Urteil des VG Frankfurt (Main) vom 10.09.2007

VG Frankfurt: die post, schule, stadt, eltern, unterrichtung, zustellung, kommunikation, unterlassen, verwaltungsgerichtsbarkeit, empfehlung

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Gericht:
VG Frankfurt 5.
Kammer
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
5 G 2532/07
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
§ 50 HSchulG HE, § 123 VwGO
Separieren von Zwillingen im Unterricht des ersten
Schuljahres
Tenor
Der Antrag wird abgelehnt.
Die Kosten des Verfahrens haben die Antragstellerinnen nach gleichen Teilen zu
tragen.
Der Streitwert wird auf 5.000,-- Euro festgesetzt.
Gründe
I.
Die am 8. Juli 1999 geborenen Antragstellerinnen sind eineiige Zwillinge,
wiederholen derzeit auf der Z-schule in Frankfurt am Main die erste Jahrgangsstufe
und begehren, einstweilen gemeinsam dort in einer Klasse unterrichtet zu werden.
Auf Anträge der Z-schule vom 21. Dezember 2006 wurde für beide
Antragstellerinnen ein Verfahren zur Überprüfung und Feststellung
sonderpädagogischen Förderbedarfs eingeleitet. Unter dem 21. März 2007 wurden
sowohl für die Antragstellerin zu 1) (unvollständig als Blatt 13 bis 24 der Akten 5 E
1555/07 [V]) als auch die Antragstellerin zu 2) (unvollständig als Blatt 27 bis 37
derselben Akten) Sonderpädagogische Gutachten erstellt, die jeweils zu der
Empfehlung kamen, einen Förderbedarf im Bereich Lernhilfe auszusprechen.
Hinsichtlich der Antragstellerin zu 2) stellte das Staatliche Schulamt für die Stadt
Frankfurt am Main durch Bescheid vom 2. April 2007 (Blatt 25 f. der Akten 5 E
1555/07 [V]) sonderpädagogischen Förderbedarf fest. Hiergegen legten ihre Eltern
mit Schreiben vom 10. April 2007 (Blatt 9 f der Akten 5 E 1555/07 [V]) Widerspruch
ein, zu dessen Begründung sie unter anderem den Wunsch anführten, dass die
Antragstellerinnen nach den Sommerferien „zusammen“ die erste Klasse
wiederholen sollten. Durch Widerspruchsbescheid vom 27. April 2007 (Blatt 2 bis 8
der Akten 5 E 1555/07 [V]) wies das Staatliche Schulamt für die Stadt Frankfurt
am Main den Widerspruch zurück; bekannt gegeben wurde dieser
Widerspruchsbescheid der Antragstellerin zu 2) im Wege der Zustellung an ihre
Eltern durch die Post mit Zustellungsurkunde am 4. Mai 2007 (Blatt 12 der
Beiakten I zur Sache 5 E 1555/07 [V]).
Hinsichtlich der Antragstellerin zu 1) stellte das Staatliche Schulamt für die Stadt
Frankfurt am Main durch Bescheid vom 26. April 2007 (Blatt 11 f. der Akten 5 E
1555/07 [V]) sonderpädagogischen Förderbedarf fest. Hiergegen legten ihre Eltern
mit einem dem Schreiben vom 10. April 2007 entsprechenden Schreiben vom 2.
Mai 2007 (Blatt 1 f. der Beiakten III zur Sache 5 E 1555/07 [V]) Widerspruch ein,
den das Staatliche Schulamt für die Stadt Frankfurt am Main durch
Widerspruchsbescheid vom 29. Mai 2007 (Blatt 3 bis 7 derselben Beiakten)
zurückwies. Bekannt gegeben wurde dieser Widerspruchsbescheid der
Antragstellerin zu 1) im Wege der Zustellung an ihre Eltern durch die Post mit
Zustellungsurkunde am 5. Juni 2007 (Blatt 8 derselben Beiakten).
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Bereits am 29. Mai 2007 ist vor dem Verwaltungsgericht Frankfurt am Main von
beiden Antragstellerinnen durch ihre Eltern mit Schriftsatz vom 25. Mai 2007 Klage
erhoben worden, die unter der Geschäftsnummer 5 E 1555/07 (V) geführt wird und
über die bislang nicht entschieden ist. In diesem Klageverfahren ist zur
Antragstellerin zu 2) das Privatgutachten des Dipl.-Psych. Dr. D. vom 27. Juni 2007
(Bl. 53 bis 57 der Akten 5 E 1555/07 [V]) vorgelegt worden.
Mit am 4. September 2007 eingegangenem Schriftsatz vom 30. August 2007
haben die Antragstellerinnen angeführt, zwar nunmehr nochmals in der ersten
Klasse unterrichtet zu werden - womit sie einverstanden seien -, aber auf zwei
verschiedene Klassen verteilt zu sein, und den Erlass einer einstweiligen
Anordnung des Inhalts beantragt, bis zur Entscheidung über die Klage 5 E 1555/07
(V) auf der Z-schule in ein und derselben Klasse im ersten Schuljahr unterrichtet
zu werden.
Der Antragsgegner ist dem Begehren mit Schriftsatz vom 6. September 2007
entgegengetreten.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichtsakten
einschließlich des Inhalts der beigezogenen Gerichtsakten des Klageverfahrens zur
Geschäftsnummer 5 E 1555/07 (V) sowie der beigezogenen Behördenakten zu den
Verwaltungsverfahren (Beiakten I und III zur Sache 5 E 1555/07 [V]) einschließlich
der Verfahren zur Überprüfung und Feststellung sonderpädagogischen
Förderbedarfs (Beiakten II und IV zur Sache 5 E 1555/07 [V]) Bezug genommen,
der Gegenstand der Beratung gewesen ist.
II.
Der Antrag ist abzulehnen (1.), wobei die Kosten des Verfahrens den
Antragstellerinnen zu gleichen Teilen zur Last fallen (2.) und der Streitwert auf die
doppelte Hälfte des gesetzlichen Auffangstreitwerts festzusetzen ist (3.).
1. Dahingestellt bleiben kann, ob für die Antragstellerinnen - die bereits im
vergangenen Schuljahr getrennt voneinander unterrichtet wurden - nunmehr ein
Anordnungsgrund besteht und worin dieser liege, denn der Antrag, durch Erlass
einer einstweiligen Anordnung den Antragsgegner anzuhalten, bis zur
Entscheidung im Klageverfahren 5 E 1555/07 (V) die Antragstellerinnen
gemeinsam in einer Klasse zu unterrichten (a.) und zwar in der Z-schule (b.) muss
erfolglos bleiben, da die Antragstellerinnen entsprechende Anordnungsansprüche
nicht glaubhaft gemacht haben (§ 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2, § 294
ZPO).
a. Ein Anspruch der Antragstellerinnen darauf, gemeinsam in einer Klasse
unterrichtet zu werden, ist nicht ersichtlich. Dieser könnte sich allenfalls daraus
ergeben, dass sich das Organisationsermessen der Z-schule auf Null reduziert
hätte; dafür spricht indes nichts. Der Antragsgegner hat in den
Sonderpädagogischen Gutachten von Frau S. jeweils vom 21. März 2007 - der
Beurteilung des Schulpsychologen P. folgend - nachvollziehbar dargestellt, warum
eine getrennte Unterrichtung der beiden Antragstellerinnen geboten sei.
Ausgangspunkt ist die hinsichtlich der Antragstellerin zu 1) auf Seite 11 f. und
hinsichtlich der Antragstellerin zu 2) auf Seite 12 dieser Gutachten getroffene
Feststellung:
„[Die jeweilige] Zwillingsschwester ist ebenfalls extrem ängstlich und spricht
gleichfalls im Schulunterricht so gut wie nie. Beide Mädchen sind sehr eng
aufeinander bezogen; sie schlafen zusammen in einem Bett und sind stets gleich
gekleidet. [...] Während der Überprüfungssituation wurde beobachtet, dass sich die
Mädchen in ihrer Symptomatik gegenseitig bestärken; ...“
Im Wesentlichen inhaltsgleich wird sodann festgestellt, dass die extrem enge
Verbundenheit der Antragstellerinnen sie auch an der Wahrnehmung und
Differenzierung der eigenen Individualität hindere. Weiter wird zur Antragstellerin
zu 1) ausgeführt, die Antragstellerinnen hätten „eine eigene, sprachlose
Kommunikation“ untereinander entwickelt. Übereinstimmend stellen die
Sonderpädagogische Gutachten fest:
„Die Einschätzung des Schulpsychologen und der beiden Klassenlehrerinnen,
dass die Mädchen unbedingt in zwei verschiedenen Klassen beschult werden
sollten, wird daher von mir ausdrücklich geteilt.“
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Der Ansatz, die Entwicklung zur individuellen Persönlichkeit durch getrennte
Unterrichtung zu fördern, ist damit schlüssig dargetan. Hervorzuheben sind die
Feststellungen, dass das Sprachvermögen der Antragstellerin zu 1) „bei weitem
nicht den Stand eines Schulkindes“ habe (vgl. Seite 10 des Sonderpädagogischen
Gutachtens), sie auch sprachfreie Aufgaben kognitiv nicht erfasse (a.a.O. Seite
11), und ebenso die Antragstellerin zu 2) „mit den sprachlichen Anforderungen
des Unterrichts der 1. Klasse völlig überfordert“ sei (Seite 11 des
Sonderpädagogischen Gutachtens). Verbunden mit der extremen Bezogenheit der
Antragstellerinnen aufeinander einschließlich ihrer eigenen, sprachlosen
Kommunikation würde so durch eine gemeinsame Unterrichtung einer
Abkapselung Vorschub geleistet, die - nicht nur für den weiteren schulischen
Werdegang der Antragstellerinnen - nicht in ihrem Sinn sein kann.
Nach der im vorläufigen Rechtsschutzverfahren allein möglichen summarischen
Prüfung folgen aus dem Privatgutachten des Dipl.-Psych. Dr. D. vom 27. Juni 2006
zur Antragstellerin zu 2) keine durchgreifenden Bedenken. Dr. D. gelangt auf Seite
4 seines Privatgutachtens zu folgender Einschätzung:
„Meines Erachtens ist der wohlmeinende Rat, die Zwillinge bereits ab der
ersten Klasse zu separieren, um ihre Eigenständigkeit zu fördern, in diesem Falle
zu früh und nicht förderlich; er trägt nur zur weiteren Verunsicherung bei. Ich
denke, es ist der persönlichen Entwicklung der Kinder zuträglich, den Reifegrad der
Individuation natürlich wachsen zu lassen und keine vorzeitigen Trennungen
herbeizuführen, die lediglich das postnatale Trennungstraumata wiederbeleben.
Neuere Forschungen haben ergeben, dass frühgeborene Zwillinge, die nach der
Geburt in zwei getrennten Inkubatoren verpflegt werden mussten, unter schweren
Trennungsängsten leiden, die bis in das Erwachsenenalter hineinreichen können.
Unter diesem Aspekt wäre es nicht nur sinnvoll, sondern erstes Gebot, [die
Antragstellerinnen] zunächst zusammen zu beschulen, sie sollten m. E. jedoch
nicht nebeneinander sitzen.“
Diese Einschätzung geht höchstens indirekt auf die im Sonderpädagogischen
Gutachten von Frau S. - auch aufgrund der Unterrichtssituation - getroffene
Feststellung der extremen Bezogenheit beider Antragstellerinnen aufeinander ein,
indem geraten wird, dass beide „jedoch nicht nebeneinander sitzen“ sollten. Dass
die ausweislich der Beiakten II und IV zur Sache 5 E 1555/07 (V) auf einer
differenzierten und detaillierten Feststellung beruhende Einschätzung der
Sonderpädagogischen Gutachten vom 21. März 2007 nicht vertretbar sei, ist dem
Privatgutachten Dr. D.s gerade nicht zu entnehmen. Vielmehr gelangt er bei im
Wesentlichen entsprechenden Feststellungen zu einem anderen
Lösungsvorschlag, der - vielleicht oder auch nicht - die hemmende, extreme
Bezogenheit der beiden Antragstellerinnen aufeinander irgendwann lösen könnte,
keinesfalls aber als die allein mögliche Vorgehensweise erscheint. Damit aber fehlt
es an einem Anordnungsanspruch der Antragstellerinnen.
Mithin bedarf es keines Eingehens darauf, dass eine gemeinsame Beschulung
beider Antragstellerinnen in einer Klasse entweder zu einer noch weitergehenden
Überschreitung der festgesetzten Klassengröße oder aber zu einem Wechsel von
einer anderen Schülerin oder einem anderen Schüler führen würde, die oder den
das Gericht zwar zu beteiligen hätte, aber nicht zu bestimmen vermag.
b. Ein Anspruch der Antragstellerinnen darauf, bis zur Entscheidung im
Klageverfahren 5 E 1555/07 (V) auf der Z-schule als allgemeiner Schule
unterrichtet zu werden, mithin ungeachtet des festgestellten
Sonderpädagogischen Förderbedarfs jedenfalls eine Überweisung an die
Förderschule zu unterlassen, besteht ebenso wenig. Aufgrund der eingehenden,
den Beiakten II und IV zur Sache 5 E 1555/07 (V) im Einzelnen zu entnehmenden
Überprüfungen bestehen keine begründete Zweifel daran, dass bei beiden
Antragstellerinnen ein sonderpädagogischer Förderbedarf gegeben ist. Hiervon
weicht auch Dr. D. in seinem Privatgutachten vom 27. Juni 2007 hinsichtlich der
von ihm untersuchten Antragstellerin zu 2) nicht ab, wenn er aufgrund der von ihm
durchgeführten Untersuchungen zur Feststellung einer Teilleistungsstörung im
sprachlichen Bereich gelangt (vgl. Seite 4).
Von daher sollten die in den Bescheiden des Staatlichen Schulamtes für die Stadt
Frankfurt am Main vom 2. April 2007 und 26. April 2007 getroffenen Feststellungen
des sonderpädagogischen Förderbedarfs der Antragstellerinnen nicht als deren
Abqualifizierung, sondern als Chance und Teil des Bemühens, aus den
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Abqualifizierung, sondern als Chance und Teil des Bemühens, aus den
vorgegebenen Befähigungen und Fertigkeiten das für die Antragstellerinnen
Bestmögliche werden zu lassen, verstanden werden.
2. Die Kosten des Verfahrens haben die Antragstellerinnen nach Kopfteilen gemäß
§ 154 Abs. 1 VwGO, § 100 Abs. 1 ZPO i.V.m. § 173 Satz 1 VwGO zu tragen, weil sie
unterlegen sind.
3. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 53 Abs. 3 Nr. 2 i.V.m. § 52 Abs. 1, 2 GKG.
Dabei geht das Gericht für jede Antragstellerin vom Auffangstreitwert des § 52
Abs. 2 GKG in Höhe von 5.000,-- Euro aus, ermäßigt diesen aber im Hinblick
darauf, dass es sich um ein Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes handelt, auf
die Hälfte (vgl. Nr. 1.5 des Streitwertkataloges für die Verwaltungsgerichtsbarkeit
in der Fassung der am 7./8. Juli 2004 in Leipzig beschlossenen Änderungen,
abrufbar über www.bverwg.de), so dass sich insgesamt ein Betrag von 5.000,--
Euro ergibt.
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert.