Urteil des VG Frankfurt (Main) vom 17.06.2004

VG Frankfurt: serbien und montenegro, amnesty international, politische verfolgung, desertion, anerkennung, bestrafung, sda, widerruf, auskunft, wahrscheinlichkeit

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Gericht:
VG Frankfurt 1.
Kammer
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
1 E 642/04.A
Dokumenttyp:
Urteil
Quelle:
Norm:
§ 73 AsylVfG
Rückehr nach Serbien und Montenegro trotz vorheriger
Desertion
Leitsatz
Desertion
Tenor
Die Klage wird abgewiesen.
Die Kosten des Verfahrens hat der Kläger zu tragen.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar.
Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe der
festzusetzenden Kosten abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung
Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Das Verfahren ist gerichtsgebührenfrei.
Tatbestand
Der Kläger ist serbisch-montenegrinischer Staatsangehöriger. Er beantragt am
17.05.1999 seine Anerkennung als Asylberechtigter. Sein Asylantrag wurde mit
Bescheid vom 19.04.2000 abgelehnt. Jedoch stellte die Beklagte fest, dass die
Voraussetzung des § 51 Abs. 1 AuslG hinsichtlich der Bundesrepublik Jugoslawien
vorliegt. Zur Begründung ist im wesentlichen ausgeführt, der Kläger sei nach
Verhängung des Kriegszustandes durch die Regierung in Belgrad am 24.03.1999
aus der jugoslawischen Armee desertiert. Es sei daher mit beachtlicher
Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass er im Falle einer Rückkehr in die
Bundesrepublik Jugoslawien dort als Verräter an der jugoslawischen Sache
Verfolgungsmaßnahmen im Sinne von § 51 Abs. 1 AuslG zu befürchten habe.
Die im Hinblick auf die Ablehnung des Asylantrages erhobene Klage wurde durch
Urteil des Verwaltungsgerichtes Karlsruhe vom 24.10.2001 abgelehnt.
Unter dem 04.11.2003 leitete die Beklagte das Widerrufsverfahren im Hinblick auf
die Feststellung der Voraussetzung des § 51 Abs. 1 AuslG ein.
Im Anhörungsverfahren machte der Kläger keine Angaben. Mit Bescheid vom
23.01.2004 widerrief die Beklagte die mit Bescheid vom 19.04.2000 getroffene
Feststellung, dass die Voraussetzung des § 51 Abs. 1 AuslG vorliegen und stellte
fest, das Abschiebungshindernisse nicht gegeben sind. Zur Begründung ist
ausgeführt, die erforderliche Prognose drohender politischer Verfolgung lasse sich
nicht mehr treffen. Wegen einer begangenen Wehrstrafe habe der Kläger bei einer
Rückkehr nach Serbien und Montenegro nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit
politische Verfolgung zu befürchten. Mit Wirkung vom 22.06.1996 sei ein
Amnestiegesetz in Kraft getreten, dass alle Fälle der Wehrdienstentziehung und
der Desertation zwischen 1982 und 1995 erfasse. Für Wehrdienstentziehung und
Desertation bis zum 07.10.2000 sei am 26.02.2001 ein umfassendes
Amnestiegesetz für Wehrstraftaten erlassen worden, das am 05.03.2001 in Kraft
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Amnestiegesetz für Wehrstraftaten erlassen worden, das am 05.03.2001 in Kraft
getreten sei. Dieses Gesetz gelte gleichermaßen für Serbien und Montenegro. Von
diesem Amnestiegesetz profitierten auch die etwa 24.000 Wehrdienstverweigerer
die sich vor oder während des ausgerufenen Kriegszustandes vom 25.03.1999 bis
zum 26.06.1999 dem Wehrdienst entzogen hätten, ins Ausland geflüchtet seien
und auf Grund des verschärften Kriegsrechts bei einer Rückkehr eine besonders
harte Bestrafung zu erwarten hätten. Dieser Personenkreis könne jetzt ohne
Bestrafung fürchten zu müssen, in seine Heimat zurückkehren. Nach Information
von Amnesty International sei mittlerweile einige der Kriegsdienstverweigerer und
Deserteure, die in der Vergangenheit ins Ausland geflohen seien, nach Serbien
und Montenegro zurückgekehrt.
Der Kläger hat am 11.02.2004 Klage erhoben, mit der er Aufhebung des
Widerrufsbescheides begehrt.
Der Kläger trägt vor er als Moslem und Mitglied der SDA, der zudem noch
desertiert sei, sei bei einer Rückkehr nach Serbien und Montenegro nicht
hinreichend sicher. Hinzu komme, dass er aus einer Region stamme, in der
radikale nationalistische Kräfte das Sagen hätten, so dass er auch
Verfolgungsmaßnahmen durch seine unmittelbaren Nachbarn befürchte.
Schließlich sei ihm eine Rückkehr auch unzumutbar. In diesem Zusammenhang
sei zusätzlich zu berücksichtigen, dass seine Ehefrau bosnische Staatsangehörige
sei und nach seiner Desertion von Sicherheitskräften und Nachbarn drangsaliert
worden sei. Eine Rückkehr gemeinsam mit seiner Ehefrau und seinen Kindern sei
nicht möglich.
Der Kläger beantragt,
den Bescheid des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge
vom 23.01.2004 aufzuheben,
festzustellen, dass Abschiebungshindernisse gem. § 53 AuslG vorliegen.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt
der Gerichtsakte sowie den Inhalt der vorgelegten Behördenvorgänge (2 Hefter)
Bezug genommen.
Des weiteren wird Bezug genommen auf die Erkenntnismittel, wie sie in der
Asylfaktenliste der Kammer nach dem Stand vom 26.06.2003 enthalten sind.
Entscheidungsgründe
Die Klage ist zulässig, aber nicht begründet. Der Bescheid der Beklagten vom
23.01.2004 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten.
Rechtsgrundlage für den streitbefangenen Bescheid ist § 73 Abs. 1 S.1 AsylVfG,
wonach die Anerkennung als Asylberechtigter und die Feststellung, dass die
Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG vorliegen, unverzüglich zu widerrufen sind,
wenn die Voraussetzungen für sie nicht mehr vorliegen. Diese Voraussetzungen
sind hier gegeben, denn der Kläger ist bei einer Rückkehr nach Serbien-
Montenegro vor einer Wiederholung der politischen Verfolgungsmaßnahmen im
Hinblick auf seine Desertion hinreichend sicher. Der Kläger muss bei einer
Rückkehr nach Serbien und Montenegro wegen Wehrdienstentziehung bzw.
Desertion nicht mehr mit Bestrafung rechnen, da am 26.02.2001 ein neues
Amnestiegesetz vom jugoslawischen Bundesparlament verabschiedet wurde, dass
am 05.03.2001 in Kraft getreten ist (vgl. Auskunft des Auswärtigen Amtes an das
VG Frankfurt vom 29.03.2001). Da der Kläger offensichtlich unter dieses Amnestie
fällt, hat er bei einer Rückkehr in den Kosovo nicht mehr mit Bestrafung zu
rechnen. Erkenntnisse darüber, dass jugoslawische Behörden und Gerichte sich
nicht an das Amnestiegesetz halten, liegen nicht vor. Wie sich aus der bereits von
der Beklagten zitierten Auskunft von Amnesty international an das VG Aachen
vom 30.05.2001 ergibt, sind inzwischen Kriegsdienstverweigerer und Deserteure,
die ins Ausland geflohen sind, unbehelligt nach Serbien und Montenegro
eingereist. Auch als Moslem ist der Kläger in Serbien und Montenegro vor
politischer Verfolgung hinreichend sicher. Wie sich bereits aus dem Bericht über
die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Bundesrepublik Jugoslawien
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die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Bundesrepublik Jugoslawien
(Serbien und Montenegro) vom 16.10.2002 ergibt, gibt es Hinweise auf massive
gezielte staatliche Repressionen gegen Moslems nicht mehr. Für die
Unzufriedenheit der Moslems und den weiterhin bestehenden Migrationsdruck ist
im Wesentlichen die schlechte wirtschaftliche Lage in Serbien und Montenegro
verantwortlich. Auch Repressionen Dritter, für die der Staat verantwortlich zu
machen sei, sind in Bezug auf Moslems nicht mehr bekannt geworden. Soweit der
Kläger übergriffe durch Nachbarn bzw. in seiner engeren Heimat befürchtet, weil
dort radikale Nationalisten die Oberhand haben, ist darauf hinzuweisen, dass der
Kläger einer möglicherweise dort gegebenen Bedrohung dadurch ausweichen
kann, dass sein Wohnsitz in andere Regionen von Serbien und Montenegro verlegt.
Wie sich insbesondere aus dem Bericht des Auswärtigen Amtes vom 16.10.2002
ergibt, gilt insbesondere Belgrad als Auffangbecken für alle Minderheiten.
Diskriminierungen oder Menschenrechtsverletzungen gegenüber Angehörigen von
Minderheitengruppen sind aus Belgrad bisher nicht bekannt geworden. Auch
wegen seiner Mitgliedschaft in der SDA ist der Kläger hinreichend sicher. Seit dem
Regierungswechsel in Belgrad im Jahre 2000 hat sich die Menschenrechtslage in
Jugoslawien im Allgemeinen, aber auch die Lage für die moslemische Minderheit
verbessert, auch wenn vereinzelte Diskriminierungen durch staatliche Stellen nicht
ausgeschlossen werden können. Auch können übergriffe auf Moslems bzw.
Mitglieder der SDA durch staatliche Stellen grundsätzlich nicht ausgeschlossen
werden, auch wenn hierüber derzeit keine konkreten Berichte vorliegen. Im Hinblick
hierauf rechtfertigt die Mitgliedschaft des Klägers in der SDA keine andere
Einschätzung der Rechtslage.
Schließlich ist die Rückkehr für den Kläger auch nicht unzumutbar i.S.d. § 73 Abs. 1
S. 3 AsylVfG. Nach der zitierten Vorschrift ist von einem Widerruf abzusehen, wenn
sich der Ausländer auf zwingende, auf früheren Verfolgungen beruhende Gründe
berufen kann, um die Rückkehr in den Staat abzulehnen, dessen
Staatsangehörigkeit er besitzt, oder in dem er als Staatenloser seinen
gewöhnlichen Aufenthalt hatte. Diese Regelung ist aus Art. 1 C Nr. 5 und Nr. 6 des
Abkommens über die Rechtstellung der Flüchtlinge übernommen. Abs. 1 S. 3 stellt
eine Ausnahme von der Pflicht zum Widerruf dar. Abs. 1 S. 3 setzt voraus, dass -
wie hier - die Voraussetzungen der Anerkennung als Asylberechtigter oder als
Flüchtling nicht mehr vorliegen, der Ausländer also bei einer Rückkehr in seinen
Heimatstaat vor politischer Verfolgung hinreichend sicher ist.
Die Ausnahme soll dem Umstand Rechnung tragen, das auch dann, wenn sich die
allgemeinen Verhältnisse im Herkunftsland derart geändert haben, dass die
Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft nicht mehr erforderlich ist, im Einzelfall
besondere Umstände gegeben sein können, die eine Aufrechterhaltung des
Schutzes rechtfertigen können.
Zwingende Gründe liegen vor, wenn Flüchtlinge oder ihre Familienangehörige eine
außergewöhnlichen menschenverachteten Verfolgung ausgesetzt waren und
deshalb von ihnen eine Rückkehr in ihr Herkunftsland nicht erwartet werden kann.
Hierunter fallen insbesondere Personen, die interniert, inhaftiert waren, Opfer von
Gewalt waren oder Gewaltanwendungen gegen Familienmitglieder ansehen
mussten. Erforderlich sind immer Gründe von einer gewissen Schwere und
Tragweite. Ein Widerruf muss immer dann unterbleiben, wenn schwere physische
oder psychische Schäden vorliegen, die infolge der bereits erlittenen politischen
Verfolgung entstanden sind und die sich bei einer Rückkehr in das Heimatland
wesentlich verschlechtern (vgl. HessVGH, Beschl. v. 28.05.2003, Az.: 12 UZ
2805/02.A). Für das Vorliegen derartiger zwingender Gründe ergeben sich aus dem
Vorbringen des Klägers und seiner Ehefrau keinerlei Anhaltspunkte. Die
insbesondere von der Ehefrau des Klägers geschilderten Beeinträchtigungen nach
der Desertion ihres Ehemannes machen im Hinblick auf Intensität und Schwere
der erlittenen Verfolgungsmaßnahmen dem Kläger die Rückkehr nach Serbien und
Montenegro nicht unzumutbar. Auch der Umstand, dass es sich bei der Ehefrau
des Klägers um eine bosnische Staatsangehörige handelt und diese bei einer
Rückkehr gemeinsam mit dem Kläger Anfeindungen durch radikale Nationalisten
insbesondere in der engeren Heimat des Klägers ausgesetzt sein könnte, macht
die Rückkehr nicht unzumutbar, da es dem Kläger und seiner Ehefrau zuzumuten
ist, der möglichen nur im regionalen Bereich gegebenen Beeinträchtigung durch
eine Verlagerung des Wohnsitzes auszuweichen. Dies gilt um so mehr, als die
geschilderten vor der Ausreise tatsächlich erlittenen Beeinträchtigungen im
Hinblick auf Intensität und Schwere abgesehen von der drohenden strafrechtlichen
Verfolgung des Klägers im Hinblick auf die Wehrdienstentziehung und Desertion
asylrechtlich nicht erheblich waren.
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Die Kosten des Verfahrens hat der Kläger zu tragen, da er unterlegen ist (§ 154
Abs. 1 VwGO).
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m.
§ 708 Nr. 11, 711 ZPO. Die Entscheidung über die Gerichtsgebührenfreiheit folgt
aus § 83 b AsylVfG).
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert.