenen Sach- und Rechtslage nicht für geboten, dem Antragsteller den
erstrebten vorläufigen Rechtsschutz nach § 80 Abs. 5 VwGO zu gewähren. Dem Interesse des Antragstellers,
von der Vollziehung der Verfügung vom 07.04.2010 einstweilen verschont zu bleiben, kommt gegenüber dem
besonderen öffentlichen Interesse an einer sofortigen Vollziehbarkeit der verfügten ausländerrechtlichen
Maßnahmen kein Vorrang zu. Denn an der Rechtmäßigkeit der angegriffenen Verfügung bestehen keine
ernstlichen Zweifel. Auch besteht ein besonderes öffentliches Interesse an der sofortigen Vollziehung der
Feststellung des Verlustes des Freizügigkeitsrechts auf Einreise und Aufenthalt, das über das öffentliche
Interesse hinausgeht, das diese Maßnahme als solche rechtfertigt. Die Vollziehung der Verfügung hat für den
Antragsteller schließlich auch keine unbillige, nicht durch überwiegende öffentliche Interessen gebotene Härte
zur Folge (§ 80 Abs. 4 Satz 3 VwGO in entspr. Anwendung).
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Die Feststellung des Verlustes des Freizügigkeitsrechts auf Einreise und Aufenthalt lässt nach der im
vorliegenden Verfahren gebotenen summarischen Prüfung keine Rechtsfehler erkennen. Das
Regierungspräsidium Freiburg hat in der angefochtenen Verfügung mit ausführlicher und zutreffender
Begründung dargelegt, dass der Antragsteller den Verlusttatbestand nach § 6 Abs. 1 FreizügG/EU erfüllt. Auf
die diesbezüglichen Ausführungen in der angefochtenen Verfügung verweist die Kammer zur Vermeidung von
Wiederholungen (§ 117 Abs. 5 VwGO).
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Ergänzend merkt die Kammer an, dass der Anwendung von § 6 Abs. 1 FreizügG/EU nicht entgegen stehen
dürfte, dass der Antragsteller zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung keinen Freizügigkeitstatbestand
nach § 2 Abs. 1 i.V.m. Abs. 2 und 5 FreizügG/EU erfüllen dürfte, da er sich weder als Arbeitnehmer oder
Arbeitssuchender im Bundesgebiet aufgehalten hat bzw. aufhält (§ 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU), nicht als
Selbstständiger i.S.v. § 2 Abs. 2 Nr. 2 und 3 FreizügG/EU bzw. als Dienstleistungsempfänger i.S.v. § 2 Abs. 2
Nr. 4 FreizügG/EU anzusehen sein dürfte, noch die Voraussetzungen von i.S.v. § 2 Abs. 2 Nr. 5, § 4
FreizügG/EU - mangels Mitteln - erfüllen dürfte, und derzeit auch nicht über gültige Personalpapiere i.S.v. § 2
Abs. 5 FreizügG/EU verfügt.
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Nach Auffassung der Kammer dürfte § 6 Abs. 1 FreizügG/EU jedenfalls dann anwendbar sein, wenn der
Unionsbürger bei seiner Einreise bzw. während seines Aufenthaltes einmal freizügigkeitsberechtigt war -
unabhängig davon, ob diese (oder eine andere) Berechtigung zum Zeitpunkt des Erlasses der Verfügung nach
§ 6 Abs. 1 FreizügG/EU bzw. zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung noch besteht (noch weitergehend
Hailbronner, Ausländerrecht, § 6 FreizügG/EU Rn. 7).
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Dass der Antragsteller zumindest zum Zeitpunkt seiner Einreise und in den darauf folgenden drei Monaten über
ein (auf seine Unionsbürgerschaft gründendes) Aufenthaltsrecht verfügte, ergibt sich aus der durch das
Richtlinienumsetzungsgesetz 2007 in § 2 FreizügG/EU aufgenommenen Regelung in dessen Absatz 5, der
materiell ein Recht auf Kurzaufenthalt enthält, das zu den Freizügigkeitsrechten nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU
zählt (Epe, in GK-AufenthG, § 2 FreizügG/EU Rn. 143). Daher ist § 6 Abs. 1 FreizügG/EU auch bei
Kurzaufenthaltsberechtigten anwendbar (Epe, aaO., § 2 FreizügG/EU Rn. 143).
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Es erscheint sachgerecht, in Fällen, in denen der Unionsbürger nach seiner Einreise - wie der Antragsteller -
die öffentliche Ordnung (im gemeinschaftsrechtlichen Sinne) stört, festzustellen, dass der Unionsbürger sich
künftig nicht mehr auf sein Freizügigkeitsrecht berufen kann, denn damit wird über § 7 Abs. 2 Satz 1
FreizügG/EU eine - der Ausweisung entsprechende - Sperrwirkung erreicht. Diese Sperrwirkung käme nicht
zum Tragen, wenn eine bloße Feststellung des Nichtbestehens der Freizügigkeit ausgesprochen würde (in
Rspr. und Lit. ist jene Maßnahme anerkannt, wenngleich ihre genaue Rechtsgrundlage - in § 7 Abs. 1
FreizügG/EU und/oder § 5 Abs. 5 FreizügG/EU analog - nicht eindeutig geklärt ist, vgl. dazu Hoppe, HTK-
AuslR/§ 7 FreizügG/EU/zu Abs. 1 Anm. 1.2; Epe, aaO., § 7 FreizügG/EU Rn. 5; VG Würzburg, Beschl. v.
21.05.2007 - W 7 E 07.617 -; VG Sigmaringen, Urt. v. 19.09.2006 - 7 K 1190/05 -, ZAR 2007, 108). Die
Sperrwirkung könnte nur durch eine zusätzlich verfügte Ausweisung erreicht werden (dass ein Unionsbürger
dadurch, dass er gerade keinen einzigen Freizügigkeitstatbestand erfüllt, gegenüber freizügigkeitsberechtigten
Unionsbürgern einerseits und Nicht-Unionsbürgern andererseits, für die das Aufenthaltsgesetz gilt, eine
bessere rechtliche Stellung in Bezug auf die Möglichkeit einer Wiedereinreise haben soll, kann unter keinen
Umständen angenommen werden). Eine solche „kombinierte“ Verfahrensweise erschiene indes nicht nur
umständlich, sondern widerspräche auch der Intention des Freizügigkeitsgesetzes, die aufenthaltsrechtliche
Stellung von Unionsbürgern möglichst umfassend zu regeln.
10 In materieller Hinsicht dürfte die Feststellung des Verlusts des Freizügigkeitsrechts nicht zu beanstanden sein.
In Ergänzung zu den ausführlichen Darlegungen des Regierungspräsidiums Freiburg in der angegriffenen
Verfügung merkt die Kammer an, dass sie insbesondere die Erwägungen des Regierungspräsidiums zur
Schwere der Gefährdung der öffentlichen Ordnung durch den Antragsteller und zur Wiederholungsgefahr teilt.
Nicht jeder Verstoß gegen innerstaatliche Rechtsvorschriften, der zunächst einmal eine Störung der
öffentlichen Ordnung darstellt, führt dazu, dass Gründe der öffentlichen Ordnung vorliegen, die eine
Beschränkung des Freizügigkeitsrechts erlauben würden. Nach § 6 Abs. 2 Satz 3 FreizügG/EU muss eine
tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung der öffentlichen Ordnung vorliegen, die ein Grundinteresse
der Gesellschaft berührt (grundlegend EuGH, Urt. v. 27.10.1977 - Rs.30/77 -, NJW 1978, 479 f. - Bouchereau).
Ein Grundinteresse der Gesellschaft ist nur dann berührt, wenn von einem Freizügigkeitsberechtigten die
Begehung von Straftaten, die der mittelschweren oder schweren Kriminalität zuzurechnen sind, droht. Die
wiederholt drohende Begehung von Ordnungswidrigkeiten oder von Straftaten, die der leichten Kriminalität
zuzurechnen sind, kann das Grundinteresse der Gesellschaft per se nicht berühren. Nach Auffassung der
Kammer dürfte im Falle des Antragstellers davon auszugehen sein, dass Grundinteressen der Gesellschaft
berührt sind, weil die von ihm in einer Vielzahl von Fällen begangenen gewerbsmäßigen Einbruchsdiebstähle in
Anbetracht der Tatsache, dass sie nach § 243 Abs. 1 StGB mit Freiheitsstrafe bis zu zehn Jahren bestraft
werden können, nicht mehr der leichten Kriminalität zugeordnet werden können. Dass die gegen den
Antragsteller verhängte Freiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten diesen Strafrahmen nicht
ausgeschöpft hat, steht einer Anwendung von § 6 Abs. 1 FreizügG/EU nicht entgegen (Hoppe, HTK-AuslR/§ 6
FreizügG/EU/ Anm. 5.1).
11 Die Entscheidung des Antragsgegners dürfte auch nicht ermessensfehlerhaft sein. Zutreffend hat das
Regierungspräsidium alle für und gegen den Antragsteller sprechenden Umstände erfasst und angemessen
gewürdigt. Dabei konnte nicht unberücksichtigt bleiben, dass der Antragsteller mehr oder weniger nahtlos seit
seiner Einreise im September 2008 durchgängig bis zu seiner Verhaftung im April 2009 in einer Vielzahl von
Fällen mit dem Gesetz in Konflikt geraten ist, was zu seiner Verurteilung zu der genannten Freiheitsstrafe
geführt hat. Angesichts dieses Verhaltensmusters des Antragstellers, das die Vermutung nicht fernliegend
erscheinen lässt, der Antragsteller sei nicht, wie er angibt, wegen der Bekanntschaft zu Frau D. nach
Deutschland eingereist, sondern zur Begehung von Einbruchsdiebstählen in Serie, liegt für die Kammer die
Annahme einer konkreten Wiederholungsgefahr auf der Hand. Die Kammer kann es auch nicht beanstanden,
dass die Ausländerbehörde bei ihrer Würdigung berücksichtigt hat, dass Frau D. den Antragsteller bis zum
Erlass der angegriffenen Verfügung nur einmal in der Haftanstalt besucht hat. Wie die Ausländerbehörde ist
auch die Kammer der Auffassung, dass Art. 6 GG und Art. 8 EMRK der Maßnahme nicht entgegen stehen.
Zwar ist durch die Maßnahme das Privatleben des Antragstellers betroffen, doch ist dieser Eingriff
verhältnismäßig in Anbetracht der allenfalls marginalen Beziehungen des Antragstellers zu Deutschland (wo
der Antragsteller bezeichnender Weise nie gemeldet war), seiner mangelnden Integration in das deutsche
Rechts- und Wertesystem und die hohe Zahl der von ihm begangenen erheblichen Straftaten, hinsichtlich derer
durchaus eine Wiederholung zu befürchten ist. Dass der Antragsteller und Frau D. angeben, verlobt zu sein und
heiraten zu wollen, führt nicht zu einer anderen Bewertung. Selbst nach dem Vorbringen des Antragstellers
steht die Eheschließung nicht unmittelbar bevor (und unterfällt daher nicht dem vorwirkenden Schutz des Art. 6
Abs. 1 GG), weil der Antragsteller derzeit über keine gültigen Identitätspapiere verfügt und eine Änderung
dieses Zustandes nicht absehbar ist, so dass das Eheschließungsverfahren schon aus rechtlichen Gründen
nicht betrieben werden kann. Im Übrigen erscheint es nicht unverhältnismäßig, wenn der Antragsteller nach
einer Eheschließung mit Frau D. sich von Rumänien aus um die Wiedereinreise, dann unter Bezugnahme auf
Art. 6 Abs. 1 GG, bemüht, zumal Frau D., wie sich aus den Akten ergibt, selbst in Rumänien geboren wurde,
so dass anzunehmen ist, dass sie des Rumänischen mächtig ist, weshalb ihr und dem Antragsteller zugemutet
werden kann, die Eheschließung in Rumänien vornehmen zu lassen und eine eheliche Lebensgemeinschaft
vorübergehend dort zu führen, ggf. auch durch Besuche von Frau D.; die diesbezüglichen Reisekosten sind
gerichtsbekannter Weise gering. Dass die Verlustfeststellung nicht sogleich mit einer Befristung des Einreise-
und Aufenthaltsverbotes nach § 7 Abs. 2 Satz 1 FreizügG/EU versehen wurde, führt nicht zur
Unverhältnismäßigkeit der Maßnahme; eine nachfolgende Befristung auf Antrag des Antragstellers nach § 7
Abs. 2 Satz 2 bis 4 FreizügG/EU genügt dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz.
12 Gegen die unter Ziff. II der angegriffenen Verfügung ergangene Abschiebungsandrohung bestehen ebenso
wenig rechtliche Bedenken wie gegen die unter Ziff. III verfügte Anordnung der Abschiebung aus der Haft.
Auch insoweit kann die Kammer zur Vermeidung von Wiederholungen auf die Verfügung vom 07.04.2010
verweisen.
13 Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Festsetzung des Streitwerts ergibt sich aus §§ 53
Abs. 3 Nr. 2, 52 Abs. 2 GKG, wobei die Kammer von der Hälfte des Wertes ausgeht, der in einem
Hauptsacheverfahren festzusetzen wäre.