Urteil des VG Frankfurt (Main) vom 27.01.2010

VG Frankfurt: widerruf, bundesamt für migration, nichteinhaltung der frist, flüchtlingseigenschaft, anerkennung, politische verfolgung, aufenthaltserlaubnis, asyl, zeitung, einzelrichter

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Gericht:
VG Frankfurt 6.
Kammer
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
6 K 2348/09.F.A
Dokumenttyp:
Urteil
Quelle:
Normen:
§ 73 Abs 7 AsylVfG 1992, § 73
Abs 2a S 4 AsylVfG 1992
(Frist zum Widerruf einer Asylberechtigung; Sinn und
Zweck der gesetzlichen Regelung; Widerruf im
Ermessenswege)
Leitsatz
1. Die Pflicht des Bundesamtes zur Einhaltung der Frist zum Widerruf einer
Asylberechtigung oder der Zuerkennung der Flüchtlingeigenschaft besteht nicht nur im
öffentlichen Interesse, sondern auch im privaten Interesse des betroffenen Ausländers.
2. Die Frist des § 73 Abs. 7 AsylVfG ist nur gewahrt, wenn das Bundesamt bis zum 31.
12. 2008 zuzüglich eines angemessenen Prüfungszeitraumes über den Widerruf
entschieden hat (im Anschluss an BVerwG, Urt. v. 12. 6. 2007 - 10 C 24/07, NVwZ 2007,
1330). Dieser Zeitraum ist mehr als ein halbes Jahr nach dem 31. 12. 2008
überschritten, wenn Hinderungsgründe für eine frühere Entscheidung nicht bestanden
haben.
3. Bei Nichteinhaltung der Frist des § 73 Abs. 7 AsylVfG kann der Widerruf der
Asylberechtigung oder der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nur noch im
Ermessenswege nach § 73 Abs. 2a Satz 4 AsylVfG erfolgen.
Tenor
1. Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 27. 8. 2009
wird aufgehoben.
2. Die Kosten des Verfahrens hat die Beklagte zu tragen.
Gerichtskosten werden nicht erhoben.
3. Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die
Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe der festzusetzenden Kosten
abwenden, sofern nicht der Kläger zuvor Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Tatbestand
Der am 15. 9. 1970 in H. geborene Kläger ist türkischer Staatsangehöriger. Der
Kläger reiste im Jahre 1991 zu Studienzwecken in das Bundesgebiet ein und
beantragte im Jahre 2000 seine Anerkennung als Asylberechtigter. Mit
bestandskräftigem Bescheid vom 9. 11. 2000 stellte das vormalige Bundesamt für
die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge fest, dass in der Person des Klägers die
Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG hinsichtlich der Türkei vorliegen. Dieser
Entscheidung lag der Vortrag des Klägers zugrunde, er habe sich außerhalb der
Türkei als Student in der kurdischen Widerstandsbewegung engagiert und ab 1992
europaweit an mehreren Großveranstaltungen teilgenommen. Als freier Journalist
sei er als Kommentator und Nachrichtensprecher des pro-kurdischen
Fernsehsenders Medya-TV ab November 1999 aufgetreten. Auch habe er unter
Decknamen Artikel für die Zeitung „Ronahi“, welche für den bewaffneten Kampf
eintrete, gefertigt. Aufgrund dieses von ihm geschilderten Sachverhaltes und der
vorliegenden Erkenntnisse sei davon auszugehen, dass der Kläger im Falle einer
Rückkehr in die Türkei zum gegenwärtigen Zeitpunkt mit der erforderlichen
Wahrscheinlichkeit Verfolgungsmaßnahmen im Sinne des § 51 Abs. 1 AuslG
ausgesetzt sein würde.
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Am 20. 10. 2008 leitete die Beklagte ein Widerrufsverfahren ein. Mit Schreiben
vom 27. 10. 2008, zugestellt am 29. 10. 2008, gab sie dem Kläger Gelegenheit,
zum beabsichtigten Widerruf des Bescheides vom 9. 10. 2000 binnen eines
Monats Stellung zu nehmen. Mit Schreiben seiner Prozessbevollmächtigten vom
31. 10. 2008 bat der Kläger um Akteneinsicht. Ihr wurde daraufhin am 10. 11. 2008
ein Ausdruck der elektronischen Akte übermittelt. Mit Schreiben vom 4. 6. 2009
bat die Bevollmächtigte des Klägers um Mitteilung des Sachstandes.
Mit Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 27. 8. 2009
wurde die mit Bescheid vom 9. 10. 2000 getroffene Feststellung, dass die
Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG vorliegen, widerrufen. Ferner wurde
festgestellt, dass die Voraussetzungen für die Zuerkennung der
Flüchtlingseigenschaft nicht vorliegen. Zudem wurde festgestellt, dass
Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG nicht vorliegen. Zur
Begründung heißt es in dem Bescheid im Wesentlichen, dass sich die Rechtslage
und die Menschenrechtssituation in der Türkei seit dem Asylschicksal des Klägers
deutlich zum Positiven verändert hätten. Ferner könne der dem Kläger gewährte
Schutz wegen exilpolitischer Aktivitäten aufgrund der veränderten Lage in der
Türkei nicht mehr aufrecht erhalten werden. Diese Aktivitäten entsprächen vom
Profil her keineswegs einem heute von Maßnahmen türkischer Behörden
bedrohten exilpolitischen Verhalten. Der Bescheid wurde am 28. 8. 2009 als
Einschreiben zur Post gegeben.
Dagegen hat der Kläger am 31. 8. 2009 Klage erhoben. Der Kläger ist der
Auffassung, dass ihm auch heute noch in der Türkei politische Verfolgung drohe.
Medya-TV gelte als Sprachrohr der PKK. Auch die Zeitung „Ronahi“ werde der PKK
zugerechnet. Wegen seiner geschilderten Aktivitäten gehöre er zu dem
Personenkreis, der einen gewissen Bekanntheitsgrad habe und der als
Unterstützer der PKK gelte. Zudem habe die Beklagte die Frist des § 73 Abs. 7
AsylVfG nicht eingehalten.
Der Kläger beantragt,
den Bescheid der Beklagten vom 27. 8. 2009 aufzuheben,
hilfsweise festzustellen, dass die Flüchtlingseigenschaft in der Person des Klägers
gegeben ist,
höchst hilfsweise Abschiebungsverbote ge. § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG
festzustellen.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Mit Beschluss vom 1. 12. 2009 hat die Kammer den Rechtsstreit gemäß § 76 Abs.
1 AsylVfG dem Berichterstatter als Einzelrichter zur Entscheidung übertragen.
Die Beteiligen haben sich mit einer Entscheidung im schriftlichen Verfahren ohne
vorherige Durchführung einer mündlichen Verhandlung einverstanden erklärt.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt
der Gerichtsakte, auf denjenigen der beigezogenen Behördenakte der Beklagten
(2 Hefter) sowie auf die in das Verfahren eingeführten Unterlagen verwiesen.
Entscheidungsgründe
Im Einvernehmen mit den Beteiligten kann der Einzelrichter über die vorliegende
Klage im schriftlichen Verfahren ohne vorherige Durchführung einer mündlichen
Verhandlung entscheiden (§ 101 Abs. 2 VwGO).
Die zulässige Klage ist auch begründet, denn der angefochtene Bescheid des
Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 27. 8. 2009 ist rechtswidrig und
verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
Der streitgegenständliche Bescheid des Bundesamtes erweist sich als
ermessensfehlerhaft. Das Bundesamt hat von seinem Ermessen, welches ihm
nach der Vorschrift des § 73 Abs. 2a Satz 4 AsylVfG eingeräumt worden ist, keinen
Gebrauch gemacht, sondern den Widerruf auf die Vorschrift des § 73 Abs. 1 Satz 1
AsylVfG gestützt. Der Bescheid vom 27. 8. 2009 ist deshalb wegen
Ermessensnichtgebrauchs rechtsfehlerhaft und somit aufzuheben.
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Nach § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG sind die Anerkennung als Asylberechtigter und die
Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft unverzüglich zu widerrufen, wenn die
Voraussetzungen für sie nicht mehr vorliegen. Dies ist nach § 73 Abs. 1 Satz 2
AsylVfG insbesondere der Fall, wenn es der Ausländer nach Wegfall der Umstände,
die zur Anerkennung als Asylberechtigter oder zur Zuerkennung der
Flüchtlingseigenschaft geführt haben, nicht mehr ablehnen kann, den Schutz des
Staates in Anspruch zu nehmen, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, oder
wenn er als Staatenloser in der Lage ist, in das Land zurückzukehren, in dem er
seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte. Die Prüfung, ob die Voraussetzungen für
einen Widerruf nach Abs. 1 vorliegen, hat gemäß § 73 Abs. 2a Satz 1 AsylVfG
spätestens nach Ablauf von drei Jahren nach Unanfechtbarkeit der Entscheidung
zu erfolgen. Das Ergebnis ist der Ausländerbehörde mitzuteilen (§ 73 Abs. 2a Satz
2 AsylVfG). Wenn die Entscheidung über den Asylantrag vor dem 1. Januar 2005
unanfechtbar geworden ist, hat die Prüfung nach Abs. 2a Satz 1 spätestens bis
zum 31. Dezember 2008 zu erfolgen (§ 73 Abs. 7 AsylVfG).
Zwar hat das Bundesverwaltungsgericht in ständiger Rechtsprechung entschieden,
dass die nach § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG bestehende Pflicht zum unverzüglichen
Widerruf der Asylberechtigung oder der Flüchtlingseigenschaft nur im öffentlichen
Interesse, nicht aber im privaten Interesse des jeweiligen Ausländers steht, so
dass ein etwaiger Verstoß gegen dieses Gebot keine Rechte des betroffenen
Ausländers verletzt (BVerwG, Urteil vom 12. 6. 2007 – 10 C 24/07, NVwZ 2007,
1330 Rdnr. 13 zitiert nach Juris m. w. N.). Für die Einhaltung der Frist des § 73 Abs.
7 AsylVfG kann dies aber nicht gelten. Der zwingende Widerruf einer Asyl- oder
Flüchtlingsanerkennung kann nach jetziger Rechtslage vom Bundesamt nicht mehr
– wie bisher - zeitlich unbegrenzt, sondern nur noch in einem Zeitraum von drei
Jahren nach Unanfechtbarkeit der Anerkennung ausgesprochen werden (BVerwG
a. a. O. Rdnr. 15). Muss ein als Asylberechtigter oder als Flüchtling im Sinne von §
60 Abs. 1 AufenthG anerkannter Ausländer während der Dreijahresfrist des § 73
Abs. 2a AsylVfG bei Wegfall der Anerkennungsvoraussetzungen regelmäßig mit
dem Widerruf des Anerkennungsbescheids rechnen, so genießt er nach der
gesetzlichen Konzeption jedenfalls in diesem Zeitraum kein schutzwürdiges
Vertrauen hinsichtlich der Aufrechterhaltung seines Asyl- bzw. Flüchtlingsstatus,
womit ein Anknüpfungspunkt für die Anwendung des § 49 Abs. 2 Satz 2 und des §
48 Abs. 4 VwVfG fehlt (BVerwG a. a. O.). Auf der anderen Seite wurde mit dem
Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes zum 1. Januar 2005 festgelegt, dass ein
Asylberechtigter nicht wie nach bisheriger Rechtslage eine unbefristete
Aufenthaltserlaubnis, sondern lediglich eine befristete Aufenthaltserlaubnis
bekommt (§ 25 Abs. 1 Satz 1 AufenthG); gleiches gilt für Ausländer, denen die
Flüchtlingseigenschaft zuerkannt worden ist (§ 25 Abs. 2 Satz 1 AufenthG). Die
Aufenthaltserlaubnis für diesen Personenkreis wird für längstens drei Jahre erteilt (§
26 Abs. 1 Satz 1 AufenthG). Die Befristung der Aufenthaltserlaubnis auf drei Jahre
korrespondiert mit der in § 73 Abs. 2a AsylVfG geregelten Frist zur Überprüfung
der Voraussetzungen der Anerkennungsentscheidung (so die
Gesetzesbegründung, BT-DrS 15/420, S. 80). Einem Ausländer, der seit drei Jahren
eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 1 oder Abs. 2 AufenthG besitzt, ist eine
Niederlassungserlaubnis zu erteilen, wenn das Bundesamt für Migration und
Flüchtlinge gemäß § 73 Abs. 2a AsylVfG mitgeteilt hat, dass die Voraussetzungen
für den Widerruf oder für die Rücknahme nicht vorliegen (§ 26 Abs. 3 AufenthG).
Demnach hat die Mitteilung des Bundesamtes nach § 73 Abs. 2a Satz 2 AsylVfG
anspruchsbegründende Wirkung, d. h. mit der Mitteilung erwirbt der betreffende
Ausländer einen Anspruch auf Erteilung einer Niederlassungserlaubnis. Den
betroffenen Personen soll damit nach der Gesetzesbegründung die Perspektive für
eine dauerhafte Lebensplanung in Deutschland eröffnet werden (BT-DrS 15/420, S.
80). Auch das Bundesverwaltungsgericht weist in seinem Urteil vom 25.11.2008
(10 C 53/07, NVwZ 2009, 328 Rdnr. 16) darauf hin, dass die Prüfung der
Widerrufsvoraussetzungen durch das Bundesamt nach der jetzigen Rechtslage
aufenthaltsrechtliche Folgen hat, während es sich nach der bis zum Jahresende
2004 geltenden Regelung lediglich um eine interne Überprüfungspflicht des
Bundesamtes gehandelt hat, für die im Falle des Absehens vom Widerruf keine
Mitteilung des Überprüfungsergebnisses an die Ausländerbehörde vorgeschrieben
war und die auch keine Verbesserung der aufenthaltsrechtlichen Position des
Ausländers zur Folge hatte. Diese Bemerkung des Bundesverwaltungsgerichtes
kann nur so verstanden werden, dass für die jetzige Rechtslage das Gegenteil zu
gelten hat. Dementsprechend wird auch die Auffassung vertreten, dass der
betreffende Ausländer einen einklagbaren Anspruch gegen das Bundesamt auf die
Mitteilung nach § 73 Abs. 2a Satz 2 AsylVfG hat (VG Köln, Urteil vom 1. 7. 2005, 18
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Mitteilung nach § 73 Abs. 2a Satz 2 AsylVfG hat (VG Köln, Urteil vom 1. 7. 2005, 18
K 7716/04.A zitiert nach Juris; Wolff in: Hofmann/Hoffmann, Ausländerrecht,
Kommentar, § 73 AsylVfG Rdnr. 40; wohl auch Heindel, ZAR 2009, 269, 272). Dass
das Bundesverwaltungsgericht die Regelung des § 73 Abs. 2a Satz 1 AsylVfG unter
dem Gesichtspunkt des Vertrauensschutzes beurteilt, wurde bereits zitiert.
Dementsprechend nimmt auch Schäfer (in GK-AsylVfG, Kommentar, Stand:
Februar 2009, § 73 Rdnr. 89) an, dass die Prüfungspflicht nach § 73 Abs. 2a
AsylVfG auch den Interessen des Ausländers zu dienen bestimmt ist (a. A. aber
Hess. VGH, Beschluss vom 1. 8. 2005 – 7 UE 1364/05.A, InfAuslR 2005, 494, zitiert
nach Juris, sowie der gleichlautende Beschluss vom 5. 8. 2005 – 7 UE 1370/05.A
und VG Aachen, Urteil vom 4. 9. 2009 – 6 K 1309/09.A).Für die sogenannten
Altfälle, also diejenigen, in denen die Anerkennung als Asylberechtigter oder die
Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft vor dem 1. 1. 2005 unanfechtbar
geworden ist – wie im hier zu entscheidenden Fall – kommt allerdings noch die
Vorschrift des § 73 Abs. 7 AsylVfG hinzu, welche eine feste Frist mit einem
bestimmten Fristende für die Prüfung nach § 73 Abs. 2a Satz 1 AsylVfG festlegt.
Damit liegt eine „Höchstfrist“ für die Zulässigkeit eines Widerrufs vor, an deren
Fehlen der Hessische Verwaltungsgerichtshof seine Auffassung, die Prüfungsfrist
des § 73 Abs. 2a Satz 1 AsylVfG diene nicht den Interessen des betroffenen
Ausländers, sondern nur dem öffentlichen Interesse, geknüpft hat.
Für die Beurteilung, ob die Frist des § 73 Abs. 7 AsylVfG eingehalten worden ist, ist
nicht allein darauf abzustellen, ob bis zu dem in § 73 Abs. 7 AsylVfG bezeichneten
Zeitpunkt das Widerrufsverfahren eingeleitet worden ist (so aber Heindel a. a. O. S.
269 f.), denn das Bundesverwaltungsgericht hat in seiner bereits zitierten
Entscheidung vom 12. 6. 2007 ausgeführt, dass der zwingende Widerruf der Asyl-
oder Flüchtlingsanerkennung nicht mehr – wie bisher – zeitlich unbegrenzt,
sondern nur noch in einem Zeitraum von drei Jahren nach Unanfechtbarkeit der
ausgesprochen
verstanden werden, dass das Bundesamt in der ihm gesetzten Frist bereits zu
einer Entscheidung gelangt sein muss. Zudem könnte ansonsten nicht mehr von
einer zeitlichen Begrenzung für die Prüfung des Widerrufs gesprochen werden.
Allerdings hat das Bundesverwaltungsgericht bereits im Zusammenhang mit der
Vorschrift des § 73 Abs. 2a Satz 1 AsylVfG davon gesprochen, dass dem
Bundesamt ein Zeitraum von drei Jahren nach Unanfechtbarkeit der Anerkennung
„zuzüglich eines angemessenen Prüfungszeitraums“ eröffnet ist (Urteil vom 12. 6.
2007 a. a. O. Rdnr. 15). Dies muss deshalb für die Beurteilung der Einhaltung der
Frist des § 73 Abs. 7 AsylVfG, welche für die sogenannten Altfälle eine
Konkretisierung der Frist des § 73 Abs. 2a Satz 1 AsylVfG darstellt, entsprechend
gelten. Das Bundesamt hat den betreffenden Ausländer zur beabsichtigten
Entscheidung über den Widerruf nach § 73 Abs. 4 Satz 1 AsylVfG anzuhören. Ihm
ist danach Gelegenheit zur Äußerung zu geben. Dabei könnten aber durchaus
neue Verfolgungsgründe geltend gemacht werden, oder aufgrund der erfolgten
Stellungnahme könnte sich neuer Aufklärungsbedarf ergeben, so dass bei einem
gebundenen Widerruf nicht allein von einer strikten zeitlichen Schranke dergestalt,
dass bis zum 31. 12. 2008 der Widerrufsbescheid dem betroffenen Ausländer
bekannt gemacht worden sein muss (so aber VG A-Stadt, Urteil vom 10.11.2009 –
5 K 1005/09.F), ausgegangen werden kann.
Im hier zu entscheidenden Fall hat die Beklagte aber auch unter Zubilligung eines
„angemessenen Prüfungszeitraums“ die Frist des § 73 Abs. 7 AsylVfG nicht
eingehalten. Sie leitete am 20. 10. 2008 das Widerrufsverfahren ein und gab dem
Kläger mit Schreiben vom 27. 10. 2008 Gelegenheit zur Stellungnahme binnen
eines Monats. Die von der Bevollmächtigten des Klägers beantragte Akteneinsicht
wurde durch Übermittlung eines Ausdrucks der elektronischen Akte am 10. 11.
2008 gewährt. Neue Verfolgungsgründe, auf die der alte Bescheid des früheren
Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge nicht gestützt war,
machte der Kläger nicht geltend. Auch führte die Beklagte keine weiteren
Ermittlungen im Falle des Klägers durch. Eine Entscheidung über den Widerruf der
Flüchtlingseigenschaft wäre ihr deshalb (nachdem die gem. § 73 Abs. 4 Satz1
AsylVfG gesetzte Frist zur Stellungnahme am 29. 11. 2008 abgelaufen war) bis
zum 31. 12. 2008, in jedem Fall aber in den Wochen danach ohne weiteres möglich
gewesen. Die Entscheidung erging jedoch erst, nachdem die Bevollmächtigte des
Klägers am 4. 6. 2009 nach dem Sachstand des Widerrufsverfahrens nachfragte,
durch den hier streitgegenständlichen Bescheid am 27. 8. 2009. Der dem
Bundesamt zuzubilligende „angemessene“ Prüfungszeitraum war mehr als ein
halbes Jahr nach dem 31.12.2008 jedenfalls überschritten, da Hinderungsgründe
für eine frühere Entscheidung nicht bestanden.
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Das AsylVfG verhält sich nicht zu der Frage, welche Rechtsfolge im Falle des
Nichteinhaltens der Frist des § 73 Abs. 7 AsylVfG zu gelten hat. Aus dem
Nichteinhalten der Prüfungsfrist kann aber nur folgen, dass die nicht fristgerechte
Entscheidung des Bundesamtes einer negativen Entscheidung, dass die frühere
Entscheidung nicht widerrufen werden soll, gleichzustellen ist. Dies ergibt sich
daraus, dass für das Bundesamt durch das Zuwanderungsgesetz eine Pflicht zur
Prüfung des Widerrufs der Asyl- oder Flüchtlingseigenschaft statuiert worden ist.
Zudem liefe die Frist ansonsten leer. Dies führt deshalb dazu, dass ein Widerruf
des Bescheides vom 9. 10. 2000 nach § 73 Abs. 2a Satz 1 AsylVfG nicht mehr
zulässig ist, sondern nur noch nach § 73 Abs. 2a Satz 4 AsylVfG im
Ermessenswege zulässig ist. Ermessenserwägungen hat die Beklagte in ihrem
Bescheid vom 27. 8. 2009 aber nicht angestellt, sondern ihre Entscheidung allein
darauf gestützt, dass die Voraussetzungen für einen Widerruf nach § 73 Abs. 1
Satz 1 und 2 AsylVfG vorliegen. Der angefochtene Bescheid ist deshalb wegen
Ermessensnichtgebrauch rechtswidrig.
Da dem Hauptantrag des Klägers somit vollumfänglich entsprochen wird, bedarf
es keiner Entscheidung über die gestellten Hilfsanträge.
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die
Gerichtskostenfreiheit folgt aus § 83b AsylVfG.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 Abs. 1 VwGO
i. V. m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert. Darüber hinaus ist eine ergänzende Dokumentation durch
die obersten Bundesgerichte erfolgt.