Urteil des VG Freiburg vom 14.08.2007

VG Freiburg: von der Diplomprüfung, schriftliche prüfung, mündliche prüfung, ärztliches gutachten, vorprüfung, elektronische signatur, psychologie, rücktritt, glaubhaftmachung, methodenlehre

VG Freiburg Beschluß vom 14.8.2007, 1 K 1091/07
Rücktritt von der Diplomprüfung
Leitsätze
Es stellt eine bewusste, späteren Rücktritt ausschließende Risikoübernahme dar, wenn sich der Kandidat in einem gesundheitlich beeinträchtigten
Gesamtzustand in die Prüfung begibt.
Tenor
1 K 1091/07
Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung eines Rechtsanwalts wird abgelehnt.
Gründe
I.
1
Der am ... 1972 geborene Antragsteller studiert seit Wintersemester 2003/2004 bei der Antragsgegnerin im Diplomstudiengang Psychologie. Die
vorgesehene Orientierungsprüfung legte er im Sommersemester 2004 erfolgreich ab. Im Rahmen der Diplom-Vorprüfung absolvierte der
Antragsteller am 28.8.2006 bzw. am 4.9.2006 jeweilige Wiederholungsprüfungen in den (in einem früheren Prüfungsversuch nicht bestandenen)
Fächern Methodenlehre und Allgemeine Psychologie I. Beide Prüfungen bestand er erneut nicht (jeweilige Note 5,0). Die zeitlich spätere
schriftliche Prüfung im Fach Differenzielle Psychologie und Persönlichkeitsforschung sowie die mündliche Prüfung am 15.9.2006 im Fach
Allgemeine Psychologie II bestand der Antragsteller jeweils mit der Note befriedigend.
2
Mit E-Mail vom 23.9.2006 an das Prüfungsamt teilte der Antragsteller mit, es habe medizinische Gründe gegeben, dass er die letzten beiden
Prüfungen nicht bestanden habe, und er bekomme ein ärztliches Gutachten darüber. Er wolle deswegen einen Härtefallantrag stellen, damit er
diese Prüfungen wiederholen könne. Mit Bescheid des Prüfungsausschusses vom 25.9.2006 wurde festgestellt, dass der Antragsteller die
Prüfungen in den Fächern Methodenlehre und Allgemeine Psychologie I nicht bestanden und mithin die Diplom-Vorprüfung endgültig nicht
bestanden habe. Eine weitere Wiederholung derselben Fachprüfung sei nicht zulässig, der Prüfungsanspruch sei damit endgültig erloschen.
3
Der Antragsteller erhob am 20.10.2006 Widerspruch und beantragte eine „zweite Wiederholung aufgrund Härtefalles“. Er gab an, zum Zeitpunkt
der Prüfung im Sommersemester 2006 laut beigefügtem ärztliche Attest vom 2.10.2006 prüfungsunfähig gewesen zu sein. Im genannten
ärztlichen Attest des Facharztes für Allgemeinmedizin Dr. S. ist ausgeführt, der Antragsteller sei auf Grund einer Tinnitus-Erkrankung mit
einhergehendem psychovegetativen Erschöpfungszustand vom 21.8. bis zum 8.9.2006 erkrankt und in diesem Zeitraum arbeits- und
studierunfähig gewesen. Der Patient habe seine fehlende Prüfungsfähigkeit nicht selbst erkennen können. Auf Grund der medikamentösen
Therapie habe sich sein Krankheitszustand gebessert, sodass er dadurch wieder an weiteren Prüfungen habe teilnehmen können.
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In einer weiteren E-Mail vom 18.12.2006 teilte der Antragsteller der Antragsgegnerin mit, im Zeitraum der beiden Prüfungen habe ihm Dr. S. ein
Psychopharmakon wegen seiner Zwangskrankheit gegeben. Er habe seine Prüfungsfähigkeit nicht einschätzen können und hätte aus ärztlicher
Sicht gar nicht daran teilnehmen dürfen. Dr. S. habe damals jedoch nicht gewusst, dass er, der Antragsteller, sich in der Diplom-Vorprüfung
befinde. Das Psychopharmakon habe seine ganze Realitätswahrnehmung durcheinander gebracht. Am 8.1.2007 legte der Antragsteller
schließlich ein ergänzendes ärztliches Attest vom 21.12.2006 vor. Darin führt Dr. S. aus, im Zusammenhang mit dem psychovegetativen
Erschöpfungszustand sei der Antragsteller wegen einer begleitenden depressiven Krise mit einem Antidepressivum behandelt worden, auch vor
dem Hintergrund einer Zwangserkrankung. Auf Grund des Psychopharmakons Paroxat und der damit einhergehenden Nebenwirkungen sei es
dem Patienten unmöglich gewesen, seine fehlende Prüfungsfähigkeit selbst zu erkennen. Er, der behandelnde Arzt, habe nicht gewusst, dass
der Antragsteller zu jener Zeit in einer Prüfungssituation gewesen sei und Prüfungen geplant gewesen seien, sonst hätte er ihn darüber
aufgeklärt, dass der gar nicht teilnehmen dürfe, wenn bestimmte Nebenwirkungen aufträten. Es seien leider sehr seltene Nebenwirkungen
aufgetreten wie Verwirrtheitszustände und verschwommenes Sehen, Schläfrigkeit und Schwächezustände.
5
Mit Widerspruchsbescheid vom 11.3.2007 (zugestellt am 16.04. 2007) wies der Rektor der Antragsgegnerin den Widerspruch des Antragstellers
gegen den Bescheid vom 25.9.2006 zurück. Zur Begründung wurde ausgeführt, die beiden Atteste könnten nicht anerkannt werden, da sie
rückwirkend ausgestellt und erst mit dem Widerspruch bzw. späteren anwaltlichen Schreiben eingereicht worden seien. Der Antragsteller habe
seine Krankheit nicht rechtzeitig angezeigt und sei von den beiden Prüfungen auch nicht zurückgetreten, obwohl er seit 21.8.2006 in Behandlung
gewesen sei. Es liege die Vermutung nahe, dass er erst das endgültige Prüfungsergebnis habe abwarten wollen, um bei einem schlechten
Ergebnis sich noch eine Anfechtung offen zu halten.
6
Mit der Absicht, später eine Klage zu erheben, hat der Antragsteller am 11.5.2007 beim Verwaltungsgericht einen Antrag auf Bewilligung von
Prozesskostenhilfe und Beiordnung seines Rechtsanwalts gestellt. Er trägt vor, er sei während der Prüfungskampagne nicht in der Lage
gewesen, seine Prüfungsunfähigkeit zu erkennen. Das habe zum Teil auf Nebenwirkungen verschriebener und eingenommener
Psychopharmaka beruht. Seine Zwangserkrankung verlaufe schubweise. Ihm sei nicht bewusst gewesen, ob und wann ein solcher Schub
auftrete, erst recht nicht, dass das verordnete Psychopharmakon derart beeinträchtigend wirke. Das habe sich erst in einem Arztgespräch
herausgestellt, nachdem das verordnete Medikamente probierweise eingenommen worden sei. Störungen hinsichtlich Wahrnehmungsfähigkeit,
Bewusstsein und Gedächtnis seien tiefgreifend. Entsprechend schwerwiegend seien auch die objektiv beschreibbaren Auswirkungen. Die
auftretenden Verzerrungen der Wahrnehmung und Realität trügen während der Zwangssymptomatik bisweilen fast psychotische Züge. Hätte er
seine Prüfungsunfähigkeit im Vorfeld der Prüfungskampagne erkannt, so hätte er rechtzeitig zurücktreten bzw. ein Urlaubsemester einlegen
können, um seine Prüfungsfähigkeit wiederherzustellen.
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Die Antragsgegnerin ist dem Antrag entgegen getreten und bezieht sich im wesentlichen auf die Begründung im Widerspruchsbescheid.
II.
8
Die beabsichtigte Rechtsverfolgung (Anfechtung des Bescheids vom 25.9.2006, mit dem die Diplom-Vorprüfung als endgültig nicht bestanden
und der Prüfungsanspruch als erloschen festgestellt wird, sowie ferner Verpflichtung der Beklagten auf Anerkennung eines Rücktritts von der
Diplom-Vorprüfung) bietet keine hinreichende Erfolgsaussicht (§§ 166 VwGO, 114 Satz 1, 121 Abs. 2 ZPO). Die für beide künftigen
Klagebegehren zentrale Frage, ob der Antragsteller wirksam von der Diplom-Vorprüfung in den Fächern Allgemeine Psychologie I und
Methodenlehre (beide im Sommersemester 2006) zurückgetreten ist, ist mit hoher Wahrscheinlichkeit zu verneinen. Auch bei Anlegung eines im
PKH-Verfahren gebotenen großzügigen Prüfungsmaßstabs kann nicht die Rede davon sein, der Ausgang eines späteren Klageverfahrens sei
zumindest offen.
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Nach Aktenlage und unter Berücksichtigung des Vortrags der Beteiligten ist der Antragsteller aller Voraussicht nach nicht wirksam von der
Diplom-Vorprüfung in den beiden genannten Fächern zurückgetreten. Da sowohl die schriftliche Prüfung im Fach Methodenlehre (Termin war am
28.8.2006) als auch diejenige im Fach Allgemeine Psychologie I (Termin war am 4.9.2006) bereits Wiederholungsprüfungen waren (zur
Möglichkeit einer zweiten Wiederholung in höchstens einem Prüfungsfach vgl. § 19 Abs. 1 Satz 3 DPO), wurde folglich das endgültige
Nichtbestehen der Diplom-Vorprüfung sowie das Erlöschen des Prüfungsanspruchs (zugleich mit der Folge des Erlöschens der Zulassung zum
Studium) zu Recht von der Beklagten festgestellt (§§ 34 Abs. 2, Abs. 3, 32 Abs. 1 Satz 5 LHG, 3 Abs. 5, 12 Abs. 1 Satz 2 DPO).
10 Gemäß § 11 Abs. 2 DPO müssen die für den Rücktritt von einer Prüfungsleistung geltend gemachten Gründe dem Prüfungsausschuss
unverzüglich schriftlich angezeigt und glaubhaft gemacht werden; bei Krankheit des Kandidaten ist überdies ein - wegen Sinn und Zweck einer
Glaubhaftmachung notwendig aussagekräftiges - ärztliches Attest vorzulegen. Es mag zu Gunsten des Antragstellers davon ausgegangen
werden, dass die erforderliche Rücktrittserklärung vorliegt. Zwar erfüllt seine E-Mail vom 23.9.2006 (VAS. 116) nicht die Voraussetzungen der
durch die Prüfungsordnung geforderten Schriftlichkeit, weil das elektronische Dokument keine qualifizierte elektronische Signatur besaß (vgl. §
3a Abs. 2 LVwVfG; vgl. ferner aus der Rspr.: Hess. VGH, Beschl. v. 3.11.2005 - 1 TG 1668/05 - Juris; OVG Lüneburg, Beschl. v. 17.1.2005 - 2 PA
108/05 - NVwZ 2005, 470; OVG Lüneburg, Beschl. v. 29.7.2004 - 11 LA 175/04 - NordÖR 2004, 462; VG Sigmaringen, Beschl. v. 27.12.2004 - 5 K
1313/04 - Juris). Möglicherweise weil das Prüfungsamt der Antragsgegnerin ihn auf diesen Formmangel nicht hingewiesen hat, jedenfalls aber
weil der Antragsteller mit Rechtsanwaltsschreiben vom 16.10.2006 sein Anliegen schriftlich wiederholen ließ, dürfte dies aller Voraussicht nach
jedoch unschädlich sein. Das zum damaligen Zeitpunkt als „Härtefallantrag“ auf Prüfungswiederholung formulierte Begehren kann schließlich
auch in eine Rücktrittserklärung umgedeutet werden, weil die Prüfungsordnung - wie bereits oben dargelegt - keine zweite
Wiederholungsmöglichkeit kennt.
11 Eine Rücktrittserklärung ist jedenfalls aber nicht unverzüglich erfolgt und ferner sind die Gründe für den Rücktritt auch nicht glaubhaft gemacht
worden. Stellt man auf den frühesten Erklärungszeitpunkt am 23.9.2006 (Eingang der E-Mail beim Prüfungsamt) ab, so lag dieser Zeitpunkt
bereits weit mehr als zwei Wochen nach dem letzten Prüfungstermin vom 4.9.2006. Es ist nicht erkennbar und insbesondere vom Antragsteller
nicht dargelegt bzw. glaubhaft gemacht worden, dass es ihm ohne schuldhaftes Zögern - mithin unverzüglich - erst in diesem Zeitpunkt möglich
war, einen nachträglichen Rücktritt von der Prüfung geltend zu machen (zur erweiternden Auslegung der Rücktrittsvorschriften um das
Erfordernis auch einer unverzüglichen Erklärung vgl. BVerwG, Urt. v. 15.12.1993 - 6 C 28/92 - Buchh 421.0 Prüfungswesen Nr. 323). Kein
unverzügliches Handeln stellt es ferner dar, wenn der Antragsteller das zur Glaubhaftmachung erforderliche ärztliche Attest vom 2.10.2006 erst
am 20.10.2006 - mithin fast vier weitere Wochen nach der Rücktrittserklärung - vorlegte. Aus diesem Attest geht hervor, dass der Antragsteller
vom 21.8. bis 8.9.2006 prüfungsunfähig erkrankt gewesen sei („Tinnitus-Erkrankung mit einhergehendem psychovegetativen
Erschöpfungszustand“). Berücksichtigt man, dass die erste Prüfungsleistung am 28.8.2006 erfolgte, ist unerfindlich, warum sich der schon eine
Woche zuvor, nämlich seit 21.8.2006, erkrankte Antragsteller dennoch der Prüfung stellte. Sein Verhalten spricht danach viel eher für eine
bewusste Risikoübernahme, die ihn nicht nachträglich zum Rücktritt berechtigen kann (vgl. dazu Zimmerling/Brehm, Prüfungsrecht, 2. Aufl.
[2001], Rnr. 326 m.z.N.). Im Fall eines Rücktritts während oder gar - wie hier - nach der Prüfung ist die Chancengleichheit der
Prüfungskandidaten besonders gefährdet, weil ein Prüfling zu diesem Zeitpunkt auch schlechte Vorbereitung oder unzureichende Kenntnisse
der Aufgabenstellung zum Anlass des Prüfungsabbruchs machen und durch einen erst später erklärten Rücktritt die Verschaffung einer
unzulässigen Wiederholungsmöglichkeit versuchen könnte (zur besonderen Missbrauchsgefahr vgl. BVerwG, Beschl. v. 03.01.1994 - 6 B 57.93 -,
Buchh. 421.0 Prüfungswesen Nr. 327). Nicht umsonst wird es deshalb als besonders starkes Indiz für einen Missbrauch des Prüfungsrechts
angesehen, wenn der Kandidat zunächst das Prüfungsergebnis abwartet und sich erst dann auf eine nicht erkennbare Prüfungsunfähigkeit beruft
(VG Stuttgart, Urt. v. 14.11.2003 - 10 K 2206/03 - VENSA). An die Glaubhaftmachung des Rücktrittsgrundes sind in einem solchen Fall besondere
Anforderungen zu stellen, was Überzeugungskraft bzw. Plausibilität betrifft.
12 Solche strengen Anforderungen sind hier jedoch nicht erfüllt. Auch das ergänzende ärztliche Attest vom 21.12.2006 (vorgelegt erst am 8.1.2007)
ändert an der fehlenden Glaubhaftmachung nichts. Daraus geht hervor, dass der Antragsteller sich in der Prüfungsphase auch in einer
depressiven Krise befunden und ein Psychopharmakon eingenommen habe. Wie die Medikamenteneinnahme zeigt, wusste er damit aber von
seinem beeinträchtigten Gesamtzustand, sodass erneut von einer bewussten Risikoübernahme auszugehen ist, wenn er sich dennoch der
Prüfung stellte. Auf die im ergänzenden Attest geltend gemachten sehr seltenen Nebenwirkungen des Psychopharmakons kommt es damit aber
gar nicht mehr an. Es ist im übrigen auch nicht erkennbar, dass sich diese Nebenwirkungen tatsächlich in den beiden schriftlichen Prüfungen
ausgewirkt haben könnten. Inhalt und Schriftbild der beiden Klausuren legen jedenfalls, vergleicht man sie mit anderen in der Prüfungsakte
befindlichen Arbeiten des Antragstellers, (seltene) Nebenwirkungszustände wie Verwirrtheit, verschwommenes Sehen, Schläfrigkeit und
Schwäche in keiner Weise nahe. Selbst wenn diese Zustände während der Prüfung aufgetreten wären, hätten sie aber vom Antragsteller bemerkt
werden müssen und es hätte gerade dann von ihm erwartet werden können, dass er diese Beeinträchtigung unmittelbar nach Abklingen - laut
ärztlichem Attest vom 2.10.2006 soll der Zustand bis 8.9.2006 angedauert haben - abklärt bzw. der Antragsgegnerin gegenüber geltend macht.
Maßgeblich ist nicht, ob ein Prüfling seinen Zustand als einen solchen mit Krankheitswert wahrnehmen konnte, sondern es reicht aus, dass für
ihn eine Verminderung seines Leistungsvermögens festzustellen war. Ob er seinen Zustand begrifflich als Prüfungsunfähigkeit erfasst, ist dabei
unerheblich. Wer hingegen keine erhebliche Verminderung seines Leistungsvermögens bemerkt, ist in der Regel auch nicht prüfungsunfähig
(BVerwG, Beschl. v. 17.1.1984 - 7 B 29/83 - BayVBl. 1984, 247).