Urteil des VG Frankfurt (Main) vom 21.06.2006
VG Frankfurt: geburt, jugendamt, hessen, unterbringung, stift, einheit, vollstreckung, behinderung, aufteilung, aufenthalt
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Gericht:
VG Frankfurt 7.
Kammer
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
7 E 335/05
Dokumenttyp:
Urteil
Quelle:
Norm:
§ 102 SGB 10
Zum Erstattungsanspruch nach § 102 SGB X wegen
vorläufiger Leistung
Tenor
Die Klage wird abgewiesen.
Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar.
Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe der noch
festzusetzenden Kosten abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung
Sicherheit in gleicher Höhe leistet
Tatbestand
Frau S. K., geb. am ....1979, erhielt seit dem 1.4.2000 vom Kläger, dem
Landeswohlfahrtsverband Hessen, Eingliederungshilfe in den Kinder- und
Jugendhäusern in Lollar (Lahn-Dill-Kreis). Frau K. leidet an einer wesentlichen, nicht
nur vorübergehenden seelischen Behinderung.
Aufgrund ihrer Schwangerschaft wurde sie ab 1.4.2003 in der Mutter-Kind-
Einrichtung des Jugendhilfezentrums Wiesbaden betreut. Bis zur Geburt des Kindes
übernahm der Kläger den vollen Kostensatz. Für den stationären Aufenthalt in der
Einrichtung sicherte der Kläger zunächst nur die Übernahme der Kosten für die
vollstationäre Betreuung von Frau S. K. in Höhe von 139,43 € täglich zu. In dem
entsprechenden Schreiben vom 28.3.2003 heißt es u.a.:„... teilen wir Ihnen mit,
dass wir uns bereit erklären, die Kosten für diesen Bereich bis zur Geburt nach den
Vorschriften des Bundessozialhilfegesetzes zu übernehmen. Für die Zeit nach der
Geburt gehen wir davon aus, dass eine Aufteilung der Kosten zwischen dem LWV
Hessen und dem zuständigen Jugendamt Frankfurt/M. dergestalt erfolgt, dass der
LWV Hessen lediglich den Vergütungssatz für die vollstationäre Betreuung in Höhe
von derzeit 139,43 € trägt. Die Differenz der Kosten zum Mutter-Kind-Bereich in
Höhe von 65,86 € wären sodann vom zuständigen Jugendamt zu tragen.“
U.a. die Beklagte erhielt eine Durchschrift dieses Schreibens.
Das Jugendhilfezentrum J.stift teilte dem Kläger daraufhin mit Schreiben vom
3.4.2003 mit, dass die gemeinsamen Wohnformen für Mütter/Väter und Kinder
gemäß § 19 SGB VIII als pädagogische Einheit angesehen werden müssten, für die
ein gemeinsames Entgelt gelte. Es verwies in diesem Zusammenhang auf eine
gemäß § 78a ff. SGB VIII geschlossene hessische Rahmenvereinbarung, die auch
für das Jugendhilfezentrum gelte. Mit Bescheid vom 8.4.2003 erklärte sich der
Kläger bereit, die Kosten für die Mutter-Kind-Betreuung im J.stift in Wiesbaden ab
1.4.2003 bis zum 31.3.2004 zu übernehmen. Die Kostenübernahme erfolgte durch
das Referat Behindertenhilfe BSHG des Klägers. In der Begründung des Bescheids
heißt es u.a.:„Wir übernehmen für Sie die notwendige sonstige Eingliederungshilfe
in der im Briefkopf näher bezeichneten Einrichtung u.a. auf der Grundlage der §§
28, 39, 40 Abs. 1 Nr. 8, § 43 und § 100 Abs. 1 Nr. 1 Bundessozialhilfegesetz.“
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Mit an die Beklagte gerichtetem Schreiben vom 8.5.2003 übersandte der Kläger
eine Mehrausfertigung der Kostenübernahme und bat zugleich darum, kurzfristig
zu bestätigen, dass von der Beklagten die Kosten ab der Geburt des Kindes in
Höhe von 65,86 € getragen werden. Mit Schreiben vom 4.7.2003 teilte die
Beklagte mit, dass sie für die Hilfegewährung für das am 12.4.2003 geborene Kind
örtlich nicht zuständig sei. Es sei Frau K. geraten worden, einen Antrag auf Hilfe zur
Erziehung beim Jugendamt der Stadt Wiesbaden zu stellen.
Der Kläger machte schließlich mit Schreiben vom 14.9.2004 gegenüber der
Beklagten einen Erstattungsanspruch für die Betreuungskosten von Frau S. K. und
ihres Sohnes Niklas ab dessen Geburt am 12.4.2003 geltend. Die gewährte Hilfe
beurteile sich nach § 19 SGB VIII. Aufgrund ungeklärter Zuständigkeit seien die
Leistungen gemäß § 2 Abs. 1 BSHG erbracht worden. Es habe eine rechtliche
Verpflichtung des Klägers zur Leistungsgewährung bestanden. Die Beklagte lehnte
mit Schriftsatz vom 28.10.2004 die begehrte Kostenerstattung ab.
Der Kläger hat am 31.1.2005 Klage erhoben. Er ist der Ansicht, dass die Beklagte
zur Kostenerstattung verpflichtet sei. Die Frau K. und ihrem Sohn erbrachte Hilfe
sei nach § 19 SGB VIII erbracht worden. Diese stelle eine Einheit dar, so dass
sowohl für die Hilfe für das Kind als auch für die Hilfe an die Mutter der Träger der
Jugendhilfe zuständig sei. Daher sei die Beklagte vorrangig zur Leistung
verpflichtet. Dass Ungewissheit über die Leistungsverpflichtung des Klägers
bestanden habe, sei dadurch dokumentiert, dass zunächst nur eine Kostenzusage
über einen (offensichtlich nicht zu trennenden) Teil der Gesamtleistung erbracht
wurde.
Der Kläger beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger die vom 12..4.2003 bis 15.8.2004
entstandenen Kosten für S. K. und ihren Sohn Niklas K. in Höhe von 107.020,84 €
nebst 5 % Zinsen seit Rechtshängigkeit der Klage zu erstatten.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Die Beklagte ist der Ansicht, der Kläger habe keine vorläufige Leistung erbracht,
sondern er habe als nicht zuständiger Leistungsträger geleistet. Da es sich um
eine Unterbringung gemäß § 19 SGB VIII gehandelt habe, sei das zuständige
Jugendamt zur Tragung der Kosten verpflichtet. Der Kläger habe aber nach den §§
28, 39, 40, 43 und 100 BSHG Eingliederungshilfe geleistet, was sich aus dem
Kostenübernahmebescheid ergebe. Habe es sich aber um Eingliederungshilfe
gehandelt, könne der Kläger keine Kostenerstattung wegen Unterbringung gemäß
§ 19 SGB VIII verlangen. Die einschlägigen Behördenakten des Klägers und der
Beklagten lagen dem Gericht vor.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Klage ist nicht begründet. Dem Kläger steht der auf § 102 SGB X
gestützte Erstattungsanspruch gegenüber der Beklagten nicht zu.
Gemäß § 102 Abs. 1 SGB X ist ein zur Leistung verpflichteter Leistungsträger
erstattungspflichtig, wenn ein (anderer) Leistungsträger auf Grund gesetzlicher
Vorschriften vorläufig Sozialleistungen erbracht hat. In der Rechtsprechung des
Bundessozialgerichts zu § 102 SGB X ist geklärt, dass der Wille des
erstattungsbegehrenden Leistungsträgers, entweder für einen anderen oder im
Hinblick auf die ungeklärte Zuständigkeit leisten zu wollen, nach außen erkennbar
sein muss (BSG, Urt. v. 28..3.1984 - 9a RV 50/82, SozR 1300 § 102 Nr. 1 =
ZfSH/SGB 1985, 29; BSG, Urt. v. 14.5.1985 - 4a RJ 13/84, SozR 1300 § 105 Nr. 1;
ebenso von Wulffen, SGB X, 4. Aufl., München 2001, § 102 Rdnr. 6; Diering u.a.,
LPK-SGB X, Baden Baden 2004, § 102 Rdnr. 18). Zudem muss die
Charakterisierung als vorläufige und nicht als endgültige Leistung von Anfang an
feststehen (BSG, Urt. v. 22.5.1985 - 1 RA 33/84, BSGE 58, 119, 121). In erster Linie
ist hierbei auf den Inhalt des einschlägigen Bewilligungsbescheides abzustellen,
aus dem u. a. für den Leistungsberechtigten deutlich hervorgehen muss, dass nur
eine vorläufige Leistung erbracht wird. Dem entsprechenden Bescheid des Klägers
vom 8.4.2003 lässt sich ein solcher Wille jedoch in keiner Weise entnehmen.
Vielmehr werden als gesetzliche Grundlage der Kostenübernahme die §§ 28, 39,
40 Abs. 1 Nr. 8, § 43 und § 100 Abs. 1 Nr. 1 BSHG angegeben. Zwar mag diese
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40 Abs. 1 Nr. 8, § 43 und § 100 Abs. 1 Nr. 1 BSHG angegeben. Zwar mag diese
Gesetzesangabe inhaltlich korrekt gewesen sein, da der Kläger als überörtlicher
Sozialhilfeträger Leistungen, auch vorläufige, nur im Rahmen des BSHG erbringen
konnte. Um rechtlichen Unklarheiten zu begegnen, hätte er jedoch gegenüber der
Empfängerin der Leistung, Frau S. K., deutlich machen müssen, dass es sich nur
um eine vorläufige Leistung handelt.
Auch gegenüber der Beklagten, die eine Mehrfertigung des Bewilligungsbescheides
vom 8.4.2003 erhalten hatte, brachte der Kläger nicht mit der erforderlichen
Klarheit zum Ausdruck, dass nur vorläufig geleistet wird. Zwar bat der Kläger mit
an die Beklagte gerichtetem Schreiben vom 8.5.2003, den ab der Geburt des
Kindes der Frau K. am 12.4.2003 für dieses anfallenden Anteil in Höhe von 65,86 €
zu übernehmen. Auch in diesem Schreiben kam jedoch nicht mit der
erforderlichen Deutlichkeit zum Ausdruck, dass nur vorläufig geleistet wird.
Ohnehin ergibt sich daraus, dass der Kläger zum damaligen Zeitpunkt offenbar
selbst davon ausging, jedenfalls für Frau K. weiterhin selbst leistungspflichtig zu
sein. Auf das Antwortschreiben der Beklagten vom 4.7.2003 reagierte der Kläger
zunächst nicht mehr. Allerdings hat der Kläger bereits zuvor mit Schreiben vom
5.2.2004 gegenüber der Beklagten erneut die Ansicht vertreten, dass die Beklagte
leistungsverpflichtet sei. Unbeschadet dessen teilte der Kläger der
Hilfeempfängerin, Frau S. K., mit Schreiben vom 27.4.2004 mit, dass er bereit sei,
„bis 31.12.2004 die Betreuungskosten (...) im Rahmen der Eingliederungshilfe
gemäß §§ 39, 40 Abs. 1 Nr. 8 und 100 Bundessozialhilfegesetz aus
Sozialhilfemitteln weiterhin zu übernehmen“. Auch hier hat es der Kläger
unterlassen, darauf hinzuweisen, dass es sich um eine nur vorläufige
Leistungserbringung handelt. Eine Mehrausfertigung dieses Schreibens wurde
nach Aktenlage offenbar allein an die Einrichtung, nicht aber an die Beklagte
übersandt. Diese bekräftigte jedoch mit Schreiben vom 16.6.2004 ihre
Rechtsposition gegenüber dem Kläger. Sein Erstattungsbegehren machte dieser
schließlich mit Schreiben vom 14.9.2004 geltend.
Es wäre dem Kläger ohne weiteres möglich gewesen, für alle Beteiligten, somit
auch für die Leistungsempfängerin, deutlich zu machen, dass nur eine vorläufige
Leistungserbringung erfolgt. Dies ist jedoch nicht erfolgt. Somit muss der Klage
der Erfolg versagt bleiben.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 167 VwGO i.V.
mit §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.
Gründe, die Berufung zuzulassen, liegen nicht vor.
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert.