Urteil des VG Frankfurt (Main) vom 15.07.1997

VG Frankfurt: vollstreckung der strafe, lebensgemeinschaft, ausweisung, öffentliche ordnung, aufenthaltserlaubnis, wohnung, ermittlungsverfahren, trennung, begriff, kriminalität

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Gericht:
VG Frankfurt 6.
Kammer
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
6 E 3043/95
Dokumenttyp:
Urteil
Quelle:
Norm:
§ 48 AuslG 1990
Leitsatz
1. Der besondere Ausweisungsschutz nach Art. 3. Abs. 3 des Europäischen
Niederlassungsabkommens (ENA) vom 13.12.1955 (BGBl. 1959 II, 997) entfällt unter
derselben Voraussetzung wie der besondere Ausweisungsschutz nach § 48 Abs. 1
AuslG, nämlich dann, wenn "schwerwiegende Gründe" der öffentlichen Sicherheit und
Ordnung die Ausweisung rechtfertigen (im Anschluß an BVerwG, Urt. v. 11.6.1996, - 1 C
24/94 - NVwZ 1997, 298).
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2. Schwerwiegende Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung im Sinne des § 48
Abs. 1 AuslG liegen auch dann vor, wenn der Ausländer bisher zwar nur Straftaten im
Bereich der mittleren Kriminalität begangen hat, sich aber auch durch mehrfache
Verurteilungen in der Vergangenheit nicht von der Begehung weiterer Straftaten hat
abhalten lassen und die Prognose gerechtfertigt ist, daß er auch künftig Straftaten
dieser Schwere begehen wird.
Tenor
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Die Kosten des Verfahrens hat der Kläger zu tragen.
3. Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar.
Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe der
festgesetzten Kosten abwenden, wenn die Beklagte nicht zuvor Sicherheit in
gleicher Höhe leistet.
Tatbestand
Der am ... geborene Kläger ist türkischer Staatsangehöriger. Er reiste am
13.09.1979 zu seinen im Bundesgebiet lebenden Eltern ein. Die Hauptschule
verließ er ohne Abschluß bereits nach der 7. Klasse. Eine Berufsausbildung hat er
bis heute nicht absolviert. Am Tag seines 16. Geburtstages erhielt der Kläger eine
Aufenthaltserlaubnis, die in der Folgezeit regelmäßig verlängert bzw. erneuert
wurde. Wegen jeweils verspäteter Antragstellung war der Kläger in der Zeit vom
16.03. bis zum 20.03.1988 und am 27.02.1990 ohne Aufenthaltserlaubnis. Die
zuletzt erteilte Aufenthaltserlaubnis endete am 06.07.1990. Am 09.07.1990
beantragte der Kläger die Erteilung einer neuen Aufenthaltserlaubnis. Über diesen
Antrag entschied die Beklagte erst im Oktober 1994, weil gegen den Kläger
zahlreiche staatsanwaltschaftliche Ermittlungsverfahren anhängig waren, deren
Ausgang abgewartet werden sollte.
Der Kläger war bereits zuvor seit 1985 wiederholt strafrechtlich in Erscheinung
getreten. Am 01.11.1985 wurde noch von der Verfolgung einer Unterschlagung
gemäß § 45 JGG abgesehen. Das Amtsgericht Aschaffenburg belegte den Kläger
am 18.03.1987 wegen vier schwerer Diebstähle und Fahrens ohne Fahrerlaubnis
erstmals mit vier Wochen Jugendarrest. Wegen weiterer gemeinschaftlicher
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erstmals mit vier Wochen Jugendarrest. Wegen weiterer gemeinschaftlicher
schwerer Diebstähle und Fahrens ohne Fahrerlaubnis wurde der Kläger vom
Amtsgericht Hanau am 12.02.1987 verwarnt und zur Ableistung von 50 Stunden
unentgeltlicher Arbeit verpflichtet. Aufgrund eines im November 1988 erneut
begangenen gemeinschaftlichen schweren Diebstahls, zweier einfacher Diebstähle
und eines gemeinschaftlichen Hausfriedensbruchs verurteilte das Amtsgericht
Hanau ihn am 09.03.1989 zum ersten Mal zu einer Jugendstrafe, weil das Gericht
schädliche Neigungen bei dem Kläger feststellte. Es führte hierzu aus, daß ein
Hang zur Begehung von Straftaten unverkennbar sei und die bisherigen
Verurteilungen keinerlei Wirkungen gezeigt hätten. Die Vollstreckung der Strafe
wurde zur Bewährung ausgesetzt. Noch innerhalb der Bewährungszeit beging der
Kläger erneut schwere Diebstähle. Deshalb verhängte das Amtsgericht Hanau mit
Urteil vom 18.03.1992 unter Einbeziehung des Strafausspruchs vom 09.03.1989
und zweier weiterer Verurteilungen wegen im November 1988 begangener
gemeinschaftlicher schwerer Diebstähle eine Jugendstrafe von zwei Jahren und vier
Monaten, deren Vollstreckung nicht mehr zur Bewährung ausgesetzt wurde. Die
Strafe verbüßte der Kläger vom 16.09.1992 bis zum 17.02.1994. Mit Strafbefehl
vom 05.07.1994 wurde er sodann wegen einer am 28.08.1991 begangenen
räuberischen Erpressung zu einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten verurteilt, die
durch die erlittene Untersuchungshaft abgegolten war. Weitere Strafverfahren
wurden entweder gemäß § 154 Abs. 2 StPO eingestellt oder der Kläger wurde
freigesprochen, weil ihm die Tat nicht mit letzter Gewißheit nachzuweisen war.
Aufgrund dieses Befundes wies die Beklagte den Kläger mit Bescheid vom
20.10.1994 aus der Bundesrepublik Deutschland aus, ordnete die sofortige
Vollziehung der Ausweisung an, lehnte den Aufenthaltserlaubnisantrag vom
09.07.1990 ab, setzte eine Ausreisefrist von drei Monaten und drohte die
Abschiebung in die Türkei an. Hiergegen erhob der Kläger Widerspruch und stellte
bei Gericht einen Eilantrag, der erfolgreich war (vgl. Beschl. v. 06.03.1995 – 6 G
3639/94 –), weil der Kläger am 11.01.1995 die Ehe mit einer deutschen
Staatsangehörigen geschlossen hatte und dieser Umstand in dem angefochtenen
Bescheid der Beklagten noch nicht berücksichtigt worden war.
Am 12.04.1995 äußerte der Kläger gegenüber einem Bediensteten der Stadt
Hanau, einem Herrn ..., daß er sich von seiner deutschen Ehefrau scheiden lassen
wolle, weil diese ihn betrogen habe. Am 25.04.1995 teilte der Kläger dem
Bediensteten ... ... der Ausländerbehörde im Zusammenhang mit einem Antrag
auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis für seine Schwester mit, daß seine Frau
sich scheiden lassen wolle und nicht mehr in der Wohnung lebe, so daß Platz für
seine Schwester sei. Am 15.05.1995 meldete sich der Kläger rückwirkend zum
01.01.1995 von der für beide Ehepartner gemeinsam bestehenden Wohnung in
der ... um in die ... in .... Dabei war er in Begleitung einer türkischen
Staatsangehörigen, die er gegenüber dem Mitarbeiter des Einwohnermeldeamtes,
einem Herrn ... als seine Freundin bezeichnete.
Am 23.05.1995 wollte die Ehefrau des Klägers eine Änderung der Lohnsteuerkarte
vornehmen lassen. Dabei erklärte sie schriftlich, daß sie seit dem 30.03.1995 von
dem Kläger getrennt lebe. Gegenüber einer Bediensteten des
Einwohnermeldeamtes bekundete sie ihre Absicht, sich von dem Kläger scheiden
zu lassen. Sie gab an, auch nicht mehr in der ... sondern bei einer Freundin in ... zu
wohnen. Am 04.07.1995 beantragte die Ehefrau des Klägers die Gewährung von
Hilfe zum Lebensunterhalt.
Dabei gab sie an, daß sie seit März 1995 von dem Kläger getrennt lebe und nach
der Trennung von den Schwiegereltern in der ... aufgenommen worden sei.
Mit Widerspruchsbescheid vom 15.09.1995 wies das Regierungspräsidium D den
Widerspruch gegen die Verfügung der Beklagten vom 20.10.1994 zurück. In den
Gründen des Bescheides ist im wesentlichen ausgeführt, daß der Kläger mit seiner
deutschen Ehefrau nicht in einer ehelichen Lebensgemeinschaft lebe und dieser
Umstand daher für die Entscheidung außer Betracht bleiben könne.
Auch nach Ergehen der Ausweisungsverfügung ist der Kläger straffällig geworden.
Am 28.03.1995 führte der Kläger ein Kraftfahrzeug ohne erforderliche
Fahrerlaubnis und wurde deswegen zu einer Geldstrafe von 40 Tagessätzen à 60,–
DM verurteilt. Am 12.09.1995 versuchte er, 25 g Haschisch in die JVA S zu
schmuggeln, wobei er sich dort noch durch einen falschen Ausweis auszuweisen
versuchte. Hierfür wurde er durch Strafbefehl zu einer Geldstrafe von 50
Tagessätzen à 50,– DM verurteilt. Am 26.09.1996 wurde er per Strafbefehl zu 40
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Tagessätzen à 50,– DM verurteilt. Am 26.09.1996 wurde er per Strafbefehl zu 40
Tagessätzen à 20,– DM wegen Führens eines Kraftfahrzeuges ohne
Versicherungsschutz verurteilt. Schließlich kam es noch zu einer Verurteilung zu
40 Tagessätzen à 20,– DM wegen Beleidigung eines Polizisten. Weitere
Ermittlungsverfahren führten nicht zu einer Verurteilung.
Am 25.10.1995 hat der Kläger Klage erhoben und zugleich einen weiteren Eilantrag
gestellt (6 G 55/96).
Der Kläger hält die angefochtenen Bescheide für rechtswidrig. Insbesondere ist er
der Auffassung, daß er nicht ausgewiesen werden dürfe, weil er erhöhten
Ausweisungsschutz genieße. Er lebe nämlich mit seiner deutschen Ehefrau in einer
ehelichen Lebensgemeinschaft. Zwar sei es zu Beginn der Ehe zu Reibereien
gekommen, wie dies bei jungen Ehen nicht unüblich sei. Der Kläger stellt auch
nicht in Abrede, daß sich die Eheleute getrennt hätten, jedoch müsse das im
Ehescheidungsrecht vorgesehene Trennungsjahr abgewartet werden. Ungeachtet
dessen hätten sich die Eheleute inzwischen wieder versöhnt. Sie führten einen
gemeinsamen Haushalt und lebten in einer Gemeinschaft. Es bestünde kein Anlaß
mehr für eine Trennung oder Scheidung. Hierzu legte er in dem Eilverfahren eine
handschriftliche Erklärung seiner Ehefrau vor, die diese auf Anraten des
Bevollmächtigten in dessen Wartezimmer am 09.01.1996 niedergeschrieben habe.
Daraus geht hervor, daß sich die Ehefrau mit dem Kläger "vorerst versöhnt" habe.
Weiter heißt es, daß die Eheleute einen gemeinsamen Haushalt führen. Es
bestehe kein Anlaß für eine Trennung oder Scheidung "zur Zeit!". Mit Schriftsatz
vom 02.06.1997 ließ er ein weiteres Dokument vorlegen, bei dem es sich um die
Fotokopie eines Schreibens der Anwälte der Ehefrau an ihre Mandantin handelt.
Aus diesem geht hervor, daß das Familiengericht Hanau am ... einen Termin zur
mündlichen Verhandlung in der Scheidungssache der Eheleute anberaumt hatte.
Weiterhin befindet sich auf dieser Fotokopie ein Schreiben der Ehefrau vom
28.05.1997 an ihre Anwälte, mit der sie um eine Terminsverlegung (für den
Scheidungstermin) auf 1998/1999 bittet. Weiter heißt es, daß "aus humanitären
finanziellen Mitteln heraus" am 27.05.1996 (richtig wohl 199 7 ) eine Versöhnung
stattgefunden habe. Aufgrund dieser Versöhnung solle ein "Probejahr-
Trennungsjahr" angeordnet werden, weil die Ehefrau unter diesen Umständen
bereit sei, mit dem Kläger zu leben. Weiter heißt es in diesem Schreiben der
Ehefrau: "Die Freiheitsgrenze der Ehepartner bleibt nach wie vor aber
uneingeschränkt. Jeder darf seine Wünsche verwirklichen. Die
Versorgung/Unterhalt läuft ab 01.06.1997 über ihn. Das betrifft alle Ausgaben, die
mir anfallen inklusive Wohnung." Weiter heißt es, daß der Kläger monatlich 500,–
DM auf ein genau bezeichnetes Konto zu überweisen hat und dann: "Diese
Einigung besteht aus beiderseitigem Interesse, da er oft auf Geschäftsreise ist. Bei
Nichtzahlung dieser Unterhaltspauschale und nicht eheähnlichem Verhältnis wird
ein neuer Scheidungstermin von mir in die Wege geleitet."
Der Kläger ist weiterhin der Auffassung, daß in seiner Person keine
schwerwiegenden Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung vorliegen, die
die Ausweisung trotz des besonderen Ausweisungsschutzes rechtfertigen könnten.
Hierzu verweist er darauf, daß sich sowohl die bis zur Ausweisungsverfügung
ergangenen Verurteilungen als auch die späteren im Bereich der unteren oder
mittleren Kriminalität bewegen. Auf die Frage des Gerichts, ob weitere
Ermittlungsverfahren anhängig sind, zeigte sich der Kläger in der mündlichen
Verhandlung unsicher und machte deutlich, daß er dies nicht überblickt.
Der Kläger beantragt,
die Verfügung der Beklagten vom 20.10.1994 und den
Widerspruchsbescheid vom 15.09.1995 aufzuheben und die Beklagte zu
verpflichten, dem Kläger eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Die Beklagte ist der Auffassung, daß zwischen dem Kläger und seiner Ehefrau eine
eheliche Lebensgemeinschaft nicht besteht, so daß besonderer
Ausweisungsschutz insoweit nicht in Betracht kommt. Außerdem ist sie der
Auffassung, daß schwerwiegende Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung
i. S. d. § 48 Abs. 1 AuslG auch dann vorlägen, wenn sich die einzelnen Straftaten
eines Ausländers zwar im Bereich der unteren oder mittleren Kriminalität
bewegten, jedoch eine ununterbrochene Kontinuität bestünde und die Prognose
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bewegten, jedoch eine ununterbrochene Kontinuität bestünde und die Prognose
gerechtfertigt sei, daß der Ausländer sich durch bisherige Verurteilungen nicht von
künftigen Straftaten abhalten lasse und mit solchen zu rechnen sei. Aus diesem
Grund komme auch ein besonderer Ausweisungsschutz nach Art. 3 Abs. 3 des
Europäischen Niederlassungsabkommens (ENA) nicht in Betracht. In diesem
Zusammenhang erklärte die Vertreterin der Beklagten in der mündlichen
Verhandlung, daß von einem über zehnjährigen ordnungsgemäßen Aufenthalt des
Klägers in der Bundesrepublik Deutschland allerdings auszugehen sei. Soweit die
Rechtmäßigkeit des Aufenthalts des Klägers für wenige Tage unterbrochen war,
lasse die Beklagte dies außer Betracht.
Das Gericht hat eine Gerichtsakte, die Akten des Eilverfahrens 6 G 55/96 und drei
Hefter Behördenakten zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Klage ist nicht begründet. Die angefochtenen Bescheide sind
rechtmäßig. Dem Kläger kann eine Aufenthaltsgenehmigung nicht erteilt werden,
weil er ausgewiesen ist (§ 8 Abs. 2 Satz 2 AuslG).
Die in demselben Bescheid ausgesprochene Ausweisung begegnet ebenfalls
keinen rechtlichen Bedenken. Sie beruht auf der Ermächtigung des § 47 Abs. 2 Nr.
1 AuslG, wonach ein Ausländer in der Regel auszuweisen ist, wenn er unter
anderem wegen mehrerer vorsätzlicher Straftaten rechtskräftig zu einer
Jugendstrafe von mindestens zwei Jahren verurteilt und die Vollstreckung der
Strafe nicht zur Bewährung ausgesetzt worden ist. Diese Voraussetzung ist im
vorliegenden Fall unstreitig erfüllt. Die Beklagte hat in dem angefochtenen
Bescheid auch zu Recht ausgeführt, daß keine in der Person des Klägers liegenden
Umstände erkennbar sind, die es rechtfertigen, von dieser Regel eine Ausnahme
zu machen.
Der Kläger genießt auch nicht den besonderen Ausweisungsschutz des § 48 Abs. 1
Nr. 4 AuslG. Danach kann ein Ausländer, der mit einem deutschen
Familienangehörigen in familiärer Lebensgemeinschaft lebt, nur aus
schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung ausgewiesen
werden. Der Kläger hat nicht einmal selbst schlüssig behauptet, mit seiner
deutschen Ehefrau in einer familiären Lebensgemeinschaft zu leben. Sein Vortrag
ist insoweit widersprüchlich und unschlüssig. Einerseits behauptet er verbal zwar
das Bestehen einer ehelichen Lebensgemeinschaft, andererseits hat er jedoch
schriftliche Erklärungen seiner Ehefrau vorgelegt, aus denen sich das Gegenteil
ergibt. Insbesondere die zuletzt vorgelegte Erklärung vom 28.05.1997 läßt
erkennen, daß es sich bei dem Verhältnis der Ehepartner bestenfalls um ein
"eheähnliches" handelt. Der Begriff des eheähnlichen Verhältnisses wird
üblicherweise dann verwandt, wenn zwar eine intime Lebensgemeinschaft besteht,
aber keine Ehe im Rechtssinn vorliegt. Die Ehefrau des Klägers hat in ihrer
Erklärung vom 28.05.1997 den Begriff des eheähnlichen Verhältnisses aber
offensichtlich in dem Sinne gemeint, daß hier zwar eine Ehe im rechtlichen Sinne
vorliegt, aber eben keine eheliche Lebensgemeinschaft. Die Erklärung läßt im
übrigen auch erkennen, daß eine wirkliche Aussöhnung nicht stattgefunden hat,
weil anders nicht erklärbar wäre, warum die Ehefrau die Scheidungsklage nicht
einfach zurücknimmt. Es ist deutlich erkennbar, daß die von ihr gewünschte
Vertagung des Scheidungstermins aus anderen Motiven erfolgte, die sie selbst als
"humanitär finanziell" bezeichnet. Der finanzielle Aspekt liegt dabei darin, daß sie
sich von dem Kläger offensichtlich die monatliche Zahlung von 500,– DM hat
versprechen lassen, während die "humanitäre" Gegenleistung darin bestand, um
eine Terminsverlegung zu bitten, und damit dem Kläger vermeintlich eine bessere
Position im Hinblick auf die drohende Ausweisung zu verschaffen. Dies wird auch
durch die früheren Erklärungen sowohl der Ehefrau als auch des Klägers selbst
bestätigt. Auch in der Erklärung vom 09.01.1996 spricht die Ehefrau davon, daß sie
sich mit dem Kläger nur "vorerst versöhnt" habe und ein Anlaß für eine Trennung
oder Scheidung nur "zur Zeit" nicht besteht. Abgesehen davon stehen auch diese
beiden Erklärungen in einem Widerspruch zueinander, weil nach der Erklärung vom
28.05.1997 die angebliche Versöhnung erst im Mai 1996 (vermutlich aber ein
Schreibfehler, richtig dürfte sein: 199 7 ) stattgefunden hat, während die
Versöhnung nach der Erklärung vom 09.01.1996 bereits Anfang 1996
stattgefunden haben soll. Der Kläger hat in der mündlichen Verhandlung erklärt,
daß er nach einem zwischenzeitigen Aufenthalt in B nunmehr wieder in die
Wohnung seiner Eltern nach H gezogen ist. Er hat keine Erklärung dafür
abgegeben, warum er nicht mit seiner Ehefrau in einer gemeinsamen Wohnung
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abgegeben, warum er nicht mit seiner Ehefrau in einer gemeinsamen Wohnung
lebt. Darüber hinaus ist ihm die genaue Wohnadresse seiner Ehefrau, wie sich aus
der Antwort des Klägers in der mündlichen Verhandlung auf eine entsprechende
Frage des Gerichts ergab, nicht bekannt. Während der Zeit seines Aufenthalts in B
hat er – wie er ebenfalls in der mündlichen Verhandlung ausgeführt hat – mit
seiner Ehefrau auch bei zwischenzeitlichen Aufenthalten in H am Wochenende nur
telefonischen Kontakt gehabt. Aus all diesen Umständen ergibt sich, daß der
Kläger mit seiner deutschen Ehefrau tatsächlich nicht in ehelicher
Lebensgemeinschaft lebt, so daß ein besonderer Ausweisungsschutz nach § 48
AuslG nicht in Betracht kommt.
Der Ausweisung des Klägers steht auch nicht Art. 3 Abs. 3 ENA vom 13.12.1955
(BGBl. 1959 II, 997) entgegen. Dieses Abkommen gilt seit dem 20.03.1990 auch
für die Türkei (Bekanntmachung vom 21.12.1990 (BGBl. 1991 II, 397) mit der
Folge, daß sich auch der Kläger grundsätzlich auf die Bestimmungen dieses
Abkommens berufen kann. Nach Art. 3 Abs. 3 ENA dürfen Staatsangehörige eines
Vertragsstaates, die seit mehr als 10 Jahren ihren ordnungsgemäßen Aufenthalt
im Gebiet eines anderen Vertragsstaates haben, nur aus Gründen der Sicherheit
des Staates ausgewiesen werden oder wenn sie gegen die öffentliche Ordnung
oder die Sittlichkeit in besonders schwerwiegender Weise verstoßen.
Die Voraussetzungen eines mehr als 10-jährigen ordnungsgemäßen Aufenthaltes
in der Bundesrepublik Deutschland erfüllt der Kläger. Soweit der rechtmäßige
Aufenthalt kurzfristig unterbrochen war, hat die Vertreterin der Beklagten in der
mündlichen Verhandlung erklärt, daß die Beklagte insoweit von ihrem Ermessen
aus § 97 AuslG Gebrauch macht und diese Unterbrechungen außer Betracht läßt.
Der in der Rechtsprechung streitigen Frage, ob § 97 AuslG im Zusammenhang mit
Art. 3 Abs. 3 ENA überhaupt anwendbar ist, braucht das Gericht nicht
nachzugehen, weil der erhöhte Ausweisungsschutz nach dieser Vorschrift für den
Kläger jedenfalls daran scheitert, daß besonders schwerwiegende Gründe der
öffentlichen Ordnung die Ausweisung rechtfertigen.
Zwar hat die Kammer in ihrem Eilbeschluß vom 31.01.1996 (6 G 55/96) im
Anschluß an einen Beschluß des Hessischen Verwaltungsgerichtshofes vom
09.11.1995 (12 TG 2783/95) die Auffassung vertreten, daß der Begriff der
besonders schwerwiegenden Gründe i. S. d. Art. 3 Abs. 3 ENA nicht mit dem
Begriff der schwerwiegenden Gründe i. S. d. § 48 Abs. 1 AuslG übereinstimmt,
sondern diesem gegenüber einen Komparativ darstellt. Dies hatte nach der
damaligen Auffassung der Kammer zur Folge, daß im Falle des Klägers keine
besonders schwerwiegende Beeinträchtigung der öffentlichen Ordnung künftig zu
befürchten sei, weil die bisherigen Straftaten des Klägers und sein Verhalten, aus
dem sich schließen läßt, daß er auch weiterhin voraussichtlich nicht straffrei leben
wird, jedenfalls aber kein derartiges Gewicht haben. An dieser Auffassung hält die
Kammer nicht fest, nachdem das Bundesverwaltungsgericht mit Urteil vom
11.06.1996 (1 C 24/94, NVwZ 1997, 298) mit überzeugenden Gründen
entschieden hat, daß zwischen den "schwerwiegenden Gründen" i. S. d. § 48 Abs. 1
AuslG und den "besonders schwerwiegenden Gründen" i. S. d. Art. 3 Abs. 3 ENA
kein qualitativer Unterschied besteht.
Legt man aber den Maßstab des § 48 Abs. 1 AuslG auch im Falle des Europäischen
Niederlassungsabkommens an, so hat dies zur Folge, daß die Ausweisung des
Klägers trotz dessen zehnjährigem ordnungsgemäßen Aufenthalt in der
Bundesrepublik Deutschland gerechtfertigt ist, weil seinem weiteren Aufenthalt
besonders schwerwiegende Gründe der öffentlichen Ordnung entgegenstehen.
Zwar sind die einzelnen Straftaten des Klägers, derentwegen er vor Erlaß der
Ausweisungsverfügung verurteilt worden ist, nicht besonders schwerwiegend.
Indessen läßt sich feststellen, daß er sich durch diese Verurteilungen auch nicht zu
einem künftig straffreien Lebens veranlaßt sieht. Denn er ist auch nach der
Entlassung aus dem Gefängnis wiederholt straffällig geworden. Auch diese
Straftaten bewegen sich eher im Rahmen der mittleren Kriminalität und stellen für
sich genommen keine besonders schwerwiegende Beeinträchtigung der
öffentlichen Ordnung dar. Das besondere Gewicht der Beeinträchtigung der
öffentlichen Ordnung ergibt sich aber daraus, daß der Kläger sich von früheren
Verurteilungen nicht hat beeindrucken lassen, sondern auch danach weiterhin
Straftaten begangen hat. Der Umstand, daß er offensichtlich – wie sich aus seiner
Reaktion auf eine entsprechende Frage in der mündlichen Verhandlung vor der
Kammer zeigte – auch zur Zeit nicht den Überblick darüber hat, ob und in
welchem Umfang Ermittlungsverfahren gegen ihn anhängig sind, läßt erkennen,
daß der Kläger solche Verfahren nicht ausschließen kann und sich insoweit selbst
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daß der Kläger solche Verfahren nicht ausschließen kann und sich insoweit selbst
bewußt zu sein scheint, daß er auch weiterhin mit dem Gesetz in strafrechtlich
relevanter Weise in Konflikt geraten kann. Daß der Kläger auch im übrigen nicht
gewillt ist, die Rechtsordnung der Bundesrepublik zu beachten, zeigt sich daran,
daß er seit kurzem im Wege eines "Strohmannverhältnisses" eine Gaststätte in H
betreibt: Da er selbst die erforderliche Genehmigung nicht erhalten kann, ist
Erlaubnisnehmer im Sinne von § 2 GaststG, wie er sinngemäß in der mündlichen
Verhandlung am 15.07.1997 ausgeführt hat, seine Schwester, die aber ansonsten
nicht in der Gaststätte arbeitet, während er, der Kläger, den Betrieb leitet. Die von
dem Kläger ausgehende Gefährdung der öffentlichen Ordnung ist deshalb zwar
nicht in qualitativer, aber in quantitativer Hinsicht so gewichtig, daß die
Anwesenheit des Klägers in der Bundesrepublik Deutschland nicht länger
hingenommen werden kann.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i. V.
m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.
Der Wert des Streitgegenstandes wird auf DM 8.000,– festgesetzt (§ 13 Abs. 1
Satz 2 GKG).
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert.