Urteil des VG Frankfurt (Oder) vom 26.08.1996

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Gericht:
VG Frankfurt (Oder)
5. Kammer
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
5 K 1442/05
Dokumenttyp:
Urteil
Quelle:
Normen:
§ 9 Abs 2 VwZG, § 2 Abs 1 S 1
KAG BB
Tenor
Der Bescheid des Beklagten 002/96 vom 26. August 1996 und der
Widerspruchsbescheid vom 07. Januar 1997 werden aufgehoben.
Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte kann die
Vollstreckung der Klägerin durch Sicherheitsleistung in Höhe der beizutreibenden
Forderung abwenden, wenn nicht die Klägerin zuvor Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Tatbestand
Die Klägerin ist Eigentümerin eines Grundstücks, das vor 1996 an die zentrale
Trinkwasserversorgungseinrichtung angeschlossen wurde, die der vom Beklagten
vertretene Verband betreibt. Dessen Verbandsversammlung beschloss am 28.
September 2004 eine „Satzung über die Erhebung von Anschlussbeiträgen für die
Trinkwasserversorgung“ (nachfolgend als „SETAB 2004“ abgekürzt), die die Erhebung
eines Trinkwasseranschlussbeitrages in Höhe von 0,80 € je Quadratmeter zu
veranlagender Grundstücksfläche vorsah (§ 5 SETAB) und sich gemäß ihrem § 13
Rückwirkung bis zum 29. Dezember 1995 beilegte. Zugleich wurden die
Vorgängersatzungen über die Erhebung von Baukostenzuschüssen und
Trinkwasseranschlussbeiträgen vom 28. September 1995, vom 29. März 2000 und vom
18. Oktober 2001 aufgehoben.
Der Beklagte hatte die Klägerin bereits auf Grund der Satzung vom 28. September 1995
mit Bescheid Nr. 002/96 vom 26. August 1996 auf Zahlung eines nach dem
Frontmetermaßstab berechneten „Baukostenzuschusses“ in Höhe von 1.549,80 DM
zuzüglich Mehrwertsteuer in Anspruch genommen.
Gegen diesen Bescheid legte die Klägerin mit Schreiben vom 20. September 1996
Widerspruch ein.
Der Beklagte erließ daraufhin unter dem 07. Januar 1997 einen zurückweisenden
Widerspruchsbescheid ohne separates Aktenzeichen, dessen Betreff „Bescheid-Nr.:
002/96 vom 26.08.1996 über die Erhebung eines Baukostenzuschusses für das
Grundstück in ... lautete und dessen Zustellung per Postzustellungsurkunde angeordnet
wurde. In dem Verwaltungsvorgang findet sich sodann eine Postzustellungsurkunde, auf
der unter der Ziffer „1.1 Geschäftsnummer“ „002/96“ eingetragen ist. Das daneben
befindliche Feld „1.2 Ggf. weitere Kennzeichen“ ist leer geblieben. Auf der Rückseite ist
dann die Zustellung durch Niederlegung und die Einlegung der Benachrichtigung in den
Hausbriefkasten jeweils für den 10. Januar 1997 beurkundet.
Weiter findet sich beim Verwaltungsvorgang ein Schreiben des vom Beklagten
vertretenen Verbandes vom 18. Februar 1997 mit dem Bezug „Widerspruchsbescheid
vom 07.01.1997 ...“, in dem es hieß: „Sie erhalten von uns beiliegend Ihren Widerspruch
zum Widerspruchsbescheid zurück. Wir verweisen auf die im Widerspruchsbescheid
erteilte Rechtsbehelfsbelehrung. ...“
Nach diesem Schreiben ist über acht Jahre keine Korrespondenz ersichtlich.
Erst mit Schreiben vom 05. Juni 2005 wendete sich die Klägerin wieder an die von dem
Beklagten mit der Einziehung der Forderung beauftragte Inkassogesellschaft und wies
diese darauf hin, dass der Bescheid gegenstandslos sei, was sich aus ihrem
Schriftverkehr mit dem Beklagten ergebe.
Die Klägerin hat sodann am 21. Oktober 2005 Klage erhoben und zugleich die
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Die Klägerin hat sodann am 21. Oktober 2005 Klage erhoben und zugleich die
Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes durch die Aussetzung der Vollziehung des
Bescheides beantragt.
Den Eilantrag nahm sie nach einem Hinweis des Gerichts auf das Fehlen der
Zugangsvoraussetzung gemäß § 80 Abs. 6 VwGO mit Schreiben vom 14. Februar 2006
zurück.
Zur Begründung der Klage erklärte sie, auf ihren Widerspruch sei kein
Widerspruchsbescheid ergangen. Sie habe nachweisbar keinen Widerspruchsbescheid
erhalten. Der Beklagte möge beweisen, dass eine ordnungsgemäße Zustellung erfolgt
sei. Dennoch habe es der Verband für notwendig erachtet, am 18. Februar 2007 der
Klägerin mit Einschreiben mitzuteilen, dass ein Widerspruch auf einen
Widerspruchsbescheid nicht möglich sei. Dies habe die Klägerin auch gewusst und
erklärt, keinen Widerspruch auf einen Widerspruchsbescheid eingelegt zu haben. Von
dem Widerspruchsbescheid habe sie im Nachhinein am 29. September 2005 durch das
Inkassounternehmen erfahren.
Die Klägerin beantragt,
den Bescheid vom 26. August 1996 und den Widerspruchsbescheid vom 07.
Januar 1997 aufzuheben.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Er ist der Auffassung, die Klage sei unzulässig, da sie erst acht Jahre nach Ablauf der
Klagefrist erhoben worden sei. Der Widerspruchsbescheid sei am 10. Januar 2007
wirksam zugestellt worden. Eventuelle Zustellungsfehler seien jedenfalls geheilt. Im
übrigen sei das Klagerecht jedenfalls verwirkt, da die Klägerin dieses ihr zustehende
Recht aus dem Widerspruchsbescheid, den sie erhalten und zurückgeschickt habe,
gekannt und es dennoch bewusst über acht Jahre nicht ausgeübt habe.
Entscheidungsgründe
Die Klage ist zulässig.
Dies gilt auch, wenn man berücksichtigt, dass die Klage gegen den Bescheid vom 26.
August 1996 und den Widerspruchsbescheid vom 07. Januar 1997 erst am 21. Oktober
2005 erhoben worden ist. Denn eine Klagefrist war in diesem Zeitpunkt nicht abgelaufen,
da sie mangels wirksamer Zustellung des Widerspruchsbescheides noch gar nicht in
Gang gesetzt worden war. Die angeordnete Zustellung per Postzustellungsurkunde
(PZU) hält einer rechtlichen Überprüfung nicht stand, da auf der hierüber erstellten
Postzustellungsurkunde das zuzustellende Schriftstück nicht ausreichend konkret
bezeichnet war.
Eine Zustellung mittels PZU ist nur dann wirksam, wenn die Sendung und die PZU
jeweils mit der gleichen Geschäftsnummer versehen sind, die die Identifizierung der
zugestellten Sendung ermöglichen muss (BFH-Urteil in BFHE 160, 103, BStBl II 1990,
602). Diesem Gebot der Individualisierung wird eine Geschäftsnummer nicht gerecht, die
durchgängig für den ganzen Aktenvorgang verwendet wird (BFHE 205, 501; VGH
München, Beschluss 12 B 95.3687 vom 11. Juli 1996; VG Dresden, VIZ 2003, 431 ff.). Es
bedarf daher neben der Angabe des Aktenzeichens des Vorgangs stets eines weiteren
Zusatzes, der das zuzustellende Schriftstück bezeichnet.
Diesen Anforderungen entsprach die Zustellung vom 10. Januar 2007 nicht. Denn auf
der hierüber erstellten PZU war lediglich die Bescheid-Nummer 002/96 angegeben. Ein
den Widerspruchsbescheid als zuzustellendes Schriftstück individuell bezeichnender
Zusatz fehlte (vgl. insoweit auch den Beschluss des Oberverwaltungsgerichts für das
Land Brandenburg 2 B 111/03 vom 08. Oktober 2003).
Eine Heilung dieses Fehlers scheitert an der im Zeitpunkt der Zustellung am 10. Januar
1997 geltenden Vorschrift des § 9 Abs. 2 VwZG (in der bis zum 01. Juli 2002 geltenden
Fassung). Nach dieser Vorschrift sind Zustellungsfehler unter anderem dann nicht durch
tatsächliche Kenntnisnahme von dem zuzustellenden Schriftstück heilbar, sofern mit der
Zustellung eine Frist für die Erhebung der Klage beginnt. Dies ist bei der Zustellung des
Widerspruchsbescheides der Fall. Vor diesem Hintergrund kann auch dahinstehen, wann
die Klägerin tatsächlich Kenntnis von dem Widerspruchsbescheid erhalten hat. Selbst
wenn man zugunsten des Beklagten die von ihm unter Beweis gestellte Tatsache als
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wenn man zugunsten des Beklagten die von ihm unter Beweis gestellte Tatsache als
wahr unterstellt, wonach der Widerspruchsbescheid mit samt des hierauf ergangenen
Widerspruchs der Klägerin mit dem Schreiben des Beklagten vom 18. Februar 1997 an
die Klägerin zurückgesandt worden sei, würde hierdurch die Klagefrist nicht in Gang
gesetzt und die acht Jahre später erhobene Klage nicht unzulässig.
Die Klage ist auch nicht deshalb unzulässig, weil die Klägerin über acht Jahre mit der
Klageerhebung gewartet hat. Die Voraussetzungen einer – insoweit aufgrund des langen
Zeitablaufs in Betracht kommenden – Verwirkung des Klagerechts liegen nicht vor.
Die Voraussetzungen einer Verwirkung sind in der Rechtsprechung des
Bundesverwaltungsgerichts seit langem geklärt. Die Verwirkung ist Ausfluss des
Grundsatzes von Treu und Glauben. Er hat für die gesamte Rechtsordnung Gültigkeit.
Die Verwirkung bildet einen Anwendungsfall des Verbots widersprüchlichen Verhaltens.
Ein Recht darf nicht mehr ausgeübt werden, wenn seit der Möglichkeit der
Geltendmachung längere Zeit verstrichen ist und besondere Umstände hinzutreten, die
die verspätete Geltendmachung als Verstoß gegen Treu und Glauben erscheinen lassen.
Das ist etwa der Fall, wenn die Beteiligten in besonders engen rechtlichen Beziehungen
stehen, die nach Treu und Glauben von den Verbundenen besondere Rücksichten
gegeneinander fordern. Dies hat das Bundesverwaltungsgericht in dem vom Beklagten
in Bezug genommenen Urteil IV C 2.72 vom 25. Januar 1974 insbesondere für das
Rechtsverhältnis zweiter Nachbarn angenommen und daraus abgeleitet, dass man
gegen die einem Nachbarn erteilte Baugenehmigung auch dann binnen Jahresfrist
(analog § 58 VwGO) Widerspruch einlegen müsse, wenn einem diese Baugenehmigung
gar nicht bekannt gegeben worden sei (NJW 1974, 1260 f.). Wer trotz tatsächlicher
Kenntnis von der Baugenehmigung über die Jahresfrist hinaus zuwarte (in dem vom
Bundesverwaltungsgericht entschiedenen Fall waren es zwei Jahre), habe aufgrund der
besonderen Verpflichtung zur Rücksichtnahme auf den Nachbarn seine Klagerecht
verwirkt. Im vorliegend zu entscheidenden Fall liegt jedoch kein vergleichbar enges
Rechtsverhältnis wie zwischen Nachbarn vor.
Jenseits von nachbarschaftlich engen Rechtsbeziehungen, die eine besondere
Rücksichtnahme fordern, bleibt es jedoch auch nach der Rechtsprechung des
Bundesverwaltungsgerichts dabei, dass neben den bloßen Zeitablauf besondere
Umstände hinzutreten müssen, die die verspätete Geltendmachung als Verstoß gegen
Treu und Glauben erscheinen lassen.
Dies ist dann der Fall, wenn der Verpflichtete in Folge eines bestimmten Verhaltens des
Berechtigten darauf vertrauen durfte, dass dieser das Recht nach so langer Zeit nicht
mehr geltend machen werde, der Verpflichtete ferner tatsächlich darauf vertraut hat,
dass das Recht nicht mehr ausgeübt werde, und sich in Folge dessen in seinen
Vorkehrungen und Maßnahmen so eingerichtet hat, dass ihm durch die verspätete
Durchsetzung des Rechts ein unzumutbarer Nachteil entstehen würde (BVerwG,
Beschluss 3 B 101.03, vom 12. Januar 2004, NVwZ-RR 2004, 314).
Im vorliegenden Fall ist bereits zweifelhaft, ob die Klägerin überhaupt Anlass hatte, Klage
zu erheben, bevor der Beklagte im Jahr 2005 die Durchsetzung der Forderung betrieb.
Denn nach dem von ihr behaupteten Sachverhalt erhielt sie erst im September 2005
Kenntnis von dem zurückweisenden Widerspruchsbescheid. Selbst wenn man aber mit
dem Beklagten entsprechend dem von seinem Prozessbevollmächtigten in der
mündlichen Verhandlung gestellten Beweisantrag als wahr unterstellt, dass der
Widerspruchsbescheid mitsamt dem hierauf ergangenen Widerspruch der Klägerin mit
dem Schreiben des Beklagten vom 18. Februar 1997 an die Klägerin zurückgesandt
worden sei und deshalb von der tatsächlichen Kenntnis der Klägerin von dem Erlass des
Widerspruchsbescheides seit Februar 1997 ausgehen würde, könnte dies vor dem
Hintergrund der oben eingeführten Maßstäbe die Annahme der Verwirkung des
Klagerechts nicht begründen.
Denn es fehlt jedenfalls an den besonderen Umständen, die das Zuwarten mit der
Klageerhebung als Verstoß gegen Treu und Glauben erscheinen lassen würde. Denn die
Klägerin hat kein „bestimmtes Verhalten“ im Sinne der vom Bundesverwaltungsgericht
entwickelten Grundsätze an den Tag gelegt, aufgrund dessen der Beklagte hätte darauf
vertrauen können, dass die Klägerin sich nicht mehr gegen die Abgabenforderung
wehren, sondern diese anerkennen will. Weder hat sie auf die Forderung gezahlt noch
hat sie Erklärungen abgegeben, die den Schluss zulassen würden, dass sie mit der
Forderung einverstanden sei. Sie hat vielmehr dem Bescheid und (wenn man den
Vortrag des Beklagten wiederum als wahr unterstellt) auch dem Widerspruchsbescheid
„widersprochen“. Vor diesem Hintergrund konnte der Beklagte nicht
schutzwürdigerweise darauf vertrauen, die Klägerin wolle sich gegen den Bescheid nicht
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schutzwürdigerweise darauf vertrauen, die Klägerin wolle sich gegen den Bescheid nicht
(weiter) wehren.
Die nach all dem zulässige Anfechtungsklage hat auch in der Sache Erfolg.
Die angegriffenen Bescheide sind rechtswidrig und verletzen die Klägerin in ihren
Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Ihnen fehlt die gemäß § 2 Abs. 1 Satz 1 des
Kommunalabgabengesetzes für das Land Brandenburg (KAG) erforderliche Grundlage in
Gestalt einer wirksamen Satzung. Denn der vom Beklagten vertretene Verband hat nach
Aufhebung der letzten Trinkwasserbeitragssatzung keine Satzung mehr, die überhaupt
zur Erhebung von Trinkwasseranschlussbeiträgen ermächtigen würde. Die Satzungen bis
einschließlich der Satzung aus dem Jahr 2004 waren aufgrund materieller und/oder
formeller Fehler nichtig (vgl. zuletzt OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss 9 N 108.05 vom
31. August 2006). Die letzte Satzung hat die Verbandsversammlung selbst aufgehoben.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO in
Verbindung mit §§ 708 Nr. 11, 711 der Zivilprozessordnung (ZPO). Gründe, die Berufung
gemäß §§ 124, 124a Abs. 1 Satz 1 VwGO zuzulassen, liegen nicht vor.
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