Urteil des VG Frankfurt (Main) vom 26.03.1998

VG Frankfurt: behinderung, verhinderung, lese, rechtschreibschwäche, alter, merkblatt, krankenkasse, unterricht, legasthenie, verwaltungsverfahren

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Gericht:
VG Frankfurt 8.
Kammer
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
8 G 618/98
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Leitsatz
Neben schulischer Förderung kann die Behandlung einer Lese - Rechtschreibschwäche (
Legasthenie) nach § 35 a Abs. 1 Satz 1 SGB VIII zur Verhinderung des Eintritts
seelischer Behinderung auf Kosten des Jugendamtes im Einzelfall verlangt werden.
Tenor
Die Antragsgegnerin wird verpflichtet, dem Antragsteller für bis zu acht
Stunden Förderunterricht (Legasthenietherapie) monatlich im ... bis zu 520,00 DM
als Eingliederungshilfe gemäß § 35 a Abs. 1 SGB VIII vorläufig zu bewilligen.
Die Antragsgegnerin hat die Kosten des Verfahrens, das gerichtkostenfrei ist,
zu tragen.
Gründe
Die Antragsgegnerin war antragsgemäß zu verpflichten, da der Antragsteller einen
Anordnungsanspruch und -grund glaubhaft gemacht hat. Da der Antragsteller im
Eilantrag selbst "den Umfang" seines Begehrens nicht näher beschrieben hat, legt
das Gericht die von der Mutter an die Antragsgegnerin gerichtete Forderung
gemäß Schreiben vom 22.08.1997 zugrunde, die in Übereinstimmung mit der vom
... beschriebenen notwendigen Anzahl von Förderstunden steht.
Gemäß § 35 a SGB VIII ist Kindern Hilfe zu gewähren, soweit sie von seelischer
Behinderung bedroht sind. Vorliegend wird von der Antragsgegnerin nicht in
Abrede gestellt, daß der Antragsteller an einer Lese- und Rechtschreibschwäche
(Legasthenie) leidet, die auch "behandlungsbedürftig" ist. Im
Widerspruchsbescheid wird hierzu aber darauf abgestellt, daß "die multiaxiale
Diagnose nach dem Klassifikationsschema der WHO" fehle. Abgesehen davon, daß
das Gericht diese Aussage durch die im Klageverfahren vorgelegte Stellungnahme
des ... vom 17.12.1997 als widerlegt ansieht, vermag das Gericht auch nicht recht
zu erkennen, welchen zur Begründung der Leistungsablehnung geeigneten Schluß
die Antragsgegnerin hieraus in der Widerspruchsentscheidung eigentlich ziehen
will. Die angesprochene "klare Leistungsverpflichtung der ... wird jedenfalls von
dieser nicht gesehen (Schreiben vom 20.03.1997), das Gericht kann auch keinen
Grund erkennen, weshalb eine Leistungspflicht für die hier in Streit stehenden
Förderungsmaßnahmen (Legasthenietherapie) seitens der Krankenkasse
bestehen sollte. Im übrigen ist das Gericht der Auffassung, daß bei einem
bestehenden Hilfebedarf, bei dem das Jugendamt die Einstandspflicht eines
anderen Trägers von Sozialleistungen als gegeben erachtet, nach dem Sinn und
Zweck des § 35 a SGB VIII nicht auf nur auf dem Rechtsweg durchzusetzende
angebliche Ansprüche verweisen darf (Argument aus § 10 Abs. 2 SGB VIII und § 2
Abs. 1 BSHG, wonach der Sozialhilfeträger nur auf kurzfristig realisierbare
Ansprüche gegen andere als Selbsthilfemöglichkeit verweisen kann).
Daß vorliegend die Voraussetzungen des § 35 a SGB VIII für eine Leistungspflicht
des Jugendamtes glaubhaft gemacht sind, sieht das Gericht – unabhängig von der
angesprochenen Frage, ob möglicherweise die Krankenkasse auch
leistungspflichtig wäre – als erwiesen an.
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Ausweislich der im Verwaltungsverfahren und bei Gericht eingereichten Unterlagen
(Bescheinigungen des ... vom 07.03.1997 und vom 05.04.1997 und
Stellungnahme der Klassenlehrerin vom 02.06.1997) langen schulische
Förderungsmaßnahmen nicht aus, die vorhandene Lese-/Rechtschreibschwäche
(LRS) zu bewältigen. Daß diese Bewältigung auch (dringlich), erforderlich ist, um
eine seelische Bedrohung abzuwenden, sieht das Gericht ebenfalls als glaubhaft
gemacht an. Der Hinweis im Widerspruchsbescheid, daß nach den vorgelegten
Bescheinigungen "emotionale Störungen im engeren Sinne noch nicht vorliegen
und ... wegen seiner LRS vor einer drohenden seelischen Belastung zu bewahren
sei", schließt jedenfalls nach Auffassung des Gerichts das Vorliegen der
Voraussetzungen nach § 35 a Abs. 1 Satz 1 SGB VIII nicht aus. Da dort ein
Anspruch schon bei drohender seelischer Behinderung begründet wird, darf sicher
nicht abgewartet werden, bis eine solche nachgewiesen ist. Gerade zur
Verhinderung ihres Eintritts soll Hilfe gewährt werden. Daß ein – wie auch immer
gearteter – gewahrter sozialhilferechtlicher Standard vorliegend eine Tätigkeit des
Jugendamtes erübrigen würde, kann schon deshalb nicht bejaht werden, weil –
unabhängig davon, daß die Antragsgegnerin diesen weder näher beschrieben hat,
noch das Vorliegen im konkreten Fall festgestellt hat – die Klassenlehrerin
außerschulische Förderungsmaßnahmen für dringend geboten erachtete und auch
das ... "erfahrungsgemäß" die schulischen Angebote vorliegend für nicht
ausreichend ansah. Die von der Antragsgegnerin in ihrem Merkblatt zur
Eingliederungshilfe gemäß § 35 a SGB VIII vom 30.06.1997 getroffene Aussage,
ambulante lerntherapeutische Förderung könne nicht gewährt werden, da das
schulische Angebot gemäß den Richtlinien des Hess. Kultusministeriums eine
ausreichende Alternative zu den außerschulischen Angebote darstelle, so daß
keine regelhafte Verpflichtung des Jugendamtes bestehe, übersieht, daß aus der
Feststellung einer Zuständigkeit (hier zur Förderung bei LRS) und der Anweisung,
Angebote zu leisten, noch keinerlei tatsächliche Auswirkungen für den Betroffenen
folgen. Erst wenn festgestellt werden könnte, daß tatsächlich die von Fachleuten
für notwendig erachtete Förderung auch in ausreichendem Umfang angeboten
wird, kann von einer "ausreichenden Alternative zu außerschulischen Angeboten"
gesprochen werden. Wenn aber die Klassenlehrerin selbst außerschulische
Förderungsmaßnahmen für dringend geboten hält, muß das Gericht jedenfalls im
Eilverfahren davon ausgehen, daß die aus pädagogischer Sicht erforderliche
Förderung schulischerseits nicht geleistet wird. Daß eine solche Förderung zur
Verhinderung des Eintritts seelischer Behinderungen notwendig ist, ergibt sich
neben den Ausführungen des ... auch aus auf der Hand liegenden Überlegungen.
Kein Kind in dem Alter, in dem es mit dem Lesen und Schreiben erstmals (und
dann verstärkt) vertraut gemacht wird, also im Grundschulalter, wird in der Lage
sein, problemlos für die eigene schulische Entwicklung zu akzeptieren, daß eine
medizinische Ursache (wie auch immer sie begründet sein mag) es ihm nicht
ermöglicht, die geforderten und von allen Gleichaltrigen – mehr oder weniger gut
und leicht zu erbringenden – Anforderungen im Lesen und Schreiben nicht zu
erfüllen und sich mit dieser Feststellung zufrieden geben. Vielmehr wird ein Kind in
diesem Alter – auch wenn es keine Noten wegen der LRS bekommt – seine von
ihm bemerkten Leistungsdefizite als Versagen empfinden und reagieren. Ein
Verhalten, wie es die Lehrerin beschreibt, das grob als zurückziehen (Verweigerung
von Mitarbeit) und Stören im Unterricht beschrieben werden kann, ist eine
mögliche Reaktion des betroffenen Kindes, die noch nicht unbedingt als Folge
seelischer Behinderung zu sehen ist. Es ist aber evident, daß die Reaktionen von
Lehrern und Mitschülern auf ein solches Verhalten leicht weitere
Verhaltensänderungen nach sich ziehen und insbesondere zu geänderter
Wertschätzung der eigenen Persönlichkeit führen können, die dann schon sehr
schnell als seelische Behinderung i. S. d. Gesetzes anzusehen sind (ein Kind sieht
sich selbst als "Versager" und entwickelt Persönlichkeitsstörungen wie
Minderwertigkeitsgefühle oder Versagens- und Lernängste, die schnell körperliche
Reaktionen nach sich ziehen können). Solche drohenden Folgeerscheinungen der
LRS bedingen Maßnahmen der Eingliederungshilfe, nicht die LRS selbst, die
zurecht in o. a. Merkblatt nicht als seelische Behinderung bezeichnet wird; sie sind
die Behinderungen, vor denen es zu bewahren gilt. Das Gericht verkennt nicht, daß
eine Verpflichtung der Jugendämter, außerschulische Förderung bei LRS zu
bewilligen, die Aufgabenverteilung innerhalb der staatlichen Organisationen betrifft,
insbesondere geeignet ist, die auch auf Sparen bedachte Schulverwaltung auf den
Gedanken bringen könnte, es bei einem nicht ausreichenden Angebot zu
belassen. Betroffene Schüler würden nämlich im Ergebnis auf Kosten anderer
Träger die notwendige Hilfe außerschulisch erhalten. Auch wird nicht übersehen,
daß Standards für Hilfen nahezu beliebig hoch geschraubt werden können, je nach
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daß Standards für Hilfen nahezu beliebig hoch geschraubt werden können, je nach
dem für wie dringlich man die Notwendigkeit einer Abhilfe beschreibt. Selbst wenn
also schulische Angebote im Umfang der hier für notwendig angesehenen privaten
zusätzlichen Maßnahmen vorhanden wären, ließe sich möglicherweise begründen,
daß weitere zusätzliche Förderungen einer schnelleren Behebung der vorhandenen
Beeinträchtigung dienlich und daher geboten wäre. Hier ist es jedoch die Aufgabe
von Psychologen und/oder Pädagogen, Grenzen zwischen unbedingt notwendiger
und noch wünschenswerter Hilfestellung zu ziehen. Daß diese vorliegend bei
höchstens zweistündiger zusätzlicher außerschulischer Förderung pro Woche vom
Notwendigen zur wünschenswerten hin überschritten wäre, vermag das Gericht
nicht zu erkennen, so daß der von der Mutter in Übereinstimmung mit der
Empfehlung des ... geforderte Betrag (Schreiben vom 22.08.1997) von monatlich
520,00 DM für bis zu 8 Stunden Unterricht vorläufig zu bewilligen ist (Obergrenze
nach Abrechnung).
Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1, 188 Satz 2 VwGO.
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert.