Urteil des VG Frankfurt (Main) vom 26.02.2004

VG Frankfurt: zumutbare arbeit, arbeitsunfähigkeit, arbeitskraft, erwerbstätigkeit, selbsthilfe, arbeitsamt, arbeitsmarkt, anwendungsbereich, ausstellung, quelle

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Gericht:
VG Frankfurt 3.
Kammer
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
3 G 653/04
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Norm:
§ 25 Abs 1 BSHG
Rückdatierung einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung
Leitsatz
Eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung, die entgegen § 31 Bundesmantelvertrag-Ärzte
und der dazu ergangenen Richtlinie rückwirkend für nahezu einen Monat
Arbeitsunfähigkeit bescheinigt, erweist sich als Gefälligkeitsattest und vermag den
Vorwurf, zumutbare Arbeit zu verweigern, nicht auszuräumen
Tenor
Der Antrag wird abgelehnt.
Die Kosten des Verfahrens werden dem Antragsteller auferlegt.
Gründe
Der am 12.02.2004 gestellte Antrag,
die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, dem
Antragsteller ergänzende Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem
Bundessozialhilfegesetz zu gewähren, hat keinen Erfolg.
Nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO kann eine einstweilige Anordnung zur Regelung
eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis erlassen
werden, wenn diese Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile oder zur
Verhinderung drohender Gewalt oder aus anderen Gründen notwendig erscheint.
Die tatsächlichen Voraussetzungen des geltend gemachten Anspruchs
(Anordnungsanspruch) und der Grund der Eilbedürftigkeit (Anordnungsgrund) sind
glaubhaft zu machen, § 123 Abs. 3 VwGO i. V. m. § 920 Abs. 2 ZPO.
Im vorliegenden Fall hat der Antragsteller einen Anordnungsanspruch nicht
glaubhaft gemacht. Der Glaubhaftmachung des Anordnungsanspruchs steht die
Vorschrift des § 25 Abs. 1 Bundessozialhilfegesetz - BSHG - entgegen. Nach dieser
Vorschrift hat keinen Anspruch auf Hilfe zum Lebensunterhalt, wer sich weigert,
zumutbare Arbeit zu leisten. Nach der Rechtsprechung des
Bundesverwaltungsgerichts (Urteil vom 17.05.1995 - FEVS 46, 12 (14 ff )) dient §
25 Abs. 1 BSHG dazu, Maßnahmen der in §§ 18 ff BSHG geregelten Hilfe zur Arbeit
zu unterstützen. Im Hinblick auf das Verständnis des § 25 Abs. 1 BSHG als
Hilfenorm, deren Anwendung eine Hilfesuchenden zur Selbsthilfe durch Aufnahme
von (zumutbarer) Arbeit motivieren soll, tritt die anspruchsvernichtende Wirkung
von § 25 Abs. 1 BSHG nur dann ein, wenn ein Hilfesuchender durch sein Verhalten
zum Ausdruck bringt, dass ihm der Wille zur Selbsthilfe durch Einsatz seiner
Arbeitskraft fehlt.
Fehlende oder mangelnde Arbeitsbereitschaft in diesem Sinne zeigt sich
insbesondere darin, dass der Hilfesuchende unberechtigt - sei es ausdrücklich, sei
es konkludent - ablehnt, eine ihm vom Arbeitsamt, dem Sozialhilfeträger oder
einem Dritten angebotene oder nachgewiesene konkrete Erwerbstätigkeit
aufzunehmen. Eine Weigerung kann sich auch darin ausdrücken, dass es ein
Hilfesuchender ohne hinreichenden Grund unterlässt, sich um zumutbare Arbeit zu
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Hilfesuchender ohne hinreichenden Grund unterlässt, sich um zumutbare Arbeit zu
bemühen. So verliert seinen Anspruch auf Hilfe zum Lebensunterhalt, wer es
ablehnt, sich bei Arbeitsamt als Arbeitssuchender zu melden oder
Vermittlungsversuche des Arbeitsamtes vereitelt. Auch Gleichgültigkeit oder
Nachlässigkeit bei der Inanspruchnahme der Vermittlungsdienste des
Arbeitsamtes können im Einzelfall ein Anzeichen für die Weigerung sein,
zumutbare Arbeit zu leisten.
Eine Weigerung im Sinne von § 25 Abs. 1 BSHG kann schließlich auch darin liegen,
dass ein Hilfesuchender es ablehnt, sich unabhängig von Bemühungen des
Arbeitsamtes oder des Sozialhilfeträgers selbst auf dem für ihn zugänglichen
Arbeitsmarkt einen Arbeitsplatz zu suchen. Die in § 18 Abs. 1 BSHG weitgefasste
Verpflichtung jedes Hilfesuchenden, seine Arbeitskraft zur Beschaffung des
Lebensunterhaltes einzusetzen, und der daran anknüpfende, § 25 Abs. 1 BSHG
innewohnende Hilfezweck, der Leistungskürzungen ermöglicht, um das
Selbsthilfestreben des Hilfesuchenden wieder herzustellen und zu fördern,
rechtfertigt nicht die Annahme, der Gesetzgeber habe die Weigerung, sich
selbständig um eine zumutbare Erwerbstätigkeit zu bemühen, gänzlich oder für
den Regelfall vom Anwendungsbereich des § 25 Abs. 1 BSHG ausschließen wollen
(vgl. Bundesverwaltungsgericht, a. a. O.; Hess. VGH, Beschluss vom 22.04.1996 -
9 TG 1366/96).
In Anwendung dieser Grundsätze ist davon auszugehen, dass sich der
Antragsteller weigert, zumutbare Arbeit zu leisten. Der Antragsteller war mit
Bescheid vom 21.10.2003 aufgefordert worden, im Interesse seiner beruflichen
Wiedereingliederung an dem Lehrgang "Integrationsmaßnahme zur Einmündung
auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt" im Job-Aktiv-Center M. teilzunehmen. Dieser
Lehrgang sollte vom 10. November 2003 bis zum 30. Januar 2004 stattfinden.
Aufgrund der Fehlzeiten des Antragstellers wurde der Lehrgang für seine Person
am 27.11.2003 abgebrochen.
Soweit der Antragsteller der Auffassung ist, dass darin keine Arbeitsverweigerung
im Sinne des § 25 Abs. 1 BSGH gesehen werden dürfe, weil er in der Zeit vom
18.11.2003 bis zum 12.12.2003 arbeitsunfähig erkrankt sei und dazu auf die
Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen der Dr. D. verweist, erweist sich dies als nicht
tragfähig. Diese Ärztin hatte dem Antragsteller am 19.11.2003 bescheinigt, seit
dem 18.11.2003 bis voraussichtlich den 19.11.2003 arbeitsunfähig erkrankt zu
sein. Mit einer Folgebescheinigung vom 12.12.2003 bescheinigte die Ärztin dem
Antragsteller dann, vom 18.11.2003 bis voraussichtlich den 12.12.2003
arbeitsunfähig erkrankt zu sein. Dieser Folgebescheinigung kommt indessen
keinerlei Aussagewert zu. Nach § 31 des Bundesmantelvertrag-Ärzte vom 19.
Dezember 1994, der nach § 95 Abs. 3 Satz 2 SGB V für die Vertragsärzte - und
damit auch für Dr. D. - verbindlich ist, darf die Beurteilung der Arbeitsunfähigkeit
und ihrer voraussichtlichen Dauer sowie die Ausstellung der Bescheinigung nur
aufgrund einer ärztlichen Untersuchung erfolgen. Näheres dazu bestimmen nach §
31 Satz 2 des Bundesmantelvertrages-Ärzte die Richtlinien des
Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen. Nach Ziff. 15 dieser Richtlinien
soll eine Arbeitsunfähigkeit für eine vor der ersten Inanspruchnahme des Arztes
liegende Zeit grundsätzlich nicht bescheinigt werden. Eine Rückdatierung des
Beginns der Arbeitsunfähigkeit auf einen vor dem Behandlungsbeginn liegenden
Tag ist ebenso wie eine rückwirkende Bescheinigung über das Fortbestehen der
Arbeitsunfähigkeit nur ausnahmsweise und nur nach gewissenhafter Prüfung und
in der Regel nur bis zu 2 Tagen zulässig. Die unter Verletzung dieser
Verpflichtungen dem Antragsteller von der Ärztin Dr. D. am 12.12.2003 für nahezu
einen Monat rückwirkend ausgestellte Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung erweist
sich daher als Gefälligkeitsattest und ist als Beleg für eine Arbeitsunfähigkeit des
Antragstellers für de Zeitraum vor dem Abbruch der Integrationsmaßnahme nicht
geeignet.
Im übrigen ist für eigene Bemühungen des Antragstellers, seine Arbeitskraft zur
Beschaffung des Lebensunterhaltes einzusetzen, nichts ersichtlich.
Diese Weigerung des Antragstellers, zumutbare Arbeit zu leisten, berechtigte die
Antragsgegnerin, wie mit Bescheid vom 01.12.2003 geschehen, und berechtigt die
Antragsgegnerin immer noch, die dem Antragsteller zustehende Hilfe zum
Lebensunterhalt um mindestens 25% des maßgebenden Regelsatzes zu kürzen, §
25 Abs. 1 Satz 2 BSHG. Da dies den Betrag der ergänzend gewährten Hilfe zum
Lebensunterhalt übersteigt, steht dem Antragsteller Hilfe zum Lebensunterhalt
nicht zu.
11 Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, wobei Gerichtskosten nicht
erhoben werden, § 188 Satz 2 VwGO.
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert.