Urteil des VG Frankfurt (Oder) vom 02.04.2017

VG Frankfurt(oder ): örtliche zuständigkeit, gewöhnlicher aufenthalt, psychisch kranker, klinik, ausbildung, entlassung, wohnheim, eltern, gerichtsakte, vergleich

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Gericht:
VG Frankfurt (Oder)
6. Kammer
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
6 K 1753/02
Dokumenttyp:
Urteil
Quelle:
Normen:
§ 30 SGB 1, § 35a SGB 8, § 41
SGB 8, § 86a SGB 8, § 89 SGB 8
Bestimmung des gewöhnlichen Aufenthalts bei der Frage der
Kostenerstattungsplicht eines Jugendhilfeträgers
Tenor
Der Beklagte wird verurteilt, dem Kläger die für die Hilfeempfängerin A. aufgewendeten
Kosten in Höhe von 26.616,54 € zu erstatten.
Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des zu
vollstreckenden Betrages.
Tatbestand
Der Kläger begehrt vom Beklagten Kostenerstattung in Höhe von 26.616, 54 €,
entsprechend 52.057,42 DM, für die Unterbringung der am 20. August 1977 geborenen
A. im Wohnheim des Vereins "..." zur Hilfe psychisch Kranker in ... vom 01. Februar 1997
bis zum 31. Januar 1998.
Frau A. lebte bis Ende Juni 1995 bei ihren Eltern im Kreisgebiet des Beklagten in .... Im Juli
1995 begann sie eine Ausbildung zur Hotelfachfrau im ...hotel ... . Ausweislich der
Angaben des Einwohnermeldeamts der Gemeinde ... hatte sie vom 30. Juni 1995 bis
zum 30. April 1997 ihren Hauptwohnsitz in der ...strasse 60/61 auf ... gemeldet, die
Anschrift der Eltern ist seit dem 30. Juni 1995 ununterbrochen als Nebenwohnung
registriert. Im Verlauf der Ausbildung wurde Frau ... psychisch krank. Nach Angaben des
Ausbildungsbetriebes hielt sie sich zuletzt am 24. Oktober 1995 auf ... auf; das
Ausbildungsverhältnis wurde allerdings erst zum 30. April 1997 beendet, bis zu diesem
Tag hielt der Ausbildungsbetrieb ein Zimmer für sie vor.
Nach eigenen Angaben wohnte Frau ... vom 27. November 1995 bis zum 26. August
1996 in der ...-Strasse 10 bei Familie ... in ... und ging dort bis zum 09. März 1996 in die
Berufsschule. Einen Wohnsitz in ... meldete sie damals nicht an. Vom 26. August bis zum
27. November 1996 wurde Frau ... stationär in der Klinik Dr. ... Fachklinik für Psychiatrie,
Psychotherapie/Psychosomatik und Neurologie - in ... behandelt. In dem dort erstellten,
an die Beratungsstelle "...“ in ... adressierten Arztbericht vom 08. Januar 1997 wurde
„Verdacht auf frühe Persönlichkeitsstörung mit psychogener Eßstörung ICD 9:301.8“
diagnostiziert und ausgeführt, Frau ... sei dem Personenkreis nach § 39 BSHG
zuzuordnen. Abschließend hieß es u. a. "Als Perspektivplanung entwickelte die Patientin
gemeinsam mit dem Behandlungsteam die Überlegung, sich in eine stützende und
strukturierende Wohnsituation (Tagesklinik, betreutes Wohnen, therapeutische WG)
einzubinden." Im Anschluss an den Klinikaufenthalt hielt sich Frau A. vom 28. November
1996 bis zum 31. Januar 1997 bei ihren Eltern in ... auf.
Am 15. Januar 1997 schloss Frau A. mit dem Wohnheim des Vereins "...“ einen Vertrag
über die Aufnahme in die Wohngruppe II in der ...-Straße 14 in ... . Am gleichen Tage
beantragte sie bei dem Kläger Eingliederungshilfe nach §§ 39, 40 BSHG und gab im
Antrag an, sie sei zuletzt wohnhaft gewesen im „...hotel ...“. Ab dem 01. Februar 1997
wurde Frau A. in der Einrichtung aufgenommen, ausweislich der Auskunft des
Einwohnermeldeamtes ... hatte sie vom 30. April 1997 bis zum 22. Januar 1998 ihren
Hauptwohnsitz unter der genannten Anschrift gemeldet. Unter dem 10. März 1997 teilte
das ... Landesamt dem Kläger mit, eine überörtliche Zuständigkeit des Trägers der
Sozialhilfe sei nicht gegeben, da die Maßnahme nach § 41 SGB VIII zu bewerten und
damit der Träger der Jugendhilfe zuständig sei.
Der Kläger übersandte unter dem 07. Mai und 05. Juni 1997 dem Beklagten einen Antrag
der Frau A. "nach § 35a SGB VIII" unter Hinweis auf § 86 a SGB VIII und den Aufenthalt in
... . Der Beklagte lehnte die Bearbeitung des Antrages ab und sandte Ende Juni 1997
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... . Der Beklagte lehnte die Bearbeitung des Antrages ab und sandte Ende Juni 1997
auch die Kostenrechnung an die Einrichtung zurück. Auch weitere Aufforderungen des
Klägers, der Einrichtung "...“ und der Frau A. zur Bescheidung und Kostenübernahme
lehnte der Beklagte ab, weil aus seiner Sicht der maßgebliche gewöhnliche Aufenthalt
angesichts der dortigen Antragstellung und der Angaben der entsprechenden
Meldestellen im Bereich des Klägers lag.
Frau A. beantragte im Oktober 1997 bei dem Verwaltungsgericht (VG) Oldenburg eine
einstweilige Anordnung gegen den Kläger, nahm diesen Antrag mit dem Aktenzeichen
13 B 4329/97 aber im Dezember 1997 zurück. Im Hauptsacheverfahren vor dem VG
Oldenburg (AZ: 13 A 974/99), zu dem der Beklagte beigeladen war, schlossen der Kläger
und Frau A. am 03. Mai 2001 einen Vergleich, wonach der Kläger sich verpflichtete,
„gemäß § 43 Abs. 1 SGB I die mit Antrag vom 15. Januar 1997 begehrten Leistungen zu
übernehmen“.
Unter dem 05. Februar 2002 beantragte der Kläger beim Beklagten Kostenerstattung in
Höhe des von ihm gezahlten Betrages von 52.057,42 DM sowie Übernahme der von
Anwälten der Frau A. wegen eines zivilgerichtlichen Urteils angemahnten Zinsen. Der
Beklagte lehnte unter dem 27. Februar 2002 Kostenerstattung ab.
Der Kläger hat am 05. Juli 2002 Klage erhoben, mit der er neben der Übernahme der für
die Hilfe aufgewendeten Kosten auch die Erstattung von Zinsen begehrt hat. Nachdem
der Kläger seine Zinsforderung beziffert hat, ist das Verfahren insoweit durch Beschluss
der Kammer vom 18. April 2007 zu dem Aktenzeichen 6 K 468/07 abgetrennt und nach
Klagerücknahme am 02. Mai 2007 eingestellt worden.
Der Kläger ist im vorliegenden Verfahren der Auffassung, der Beklagte habe ihm nach §
89 c SGB VIII die Kosten zu erstatten, da er nach § 86 a SGB VIII für die Hilfegewährung
an Frau A. zuständig gewesen sei. Diese habe vor Beginn der Hilfe ihren gewöhnlichen
Aufenthalt in ... gehabt. Sie habe nach dem Klinikaufenthalt „bis auf weiteres“, also für
einen unbestimmten Zeitraum ihren Lebensmittelpunkt bei den Eltern gehabt und sei
dort auch gemeldet gewesen. Die gegenteilige Auffassung des Beklagten sei weder
belegt noch haltbar. Frau A. habe mit dem Verlassen des im ... bewohnten Zimmers am
26. August 1996 den "Mittelpunkt ihrer Lebensinteressen" dort aufgegeben und sei nach
der Entlassung aus der Klinik nicht mehr dorthin zurückgekehrt. Auch habe entgegen
dem Vorbringen des Beklagten bei der Entlassung aus der Klinik noch nicht
festgestanden, dass Frau A. in die Einrichtung „...“ aufgenommen werden würde. Dies
zeigten die Daten des Vertragsschlusses und auch der Anträge auf öffentliche
Leistungen. Auch könnten weder vom Vorhandensein eines Zimmers im
Ausbildungsbetrieb noch vom Vorliegen eines Ausbildungsvertrages auf einen
gewöhnlichen Aufenthalt in seinem Kreisgebiet geschlossen werden. Dass Frau A. nach
der Entlassung aus der Einrichtung „...“ eine zweite Ausbildung in ... begonnen habe, sei
hier nicht maßgeblich. Selbst wenn angesichts der Erkrankung der Frau A. eine
subjektive Willensbildung hinsichtlich der Begründung eines Aufenthalts ausgeschlossen
werde, verbleibe es bei der Zuständigkeit des Beklagten, da dann der faktische
Aufenthalt in ... gemäß § 86 a Abs. 3 SGB VIII ausschlaggebend sei.
Der Kläger beantragt,
den Beklagten zu verurteilen, ihm die für die Hilfeempfängerin A. aufgewendeten
Kosten in Höhe von 26.616,54 € zu erstatten.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Er ist der Auffassung, der Aufenthalt in ... vom 28. November 1996 bis zum 31. Januar
1997 begründe keinen gewöhnlichen Aufenthalt im Sinne des § 86 a Abs. 1 SGB VIII, § 30
SGB I. Frau A. habe von Anfang an nicht vorgehabt, den Mittelpunkt ihrer
Lebensinteressen nach ... zu verlegen, sondern habe sich allein zu Erholungs- und
Freizeitzwecken zum „vorübergehenden Verweilen“ dort aufgehalten. Ausweislich der
Entbindung von der ärztlichen Schweigepflicht vom 21. Dezember 1996 und des
Arztberichts vom 08. Januar 1997 habe die anschließende Weiterbehandlung bzw.
Nachsorge in ... schon bei der Entlassung aus der Klinik festgestanden. Da der
Aufnahme üblicherweise eine Wartezeit vorausgehe, stehe der Zeitpunkt des
Vertragschlusses seiner Auffassung nicht entgegen. Mit Schriftsatz vom 08. Mai 2007
bestreitet der Beklagte vorsorglich den "Anspruch dem Grunde und der Höhe nach" und
führt dazu aus, es sei für ihn nicht zu erkennen, ob die geleistete Hilfe angemessen und
gerechtfertigt gewesen sei. Insbesondere seien liege weder ein Hilfeplan vor, noch sei
ihm ersichtlich, dass alternative - ambulante oder teilstationäre - Hilfeformen
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ihm ersichtlich, dass alternative - ambulante oder teilstationäre - Hilfeformen
ausreichend ausgewogen worden seien. Die offensichtliche Untätigkeit des Klägers
könne nicht zu seinen Lasten gehen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird verwiesen auf den
Inhalt der Gerichtsakte, der Gerichtsakte des VG Oldenburg zum Aktenzeichen 13 A
974/99 und des vom Beklagten eingereichten Verwaltungsvorgangs.
Entscheidungsgründe
Das Gericht entscheidet mit Einverständnis der Beteiligten ohne weitere mündliche
Verhandlung durch die Berichterstatterin, §§ 101 Abs. 2, 87 a Abs. 2 und 3
Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO).
Die als allgemeine Leistungsklage zulässige und auch im Übrigen statthafte Klage ist
begründet. Der Kläger hat gegen den Beklagten einen Anspruch auf Kostenerstattung in
Höhe von 26.616, 54 €, entsprechend 52.057,42 DM.
Entgegen der Auffassung des Klägers ergibt sich dieser Anspruch allerdings nicht aus §
89 c SGB VIII. Nach dessen Abs. 1 Satz 2, der hier allein in Betracht zu ziehen ist, sind
Kosten, die ein örtlicher Träger im Rahmen seiner Verpflichtung nach § 86 d aufgewendet
hat, von dem örtlichen Träger zu erstatten, dessen Zuständigkeit durch den
gewöhnlichen Aufenthalt nach §§ 86, 86 a und 86 b begründet wird. Nach § 86 d SGB VIII
ist - wenn die örtliche Zuständigkeit nicht feststeht oder der zuständige örtliche Träger
nicht tätig wird - der örtliche Träger vorläufig zum Tätigwerden verpflichtet, in dessen
Bereich sich der junge Volljährige vor Beginn der Leistung tatsächlich aufhält. Diese
Voraussetzungen lagen hier nicht vor: Frau A. hielt sich zur maßgeblichen Zeit
tatsächlich nicht im Zuständigkeitsbereich des Klägers auf. Es bedarf dabei keiner
Entscheidung, ob als Beginn der Leistung die Aufnahme in das Wohnheim oder bereits
der Antrag auf Eingliederungshilfe vom 15. Januar 1997 angenommen wird. In beiden
Fällen war der tatsächliche Aufenthalt der Frau A. zuvor unstreitig in ... . Der Kläger hat
die Kosten gegenüber Frau A. auch nicht gestützt auf § 86 d SGB VIII übernommen. Die
Kostenübernahme beruhte allein auf dem Vergleich, der im Verfahren vor dem
Verwaltungsgericht Oldenburg (13 A 974/99) am 03. Mai 2001 ausdrücklich in
Anwendung von § 43 SGB I geschlossen wurde (zum Nachrang des § 43 SGB I
gegenüber § 86 d SGB VIII: Schellhorn in ders., SGB VIII, Kommentar, 1. Aufl. 1999, § 86
d Rn 9; so auch Giese/Krahmer, SGB I, Stand 35. EL Mai 2007, § 43 Rn. 7.1. und 8.3). Da
§ 86 d SGB VIII bezweckt, in Fällen ungeklärter Zuständigkeit sachgerechte und
notwendige Hilfe vorläufig und zeitnah zu gewähren, konnte die Kostenübernahme durch
den Kläger über drei Jahre nach dem Abschluss der Maßnahme auch inhaltlich nicht
mehr auf diese Norm gestützt werden.
Rechtsgrundlage des Erstattungsanspruchs ist vielmehr § 102 SGB X, der hier
ergänzend heranzuziehen ist (vgl. Schellhorn, a. a. O., § 89 Rn. 12 ff.). Nach dieser
Vorschrift ist, wenn ein Leistungsträger auf Grund gesetzlicher Vorschriften vorläufig
Sozialleistungen erbracht hat, der zur Leistung verpflichtete Leistungsträger
erstattungspflichtig. Der Umfang des Anspruchs richtet sich gemäß § 102 Abs. 2 SGB X
nach den für den vorleistenden Leistungsträger geltenden Rechtsvorschriften.
Die Voraussetzungen der Kostenerstattung liegen hier dem Grunde und dem Umfang
nach vor.
Nach § 43 Abs. 1 Satz 1 SGB I - einer gesetzlichen Vorschrift über die vorläufige
Leistungserbringung im Sinne des § 102 SGB X - kann, wenn eine Anspruch auf
Sozialleistungen besteht und zwischen mehreren Leistungsträgern streitig ist, wer zur
Leistung verpflichtet ist, der unter ihnen zuerst angegangene Leistungsträger vorläufig
Leistungen erbringen, deren Umfang er nach pflichtgemäßem Ermessen bestimmt. Er
hat Leistungen zu erbringen, wenn der Berechtigte es beantragt, Satz 1 1. Halbsatz der
Vorschrift.
Der von § 43 SGB I geforderte negative Kompetenzkonflikt (vgl. BVerwG, Urteil vom 02.
März 2006 - 5 C 15/05 -, zitiert nach juris) lag hier vor: Kläger und Beklagter waren seit
Juni 1997 über die örtliche Zuständigkeit für die Hilfe an Frau A. im Streit. Der Kläger hat
die Kosten der Unterbringung in der Einrichtung "...“ an Frau A. auf Grundlage des vor
dem VG Oldenburg geschlossenen Vergleichs ausdrücklich gestützt auf § 43 Abs. 1 SGB
I übernommen und damit nach außen erkennbar wegen der ungeklärten Zuständigkeit
nur vorläufig Leistungen erbracht (vgl. Roos in von Wulffen, SGB X, 5. Aufl. 2005, § 102
Rn. 6, 10).
Der Beklagte war der für die Erbringung der Hilfe an Frau A. zuständige Leistungsträger.
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Nach § 41 Abs. 1 SGB VIII soll einem jungen Volljährigen Hilfe für die
Persönlichkeitsentwicklung und zu einer eigenverantwortlichen Lebensführung gewährt
werden, wenn und solange die Hilfe aufgrund der individuellen Situation des jungen
Menschen notwendig ist. Die örtliche Zuständigkeit für die Hilfegewährung richtet sich
dabei grundsätzlich nach dem gewöhnlichen Aufenthalt des jungen Volljährigen vor
Beginn der Leistung (§ 86 a Abs. 1 SGB VIII); hält sich der Betreffende in einer
Einrichtung oder sonstigen Wohnform auf, die der Erziehung, Pflege, Betreuung,
Behandlung oder dem Strafvollzug dient, bestimmt sich die örtliche Zuständigkeit nach
dem gewöhnlichen Aufenthalt vor der Aufnahme in der jeweiligen Einrichtung (§ 86 a
Abs. 2 SGB VIII). Hat der junge Volljährige keinen gewöhnlichen Aufenthalt, richtet sich
nach § 86 a Abs. 3 SGB VIII die Zuständigkeit nach seinem tatsächlichen Aufenthalt.
Hiernach war der Beklagte zuständig, weil Frau A. zu Beginn der Leistung ihren
gewöhnlichen Aufenthalt in seinem Gebiet hatte, § 86 a Abs. 1 SGB VIII.
Dabei kann auch hier offen bleiben, ob für den Beginn der Leistung auf die tatsächliche
Durchführung der Hilfemaßnahme oder den Beginn des hierauf gerichteten
Verwaltungsverfahrens, in dem das Jugendamt für die Beteiligten erkennbar die
formellen und materiellen Voraussetzungen für eine in § 2 Abs. 2 SGB VIII als Leistung
der Jugendhilfe definierte und von anderen Hilfen abgegrenzte Hilfemaßnahme prüft,
abzustellen ist (für letzteres: Bay VGH, Beschluss vom 12.07.2006 – 12 ZB 05.804 -; so
auch VG München, Urteil vom 13.11.2002 – M 18 00.2483; jeweils zitiert nach juris). Eine
solche Prüfung durch das Jugendamt des Klägers hat vor dem Beginn der Maßnahme
am 01. Februar 1997 nicht stattgefunden. Der Antrag vom 15. Januar 1997 war
ausdrücklich als Antrag auf Eingliederungshilfe nach §§ 39, 40 Bundessozialhilfegesetz
(BSHG) gestellt worden, erst durch das Schreiben des Niedersächsischen Landesamtes
vom 10. März 1997 ist auf den jugendhilferechtlichen Charakter der Maßnahme
hingewiesen worden.
Maßgeblich ist danach der gewöhnliche Aufenthalt vor dem 01. Februar 1997. Bei der
Bestimmung des Begriffs des gewöhnlichen Aufenthalts im Sinne des § 86 a SGBV VIII ist
von der Legaldefinition des § 30 Abs. 3 Satz 2 SGB I auszugehen (Wiesner, SGB VIII,
Kommentar, 3. Aufl. 2006, § 86 Rn. 6 m. w. N.). Hiernach liegt der gewöhnliche
Aufenthalt dort, wo sich jemand unter Umständen aufhält, die erkennen lassen, dass er
an diesem Ort nicht nur vorübergehend verweilt. Bei der Beurteilung der Frage, ob ein
solches "nicht nur vorübergehendes Verweilen" vorliegt, ist auf die tatsächlichen
Umstände des Falles abzustellen. Danach wird zunächst ein gewöhnlicher Aufenthalt
begründet, wenn sich der Betreffende rein faktisch an einem bestimmten Ort für eine
gewisse Dauer aufhält. In zeitlicher Hinsicht ist dabei kein dauerhafter oder längerer,
aber auch kein nur zufälliger, augenblicklicher oder besuchsweiser gemeint. Positiv
ausgedrückt ist ein gewöhnlicher Aufenthalt ein solcher "bis auf weiteres" im Sinne eines
- bei einer Betrachtung ex ante - (zunächst) zukunftsoffenen Verbleibs. Soweit nicht
schon von einer tatsächlich längeren Verweildauer auf einen gewöhnlichen Aufenthalt
geschlossen werden kann, sondern bei Zuzug eine Prognoseentscheidung zu fällen ist,
genügt es danach, wenn ein längeres - d. h. in zeitlicher Hinsicht nicht von vornherein
unerhebliches Verweilen in Betracht kommt. Ob dies der Fall ist, ist dem Willen des
Betreffenden ebenso wie den sonstigen objektiven Umständen im Zeitpunkt des Zuzugs
zu entnehmen (s. zu alledem: BVerwG, Urteil vom 18.03.1999 – 5 C 11/98 -, zitiert nach
juris –; Giese/Krahmer, SGB I, Stand: 35. EL Mai 2007 § 30 Rn. 10, 12).
Entgegen der Auffassung des Beklagten ist hiernach ein gewöhnlicher Aufenthalt in ...
anzunehmen. Schon die zweimonatige Dauer des hier maßgeblichen Aufenthaltes in ...
spricht gegen ein nur vorübergehendes Verweilen. Entgegen dem Vorbringen des
Beklagten ist auch nicht ersichtlich, dass bei dem Zuzug der Frau A. die spätere
Aufnahme in die Einrichtung "...“ schon feststand. Den vorliegenden Unterlagen und
dem aus ihnen ersichtlichen zeitlichen Ablauf lässt sich gerade nicht entnehmen, dass
der Beginn der Maßnahme oder auch nur die Maßnahme als solche bereits im Zeitpunkt
der Klinikentlassung festgestanden hätten. Frau A. hat erst am 21. Dezember 1996, also
fast 4 Wochen nach ihrem Umzug nach ..., die "Therapeutinnen" der Klinik Dr. ... von der
ärztlichen Schweigepflicht entbunden und um Übersendung des Abschlussberichts an
die Einrichtung "...“ gebeten". Aus diesem Abschlussbericht vom 08. Januar 1997 ergibt
sich allerdings, dass während des Klinikaufenthalts eine in die Richtung der später
durchgeführten Maßnahme weisende Perspektivplanung, nämlich die Einbindung in eine
stützendes und strukturierende Wohnform, entwickelt worden war. Der Inhalt dieses
Schreiben macht aber deutlich, dass diese Perspektivplanung nicht wie vom Beklagten
vorgetragen konkretisiert war, denn es werden noch im Januar 1997 hierzu verschiedene
Alternativen - "Tagesklinik, betreutes Wohnen, therapeutische WG"- aufgeführt. Erst am
15. Januar 1997 hat Frau A. dann den Heimvertrag unterzeichnet. Vor diesem
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15. Januar 1997 hat Frau A. dann den Heimvertrag unterzeichnet. Vor diesem
Hintergrund kann ihr Aufenthalt in ... nach Maßgabe der oben aufgeführten Kriterien
nicht anders als im Zeitpunkt des Zuzugs "zukunftsoffen" angesehen werden, zumal die
Dauer des Aufenthalts auch nach Konkretisierung der Maßnahme von Unwägbarkeiten,
wie etwa dem Platzangebot in der gewünschten Einrichtung anhängig war. Dieses
Ergebnis wird zudem - worauf der Kläger zu Recht hinweist - gestützt durch die am 21.
Januar 1997, also zeitnah vor Beginn der Maßnahme von Frau A. selbst verfassten
Aufstellung über ihre Wohnorte. Denn den hier maßgeblichen Aufenthalt von November
1996 bis Januar 1997 hat sie im Gegensatz zu vorangegangenen Aufenthalten damals
nicht mit dem Zusatz „Urlaub oder Besuch“ versehen. Das Gericht misst diesem
Schreiben mehr Bedeutung bei als dem Schreiben vom 12. September 1997, in dem
Frau A. sich mit zeitlichem Abstand und unter dem Eindruck des bereits mehrere
Monate andauernden Zuständigkeitsstreits gegenüber dem Kläger zu ihrem Aufenthalt
in ... äußert.
Angesichts der Gesamtumstände kann der Tatsache, dass bis zum 30. April 1997 der
Ausbildungsbetrieb auf ... noch ein Zimmer vorhielt und Frau A. dort ihren
Hauptwohnsitz gemeldet hatte, entgegen der Auffassung des Beklagten keine
ausschlaggebende Bedeutung beigemessen werden. Denn es ist klar ersichtlich, dass
Frau A. seinerzeit nicht anstrebte - und wohl auch nicht in der Lage war -, die Ausbildung
fortzusetzen. Nach den unwidersprochen gebliebenen Angaben des
Ausbildungsbetriebes hat sie tatsächlich nur von Juli bis Oktober 1995 auf ... aufgehalten,
so dass von "sozialen Bindungen" im hier maßgeblichen Zeitpunkt nicht ernstlich die
Rede sein kann.
Es ist auch nichts dafür ersichtlich, dass Frau A. ihren gewöhnlichen Aufenthalt damals
im ... hatte. Dies würde voraussetzen, dass sich der dortige Aufenthalt bereits derart
verfestigt hatte, dass der Klinikaufenthalt und der Aufenthalt in ... sich nur als
unmaßgebliche, kurzfristige Unterbrechungen darstellen würden. Dafür ist aus den
vorliegenden Unterlagen nicht ersichtlich: Frau A. hat sich von November 1995 bis
August 1996 vorrangig wegen des Besuchs der Berufschule dort aufgehalten und nur ein
Zimmer zur Untermiete bewohnt, dass ihr nach dem Klinikaufenthalt auch nicht mehr
zur Verfügung stand. Auch hat sie damals weder einen Haupt- noch einen
Nebenwohnsitz in ... angemeldet. Der vorübergehende und besuchsweise Aufenthalt in
... am 15. Januar 1997, um den Vertrag zu schließen und den Antrag auf
Eingliederungshilfe zu stellen, rechtfertigt keine andere Wertung. Dass Frau A. nach
ihrem Auszug aus der Einrichtung "...“ Ende Januar 1998 in ... verblieben ist und dort
eine zweite Ausbildung begonnen hat, ist für die hier zu entscheidende Rechtsfrage -
worauf der Kläger zu Recht hinweist - ohne Belang.
Entgegen der Auffassung des Beklagten kann der Kläger die Erstattung der
aufgewendeten Kosten auch in der Sache verlangen.
Die Erstattungspflicht setzt voraus, dass der auf Erstattung in Anspruch genommene
Leistungsträger durch die vorläufig erbrachte Sozialleistung von einer an sich ihn
treffenden Leistungsverpflichtung entlastet worden ist. Zu prüfen ist, ob er die Leistung,
wegen derer Kostenerstattung begehrt wird, nach den für ihn geltenden
Rechtsvorschriften rechtmäßig hätte erbringen dürfen und nach diesem rechtlichen
Maßstab die materiellrechtlichen Tatbestandsvoraussetzungen für die Hilfegewährung
erfüllt sind (BVerwG, Urteil vom 13.03.2003 - 5 C 6/02 -, zitiert nach juris., dort Rn. 14 u.
17).
Diese Voraussetzungen liegen hier vor: Es besteht kein Zweifel, dass die Unterbringung
der Frau A. in einem Wohnheim für psychisch Kranke eine zulässige jugendhilferechtliche
Maßnahme im Sinne des § 41 Abs. 1, Abs. 2 i.V. m. § 35 a Nr. 4 SGB VIII in der im
maßgeblichen Zeitraum - der Gewährung der Hilfe an Frau A. durch den Verein "...“ -
geltenden Fassung darstellte. Die vom Beklagten erstmals im Schriftsatz vom 08. Mai
2007 erhobenen Bedenken gegen die Maßnahme als solche sind nicht geeignet, seine
Erstattungspflicht in Frage zu stellen.
Dabei ist zunächst zu beachten, dass hier die Erstattung einer Maßnahme in Frage
steht, deren Kosten der Kläger seinerseits lange nach deren Abschluss im Rahmen
seiner Verpflichtung nach § 43 SGB Abs. 1, 2 SGB I übernommen hat und nicht die
Erstattung einer im regulären jugendhilferechtlichen Verfahren bewilligten Maßnahme.
Allerdings setzt § 43 Abs. 1 SGB I einen Anspruch des Berechtigten auf die fragliche
Sozialleistung voraus. Das Gericht hat aufgrund der vorliegenden Unterlagen aber keine
durchgreifenden Zweifel, dass ein solcher Anspruch bestand.
Nach § 41 SGB Abs. 1 VIII in der hier maßgeblichen Fassung vom 15. März 1996 (BGBl. I
S. 477) soll einem jungen Volljährigen Hilfe für die Persönlichkeitsentwicklung und zu
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S. 477) soll einem jungen Volljährigen Hilfe für die Persönlichkeitsentwicklung und zu
einer eigenverantwortlichen Lebensführung gewährt werden, wenn und solange die Hilfe
aufgrund der individuellen Situation des jungen Menschen notwendig ist. Die Hilfe wird in
der Regel nur bis zur Vollendung des 21. Lebensjahres gewährt; in begründeten
Einzelfällen soll sie für einen begrenzten Zeitraum darüber hinaus fortgesetzt werden.
Für die Ausgestaltung der Hilfe galten nach Abs. 2 der Vorschrift u. a. §§ 35 a, 36 SGB
VIII entsprechend. Dass Frau A. dem Personenkreis des § 35 a Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1 SGB
VIII in der Fassung vom 23. Juli 1996 (BGBl. I S. 1088) i. V. m. § 39 Abs. 3 BSHG in der
Fassung vom 23. März 1994 (BGBl. I S. 646) zuzuordnen war, ergibt sich aus dem
Abschlussbericht der Klinik Dr. ... vom 08. Januar 1997 und wird auch vom Beklagten
nicht substantiiert in Abrede gestellt. Der Rechtmäßigkeit der Hilfe stand nicht entgegen,
dass angesichts des Streits über die Zuständigkeit ein Hilfeplanverfahren im Sinne des §
36 SGB VIII offenkundig nicht durchgeführt worden ist. Denn auch ohne einen schriftlich
fixierten Hilfeplan besteht ein Anspruch auf Hilfe, sofern sich deren Geeignetheit und
Notwendigkeit feststellen lässt (vgl. hierzu, insbesondere auch zum Umfang der
verwaltungsgerichtlichen Überprüfung: BVerwG, Urteil vom 24. Juni 1999 - 5 C 24/98 -,
zitiert nach juris, dort Rn. 39; OVG für das Land Brandenburg, Beschluss vom 01.
November 2001, S. 3 EA). Angesichts der vorliegenden Unterlagen ist dies hier der Fall.
Der Abschlussbericht der Klinik Dr. ... beschreibt neben der Diagnose "Verdacht auf frühe
Persönlichkeitsstörung mit psychogener Eßstörung ICD 9:301.8" den "körperlich und
seelisch sehr instabilen Zustand", die "schwere depressive Entwicklung" und "massive
Angstsymptomatik" der Frau A. bei Aufnahme in die Klinik. Entgegen dem Vorbringen
des Beklagten ist dem erwähnten Abschlussbericht, der sich gleichlautend in den vom
Beklagten eingereichten Verwaltungsvorgang und der Gerichtsakte befindet, die
Empfehlung einer - nur - ambulanten psychotherapeutischen Weiterbehandlung nicht zu
entnehmen. Die "gemeinsam mit der Patientin" entwickelte Perspektivplanung umfasst
ausnahmslos und vor dem Hintergrund der massiven Überforderung durch die Ablösung
vom Elternhaus nachvollziehbar verschiedene Alternativen zur Einbindung in eine
stützende und strukturierende Wohnform, d. h. eine zumindest teilstationäre
Maßnahme. Dass Vorbringen des Beklagten, Frau A. sei in den Prozess der
Hilfegewährung nicht einbezogen worden wäre, ist angesichts dessen ebenso haltlos wie
seine unsubstantiierten Ausführungen zu einer eventuell unzulässig selbstbeschafften
Hilfe. Auch das Niedersächsische Landesamt für Zentrale Soziale Aufgaben hat im
Übrigen in seiner am 10. März 1997 und damit zeitnah verfassten Stellungnahme
ausgeführt, dass die Voraussetzungen des § 41 SGB VIII in diesem Fall angenommen
werden können. Im Übrigen ist darauf zu verweisen, dass der Leistungsträger, der
aufgrund gesetzlicher Vorschriften vorläufig Sozialleistungen erbringt (erbringen muss)
den Vorzug genießt, den Umfang der Leistungen nach pflichtgemäßem Ermessen
bestimmen und in diesem Umfang von dem zur Leistung verpflichteten Leistungsträger
Erstattung verlangen zu dürfen (vgl. Niedersächsisches OVG, Beschluss vom 10. April
1997 - 4 L 3821/96 -, zitiert nach juris). Der erstattungspflichtige Leistungsträger kann
Art und Umfang der vorläufigen Leistungen nur beanstanden, wenn sie durch das Recht
des vorleistenden Trägers nicht gedeckt sind (Pickel/Marschner, SGB X, Stand 129. EL,
Februar 2006, § 102 Rn. 20).
Der Kläger, der die Leistung selbst erst nach dem im Mai 2001 vereinbarten Vergleich im
Verfahren 13 A 974/99 an Frau A. erbracht hat, hat seinen Erstattungsanspruch auch
mit Schreiben vom 05. Februar 2002 innerhalb der Frist des § 111 SGB X gegenüber
dem Beklagten geltend gemacht.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO, der Ausspruch über die vorläufige
Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 167 Abs. 1 VwGO i. V. m. § 709 Satz 1 und 2 ZPO.
Das Verfahren ist nach § 188 2. HS VwGO i. V. m. § 194 Abs. 5 VwGO (jeweils in der seit
dem 01. Januar 2002 geltenden Fassung der Änderung durch Gesetz vom 20.12.2001,
BGBl.I, S. 3987) nicht gerichtskostenfrei.
Beschluss
Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 26.616,54 € festgesetzt.
Gründe
Die Festsetzung des Streitwertes beruht auf § 13 Abs. 2 GKG in der bis zum 30. Juni
2004 geltenden Fassung.
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