Urteil des VG Düsseldorf vom 22.01.2002
VG Düsseldorf: russische föderation, folter, politische verfolgung, wahrscheinlichkeit, gefahr, grausame behandlung, medizinische betreuung, russland, tuberkulose, bundesamt
Verwaltungsgericht Düsseldorf, 25 K 6683/99.A
Datum:
22.01.2002
Gericht:
Verwaltungsgericht Düsseldorf
Spruchkörper:
25. Kammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
25 K 6683/99.A
Tenor:
Die Klage wird abgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens, für das Gerichtskosten nicht
erhoben werden. Die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen sind
erstattungsfähig.
Tatbestand:
1
Die Beigeladenen sind russische Staatsangehörige, der Beigeladene zu 1. ist
tscherkessischer und die Beigeladene zu 2. ossetischer Volkszugehörigkeit.
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Der Beigeladene zu 1. ist am 18. September 1955 in Naltschik und die Beigeladene zu
2. am 26. Februar 1956 ebenfalls in Naltschik geboren.
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Die Beigeladenen verließen am 28. März 1999 ihr Heimatland, reisten am 3. April 1999
in die Bundesrepublik ein und stellten am 9. April 1999 einen Asylantrag.
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Am 12. April 1999 wurden sie von dem Bundesamt für die Anerkennung ausländischer
Flüchtlinge (Bundesamt) angehört. Dabei gab der Beigeladene zu 1. im Wesentlichen
an: Am 7. November 1995 habe er seine Eltern besuchen wollen. Als er auf dem Hof
seiner Eltern angekommen sei, habe er aus dem Nebenhaus Schreie seiner Schwester
gehört. Er sei dorthin gelaufen und habe gesehen, wie drei Soldaten sein Schwester
vergewaltigt hätten. Daraufhin sei er in das Haus seiner Eltern gelaufen und habe sich
das Gewehr seines Vaters genommen. Auf dem Hof habe er dann den Soldaten
erschossen, der seine Schwester vergewaltigt habe. Danach sei er mit einem Pferd den
anderen beiden Soldaten nachgeritten. Am Ende des Dorfes habe er einen von beiden
eingeholt und ihn ebenfalls erschossen. Danach sei er zu einem Freund gegangen, der
ihm geraten habe, nach Tschetschenien zu gehen. Nachdem er über diesen Freund
erfahren habe, dass seine Schwester sich das Leben genommen habe, sei er über die
Berge nach Tschetschenien gegangen. Dort habe er einen Freund bei den Rebellen
gehabt. Er habe sich dieser Gruppe angeschlossen und während der kriegerischen
Auseinandersetzungen dabei geholfen, Waffen für Tschetschenen aus Georgien zu
schmuggeln. Danach sei er Wächter einer Datscha eines der Rebellenführers
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geworden, der auch in Tschetschenien Ministerpräsident gewesen sei. Er habe auch
Besuch aus Naltschik bekommen, von dem er Informationen über die dortige Situation
erhalten und über den er seiner Familie Geld zukommen lassen habe. Am 6. Januar
1999 sei sein Bruder entführt worden. Als dieser dann gegen ihn ausgetauscht werden
sollte, hätten er und einige freiwillige Kämpfer aus dem Heimatdorf die russischen
Soldaten überwältigt und seinen Bruder befreit. Er habe danach seine Ausreise
vorbereitet.
Die Beigeladene zu 2. gab bei ihrer Befragung an: Sie habe erst bei der Beerdigung
ihrer Schwägerin erfahren, dass diese vergewaltigt worden sei, ihr Ehemann den Täter
erschossen und ihre Schwägerin sich umgebracht habe. Sie habe damals nicht
gewusst, wo ihr Ehemann gewesen sei und erst später erfahren, dass er auf Seiten der
Tschetschenen gekämpft haben soll. Sie habe ihn erst im Winter 1997 gesehen, als er
einmal für 2 Stunden zu Besuch da gewesen sei. Seit seinem Verschwinden sei die
Miliz gekommen und habe nach seinem Aufenthalt gefragt. Das Haus sei durchsucht
und sie dabei auch misshandelt worden. Als ihr Schwiegervater am 14. März 1996 in
den Kuhstall gegangen sei, sei dieser explodiert und der Schwiegervater dabei ums
Leben gekommen. Weil sie vor den Maßnahmen der Miliz keine Ruhe habe finden
können, sei sie im Dezember 1998 zu ihrem Vater gezogen. Aber auch dort sei sie
gefunden worden. Sie sei vor den Augen ihres Vaters geschlagen worden. Am 29.
Dezember 1998 sei ihr Vater gestorben, der bereits zwei Herzinfarkte erlitten habe.
6
Mit Bescheid vom 29. September 1999, dem Kläger zugestellt am 8. Oktober 1999,
lehnte das Bundesamt die Asylanträge der Beigeladenen ab, stellte fest, dass die
Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG nicht vorliegen, stellte ferner fest, dass bei den
Beigeladenen zu 1. und 2. Abschiebungshindernisse nach § 53 Abs. 1 und Abs. 4
AuslG hinsichtlich der Russischen Föderation vorliegen und forderte die Beigeladenen
auf, die Bundesrepublik Deutschland spätestens einen Monat nach dem unanfechtbaren
Abschluss des Asylverfahrens zu verlassen; für den Fall der Nichteinhaltung der
Ausreisefrist drohte es die Abschiebung in die Russische Föderation an unter Hinweis
darauf, dass die Abschiebung auch in einen anderen Staat erfolgen könne, in den die
Beigeladenen einreisen dürften oder der zu ihrer Rückübernahme verpflichtet sei.
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Der Kläger hat am 19. Oktober 1999 Klage erhoben, mit welcher er die Aufhebung des
Bescheides begehrt, soweit darin Abschiebungshindernisse nach § 53 Abs. 1 und Abs.
4 AuslG festgestellt worden sind.
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Der Kläger beantragt,
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den Bescheid des Bundesamts für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge vom 29.
September 1999 insoweit aufzuheben, als darin unter Punkt 3.
Abschiebungshindernisse nach § 53 Abs. 1 und Abs. 4 AuslG festgestellt worden sind.
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Die Beklagte hat keinen Antrag gestellt.
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Die Beigeladenen beantragen,
12
die Klage abzuweisen.
13
Sie sind der Auffassung, die Feststellung von Abschiebungshindernissen ist zu Recht
erfolgt.
14
In der mündlichen Verhandlung vom 22. Januar 2002 wurden die Beigeladenen mit
Hilfe eines Dolmetschers für die russische Sprache zu ihren Asylgründen gehört. Ihre
Aussage wurde protokolliert.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird ergänzend auf den
Inhalt der Gerichtsakten, der in diesem Verfahren beigezogenen Verwaltungsvorgänge
des Bundesamtes und der Ausländerbehörde der Oberbürgermeisterin der Stadt E1
sowie der Strafakte der Staatsanwaltschaft E1 - 134 Js 117/00 - Bezug genommen.
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Entscheidungsgründe:
17
Die zulässige Klage ist unbegründet
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Der angefochtene Bescheid des Bundesamtes ist in dem angefochtenen Teil
rechtmäßig und verletzt nicht die dem Kläger zur Wahrnehmung übertragenen Rechte (§
113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Auch in dem für die gerichtliche Entscheidung maßgeblichen
Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 AsylVfG) ist zu Gunsten der Beigeladenen
zu Recht das Vorliegen von Abschiebungshindernissen nach § 53 Abs. 1 und Abs. 4
AuslG festgestellt worden.
19
Nach § 53 Abs. 1 AuslG darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in
dem für diesen Ausländer die konkrete Gefahr besteht, der Folter unterworfen zu
werden.
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Bei einer Rückkehr in die Russische Föderation droht den Beigeladenen die konkrete
Gefahr, gefoltert zu werden. Für den Beigeladenen gilt dies, weil bei einer Rückkehr mit
beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist, dass er verhaftet wird, in
Untersuchungshaft gelangt und anschließend wegen der von ihm erfolgten Tötungen
der Vergewaltiger seiner Schwester eine Haftstrafe in einem russisches Gefängnis
verbüßen müssen wird; für die Beigeladene zu 2. ist mit der erforderlichen
Wahrscheinlichkeit zu befürchten, dass die Miliz weiterhin gegen sie vorgehen wird, um
ihres Mannes habhaft zu werden.
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Die Kammer hat bereits in zahlreichen Urteilen entschieden, dass der Aufenthalt in
russischen Gefängnissen als Folter zu werten ist,
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vgl. etwa Urteile vom 24. Januar 1997 - 25 K 3879/96.A -, vom 31. Januar 1997 - 25 K
7793/96.A , vom 25. August 1997 - 25 K 13259/96.A -, vom 6. März 1998 - 25 K
12013/96.A -, vom 19. Februar 1999 - 25 K 3098/96.A - und vom 20. März 2000 - 25 K
7371/96.A -.
23
Sie hat dazu etwa in ihrem Urteil vom 20. März 2000 - 25 K 7371/96.A - ausgeführt:
24
„Der Aufenthalt in den russischen Gefängnissen ist als Folter zu werten. Unter Folter ist
dabei eine Behandlung zu verstehen, die einer Person vorsätzlich schwere Schmerzen
und Leiden körperlicher oder geistig-seelischer Art zufügt, zum Beispiel um von ihr oder
einem Dritten eine Aussage oder ein Geständnis zu erzwingen, sie oder einen Dritten zu
bestrafen, einzuschüchtern oder zu nötigen oder mit diskriminierender Absicht zu
verfolgen (UN-Folterkonvention, BGBl. II 1990, S. 247). Der Sonderberichterstatter der
Vereinten Nationen über Folter, Nigel Rodley, hat die grausamen, unmenschlichen und
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entwürdigenden Zustände in den russischen Gefängnissen angeprangert. Die
Gefangenen müssten unter Bedingungen leben, wie sie nur mit „Horrordarstellungen der
Hölle" zu beschreiben seien. Er wertete diese Zustände als Folter, weil sie benutzt
würden, um den Willen der Inhaftierten zu brechen und Geständnisse sowie
Informationen zu erpressen. In seinem Lagebericht vom 5. August 1996 (Az.: 514-516
80/3) teilt das Auswärtige Amt zwar einerseits mit, gesicherte Erkenntnisse über Folter in
der Russischen Föderation lägen nicht vor, andererseits berichtet es, dass die Situation
im Strafvollzug weiterhin alarmierend sei. Die Strafanstalten seien überbelegt, die
Ernährung sei schlecht und die medizinische Versorgung unzureichend.
Konkretisiert werden diese Ausführungen durch den Bericht des russischen Zentrums
für Gefängnisreform. (Vgl. „Häftlingen droht der Hungertod" in ai-Journal 12/1996, S. 20)
Danach hätten manche Häftlinge in ihren Zellen weniger als einen halben Quadratmeter
Platz. Sie müssten zeitversetzt schlafen. Wegen der schlechten Belüftung könne die
Temperatur im Sommer auf über 50°C ansteigen. In machen
Untersuchungsgefängnissen gebe es keine Betten und keine Wäsche. Ausgang im
Gefängnishof ist oft nicht gestattet. Diese Situation habe sich noch verschlechtert, weil
der Staat kein Geld habe und die Gefangenen hungern müssten. So habe Radio
Rossija im Juli gemeldet, dass in einem Untersuchungsgefängnis in Sverdlowsk 66
Menschen umgekommen seien. Nach Angaben der Menschenrechtskommission des
russischen Prädidialamtes stirbt in Russland jeder 50. Häftling während der
Untersuchungshaft. In einigen Gefängnissen fehle jede medizinische Betreuung (Neue
Züricher Zeitung vom 28. Dezember 1996). Aus dem IGFM-Bericht „Auslieferung
innerhalb der GUS - Schwerpunkt: Geflohene Militärangehörige der Westtruppe", 7.
Auflage, Januar 1997 (im Folgenden zitiert als IGFM-Bericht), heißt es:
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„Die Zustände in der Untersuchungshaft, die mehrere Jahre dauern kann, sind so
katastrophal, dass Menschen nach kürzester Zeit zu Invaliden werden; viele sterben,
ohne ihren Prozess erlebt zu habe. Am 17. und 18. Juli 1995 fand bei der UNO-
Menschenrechtskommission in Genf eine Anhörung über die Bedingungen in der
Untersuchungshaft und den Strafanstalten der Russischen Föderation sowie
Menschenrechtsverletzungen russischer Streitkräfte in Tschetschenien statt. Nach der
Anhörung hat die UNO-Menschenrechtskommission erklärt, dass die in russischen
Vollzugsanstalten herrschenden Zustände einer Folter gleichkämen. Jährlich steigt die
Zahl der Untersuchungsgefangenen, die in den überbelegten Zellen an
Sauerstoffmangel sterben. So starben im Juli 1995 elf Häftlinge im
Untersuchungsgefängnis von Nowokusnezk infolge des Sauerstoffmangels in den
überbelegten Zellen, mehrere Dutzend wurden im kritischen Zustand ins Hospital
geliefert, es wurden Fälle bekannt, in denen Untersuchungshäftlinge aus Protest gegen
die Haftbedingungen einen Suizidversuch durch Öffnen der Pulsadern unternahmen. Im
April 1996 befand sich das Moskauer Gefängnis ‚Matrosskaja Tischina' (Matrosenruhe)
erneut unter Quarantäne - diesmal wegen Krätze. Und im Moskauer Butyrka-
Untersuchungsgefängnis, das Für 3500 Gefangene vorgesehen ist, in dem sich aber
8000 befinden, starben wieder Menschen infolge der Enge. Allein in den ersten
Monaten 1996 gab es in Russland 58 solcher Todesopfer."
27
Der IGFM-Bericht zitiert einen Artikel in Iswestija vom 24. April 1996, in dem es u.a.
heißt:
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„In den überfüllten Gefängnissen des Untersuchungsgefängnisses sterben die meisten
an Herzversagen und Tuberkulose. ...."
29
„Die Sterberate in den Moskauer Untersuchungsgefängnissen steigt mit erschreckender
Tendenz: 1993 76 Tote, 1994-177 Tote, 1995-207 Tote. Die Häftlinge beklagen sich
über das miserable Essen, Dreck und Läuse, sie flehen um einen Atemzug frischer Luft
und eine Sitzgelegenheit. In Zellen, die für 30 Personen vorgesehen sind, werden über
100 Menschen zusammengepfercht. Die Luft ist dick und stinkt nach Schweiß und
Fäulnis. Sommer ist die schlimmste Jahreszeit für die Insassen. Dann ist die
Luftfeuchtigkeit und der Sauerstoffmangel in den Zellen so hoch, dass man nicht einmal
ein Streichholz anzünden kann. Von der stinkenden Feuchtigkeit und ätzenden Luft
schmerzen die Augen. Der gesamte Körper wird durch den Schweiß zu einer einzigen
Wunde, die Haut blättert in Stücken ab. Salziger Schweiß frisst an den offenen Stellen
und verursacht schreckliche Qualen.
30
Die zusammengepferchten Häftlinge - gesunde mit tuberkulosekranken vermischt -
können nur abwechselnd schlafen oder sich hinsetzen. Nur die, bei denen die
Tuberkulose bereits offene Formen angenommen hat, werden isoliert und in das
Sonderhospital des Gefängnisses ‚Matrosskaja Tischina' überführt. Aber auch hier ist es
nicht viel anders. Im Hospital mit 360 Betten befinden sich 850 Kranke. In der
Tuberkuloseabteilung des Hospitals, die 110 Betten hat, befinden sich beinahe 700
Kranke. In den Krankenzellen fehlt Ventilation, die Ärzte haben keine Medikamente."
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In dem IGFM-Bericht heißt es weiter:
32
„Offiziere, die zu einer Haftstrafe verurteilt wurden, sowie Soldaten, deren Haftstrafe
mehr als drei Jahre beträgt, haben ihre Haft in Straflagern des verschärften oder
strengen Vollzugsregimes zu verbüßen. Die meisten Gefangenen dort leiden an
Tuberkulose, wobei die Gründe der Erkrankung vielfältig sind. Da sind zuallererst die
schweren Haftbedingungen, das schlechte und rationierte Essen sowie die miserable
ärztliche Betreuung. In den Straflagern gibt es entweder überhaupt keine Wasserleitung
und Kanalisation oder sie sind ständig kaputt. Die weitere Ursache liegt darin, dass
beim Bau der straflagereigenen Gefängnisse (PKT und SchLSO) eine spezielle
Technologie angewandt wurde, damit die Zellen ständig feucht bleiben, nicht gelüftet
werden können, sich im Sommer aufheizen und im Winter bitterkalt sind. So wurde z.B.
der Beton- und Zementmischung Salz und einige Chemikalien beigemischt, das
Erdgeschoss tief in die Erde versenkt, die erste Dämmschicht in die Decke gelegt,
funktionsuntüchtige Heizung eingebaut, die Fenster mit Eisenplatten zugemauert, usw.
Zu feuchten und kalten Jahreszeiten werden oft zu gesunden Gefangenen Häftlinge
gesperrt, die an offener TB leiden. Folge: 80% der Gefangenen in Russland leiden an
TB.
33
Valerij Abramkin, Mitglied der präsidialen Kommission für Reform des Rechts- und
Vollzugswesens und Vorsitzende des russischen Zentrums für Humanisierung des
Strafvollzuges, beklagte in seinem Bericht an die UNO- Menschenrechtskommission im
Juli 1995, dass gemäß der Instruktion des Innenministeriums Strafgefangene als
Trainingsgegenstände für die Sondereingreiftruppen des Innern - SPEZNAS und OMON
- dienen müssen....
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Soldaten, deren Haftstrafe drei Jahre und darunter beträgt, müssen in einem der
berüchtigten Strafbataillone, dem GULag des Verteidigungsministeriums verbüßen, wo
sie schwerste Zwangsarbeit zu verrichten haben. Selbst ein nach russischen
Verhältnissen mildes Urteil von drei Jahren kann für einen Insassen lebenslänglich
35
bedeuten: Wegen kleinster Vergehen oder Nichterfüllung des Plansolls wird die
Haftstrafe regelmäßig um drei-vier Jahre verlängert und das Vollzugsregime verschärft.
Gefangene werden bis zu 30 Tagen und länger in ungeheizte Einzelhaftzellen ohne
Licht- und Luftzufuhr gesperrt und bei Hungerrationen gehalten."
An diesen Zuständen hat sich in den letzten Jahren nichts geändert. Noch immer
weisen die russischen Haftanstalten eine sehr hohe Durchsuchung mit Tuberkulose
oder anderen schweren Krankheiten auf und die Überbelegung ist inzwischen so hoch,
dass in drei Schichten geschlafen werden muss (Vgl. Fankfurter Allgemeine Zeitung
vom 24. Februar 1999 -Vom Gulag zum Guin; International Herald Tribune vom 9.
Januar 1998 - The illness and barbarism of Russia's jails-).
36
Eine konkrete Gefahr in diesem Sinne liegt vor, wenn eine beachtliche
Wahrscheinlichkeit, d.h. eine überwiegende Wahrscheinlichkeit für den Eintritt der
Gefahr vorliegt,
37
Vgl. BVerwG, Beschluss vom 13. August 1990 - 9 B 100/90 -, NVwZ-RR 1991, S. 215
noch zu § 14 AuslG alter Fassung.
38
Das Bundesverwaltungsgericht hat zu der Frage, wann eine beachtliche
Wahrscheinlichkeit vorliegt, in seinem Urteil vom 5. November 1991 - 9 C 118/90 -
(NVwZ 1992, S. 582) Folgendes ausgeführt:
39
„Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts liegt eine
Verfolgungsgefahr vor, wenn dem Asylsuchenden bei verständiger, nämlich objektiver,
Würdigung der gesamten Umstände seines Falles politische Verfolgung mit
beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht, sodass es ihm nicht zuzumuten ist, im
Heimatstaat zu bleiben oder dorthin zurückzukehren. Dabei ist eine "qualifizierende"
Betrachtungsweise i. S. einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände
und ihrer Bedeutung anzulegen. Es kommt darauf an, ob bei einem vernünftig
denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Asylsuchenden Furcht vor
Verfolgung hervorgerufen werden kann. Eine in diesem Sinne wohlbegründete Furcht
vor einem Ereignis kann deshalb auch dann vorliegen, wenn auf Grund einer
"quantitativen" oder mathematischen Betrachtungsweise weniger als 50%
Wahrscheinlichkeit für dessen Eintritt besteht. Beachtliche Wahrscheinlichkeit einer
Verfolgung ist deshalb dann anzunehmen, wenn bei der vorzunehmenden
zusammenfassenden Bewertung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für
eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb
gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Maßgebend ist in dieser
Hinsicht ......damit letztlich der Gesichtspunkt der Zumutbarkeit. Die Zumutbarkeit bildet
das vorrangige qualitative Kriterium, das bei der Beurteilung anzulegen ist, ob die
Wahrscheinlichkeit einer Gefahr "beachtlich" ist. Entscheidend ist, ob aus der Sicht
eines besonnenen und vernünftig denkenden Menschen in der Lage des
Asylsuchenden nach Abwägung aller bekannten Umstände die Rückkehr in den
Heimatstaat unzumutbar erscheint. Unzumutbar kann aber -wie ausgeführt- eine
Rückkehr in den Heimatstaat auch dann sein, wenn -wie hier- nur ein mathematischer
Wahrscheinlichkeitsgrad von weniger als 50% für eine politische Verfolgung gegeben
ist. In einem solchen Fall reicht zwar die bloße theoretische Möglichkeit einer
Verfolgung nicht aus. Ein vernünftig denkender Mensch wird sie außer Betracht lassen.
Ergeben jedoch die Gesamtumstände des Falles die "reale Möglichkeit" einer
politischen Verfolgung, wird auch ein verständiger Mensch das Risiko einer Rückkehr in
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den Heimatstaat nicht auf sich nehmen. Ein verständiger Betrachter wird bei der
Abwägung aller Umstände daneben auch die besondere Schwere des befürchteten
Eingriffs in einem gewissen Umfang in seine Betrachtung einbeziehen. Wenn nämlich
bei quantitativer Betrachtungsweise nur eine geringe mathematische Wahrscheinlichkeit
für eine Verfolgung besteht, macht es aus der Sicht eines besonnenen und vernünftig
denkenden Menschen bei der Überlegung, ob er in seinen Heimatstaat zurückkehren
kann, einen erheblichen Unterschied, ob er z. B. lediglich eine Gefängnisstrafe von
einem Monat oder aber die Todesstrafe riskiert."
An dieser Einschätzung ist auch unter Berücksichtigung der seither neu gewonnenen
Erkenntnisse sowohl in tatsächlicher als auch in rechtlicher Hinsicht festzuhalten. Dass
sich die Verhältnisse in den russischen Gefängnissen wesentlich verbessert hätten,
lässt sich den seither neu gewonnenen Auskünften und Erkenntnissen nicht entnehmen.
Vielmehr hat das Auswärtige Amt mitgeteilt, dass sich die Lage in den Gefängnissen im
letzten Jahr nicht verbessert sondern im Gegenteil sogar verschlechtert hat,
41
vgl. Auskunft an das VG Schleswig vom 8. September 1998 - 514- 516.80/29802 -, so
auch ai, ai-Journal 4/1999, S. 12 ff.
42
dies führe dazu, dass sich die TB (noch) verstärkter unter den Gefängnisinsassen
verbreite. Auch in dem neuesten Lagebericht bezeichnet das Auswärtige Amt die
Situation im Strafvollzug als alarmierend. Weiterhin sind die meisten Strafanstalten
überbelegt, die dortige Ernährung schlecht und die medizinische Versorgung
unzureichend. Dies gelte insbesondere auch für die Untersuchungshaft und werde auch
von offiziellen russischen Stellen bestätigt. Ein wachsendes Problem sei die Zunahme
von Aids- und Tuberkulosekranken in den russischen Gefängnissen,
43
vgl. Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen
Föderation vom 28. August 2001.
44
Jährlich sterben rund 10.000 Menschen in der Haft. Sie verhungern, infizieren sich mit
Hepatitis oder erliegen den Folgen einer Lungenentzündung. 1998/1999 litt jeder zehnte
Häftling an Tuberkulose - insgesamt zischen 90.000 und 100.000 Menschen,
45
vgl. ai, a.a.O.
46
Auch in rechtlicher Hinsicht hält die Kammer nach erneuter Überprüfung an ihrer
Auffassung fest, dass diese Zustände in den Gefängnissen als Folter zu werten sind.
Dies gilt auch entgegen der Ansicht des Klägers im Hinblick auf die von ihm zitierte
Rechtsprechung des BVerwG, wonach Voraussetzung für die Feststellung von
Abschiebungshindernissen nach § 53 Abs. 1 oder Abs. 4 AuslG ein geplantes,
vorsätzliches, auf eine bestimmte Person gerichtetes und vom Staat ausgehendes oder
ihm zuzurechnendes Handeln ist. Denn es spricht zur Überzeugung der Kammer alles
dafür, dass der russische Staat diese Zustände in den Gefängnissen bewusst und
gewollt bestehen lässt.
47
Dazu hatte die Kammer in ihrem bereits zitiertem Urteil vom 20. März 2000 ausgeführt:
48
„Dabei spielt auch eine Rolle, dass der russische Staat angesichts der schlechten
wirtschaftlichen Lage wohl kaum in der Lage sein wird, auch nur die schlimmsten
Zustände in angemessener Zeit zu beseitigen. Abgesehen davon erscheint auch
49
zweifelhaft, ob überhaupt ein ernsthafter Wille der politisch Verantwortlichen da ist,
diese Zustände zu ändern. Da diese Zustände zum Teil von staatlichen Stellen bewusst
herbeigeführt wurden wie etwa der bautechnische Zustand der Zellen ohne
Lüftungsmöglichkeit, Wasser und Kanalisation oder die Möglichkeit, die Gefangenen als
Trainingsobjekte der speziellen Eingreiftruppen zu nutzen, erscheint zweifelhaft, dass
die Regierung diese Zustände nicht in ihren Willen aufgenommen hat und sie als
Bestandteil des Strafvollzuges ansieht.
Weiter ist zu berücksichtigen, dass in der russischen Föderation eine ständige Praxis
gravierender Menschenrechtsverletzungen herrscht, was zumindest als Indiz für eine
drohende Foltergefahr zu beachten ist. Der Rechtsgedanke des Art. 3 Abs. 2 der UN-
Antifolterkonvention ist auch hier heranzuziehen,
50
vgl.: Gemeinschaftskommentar zum Ausländerrecht, Anm. 91 zu § 53 AuslG.
51
Über gravierende Menschenrechtsverletzungen in der russischen Föderation gegenüber
Rekruten liegen zahlreiche Berichte vor.
52
Vgl. insoweit das Urteil der Kammer vom 7. April 1995 - 25 K 11825/93.A
53
In diesem Zusammenhang ist auch zu beachten, dass im Rahmen der
Auseinandersetzung mit Tchetschenien zahlreiche Berichte über Folterungen und
grausame Behandlungen von Gefangenen durch die russische Armee in den
Filtrationslagern vorliegen (Le Monde vom 3. Februar 1995, Focus vom 13. Februar
1995 und Rheinische Post 21. Februar 1995).Als gravierende Verletzung der
Menschenrechte ist es auch zu werten, dass bei dem Einsatz in Tchetschenien
international geächtete Splitterbomben eingesetzt wurden (Focus vom 13. Februar
1995).
54
Schließlich ist es auch nicht mit den Menschenrechten zu vereinbaren, dass Waisen
generell in psychiatrischen Anstalten interniert werden, weil es in der russischen
Föderation seit 1990 keine Waisenhäuser mehr gibt (Neue Zürcher Zeitung vom 2. Juli
1994)."
55
Hinzu kommt, dass die aufgeführten Missstände bereits seit 1993/1994 spätestens aber
seit 1995 allgemein bekannt sind und der russische Staat seither keinerlei ernsthafte
Anstrengungen unternommen hat, Abhilfe zu schaffen. Vielmehr hat sich die Situation
im Strafvollzug im Gegenteil seitdem regelmäßig weiter verschärft. Allein das spricht
dafür, dass der Staat diese Haftbedingungen bestehen lassen will oder zumindest billigt
und bewusst Tuberkulosekranke mit Gesunden Häftlingen in einer Zelle unterbringt,
etwa um damit eine Abschreckung auf potenzielle Täter zu erzielen. Gegen die
Annahme, der russische Staat billige diese Verhältnisse in den Gefängnissen, spricht
auch nicht, dass ihm keine oder nur sehr geringe finanzielle Mittel für die Bewältigung
seiner Aufgaben zur Verfügung stehen. Denn er trägt mit Entscheidungen zu dieser
Situation bei, ohne dass diese auf dem Mangel von finanziellen Mittel beruhen. So ist
die Überfüllung der Gefängnisse (auch) auf eine Gesetzgebung zurückzuführen,
wonach für zahlreiche Delikte Haftstrafen verhängt werden. Diese Situation ist durch
das im Januar 1997 in Kraft getretene Strafgesetz weiter verschärft worden. Zwar sind
damit 40 Delikte weggefallen, gleichzeitig aber 60 neue Straftatbestände
hinzugekommen. Gleichzeitig sind trotz der bekannten Zustände in den Strafanstalten
die Strafmaße verlängert worden. So ist das Mindeststrafmaß für eine Freiheitsstrafe von
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drei Monaten auf heute sechs Monat erhöht worden. Auf diese Strafgesetzgebung ist es
auch zurückzuführen, dass in Russland auf 100.000 Einwohner rund 780 Häftlinge
kamen, während es in den Vereinigten Staaten lediglich 560 und in Deutschland sogar
nur 70 waren,
vgl. ai, a.a.O.
57
Davon abgesehen ergibt sich die Verantwortlichkeit des russischen Staates für die
genannten Umstände aber auch daraus, dass den Staat gegenüber seinen Häftlingen
eine besondere Verantwortlichkeit trifft, weil diese ihm infolge des "besonderen
Gewaltverhältnisses" schutzlos ausgeliefert sind.
58
Es ist auch davon auszugehen, dass der Beigeladene zu 1. individuell und konkret
dieser Gefährdungssituation bei einer Rückkehr ausgesetzt sein wird. Er hat glaubhaft
angegeben, er habe zwei der drei Vergewaltiger seiner Schwester erschossen. Die
Beigeladene zu 2. hat zudem überzeugend geschildert, dass ihr Ehemann seither von
der Miliz gesucht worden sei. Insbesondere die Aussagen der Beigeladenen vor dem
Bundesamt zeichneten sich dabei nach dem Inhalt des Anhörungsprotokolls und dem
Eindruck, den der Einzelentscheider in einem Vermerk niedergelegt hat, durch logische
Konsistenz, unstrukturierte Darstellung, raumzeitliche Verknüpfungen, Schilderung
ausgefallener Einzelheiten, Schilderung eigener psychischer Vorgänge,
Selbstbelastung und eine überzeugende emotionale Beteiligung der Beigeladenen aus.
Dass dies sich bei ihrer Anhörung im Termin zur mündlichen Verhandlung nicht im
gleichen Ausmaß hat feststellen lassen, begründet keine Zweifel an der Glaubhaftigkeit
der Aussagen, sondern ist auf den seither verstrichenen Zeitraum von fast drei Jahren
zurückzuführen, in welchem die Beigeladenen hier sicher vor Verfolgung leben konnten.
Soweit sich in den Schilderungen der Beigeladenen Abweichungen ergeben haben,
haben sie diese zu erklären vermocht. Dies gilt zunächst hinsichtlich der Art, wie seine
Schwester sich umgebracht haben soll. Beide Beigeladenen haben übereinstimmend
im Termin zur mündlichen Verhandlung angegeben, die Schwester habe sich erhängt
und als Erklärung für die davon abweichende Angabe im Protokoll ihrer Anhörung bei
dem Bundesamt erklärt, dort gesagt zu haben, sie habe sich das Leben vergiftet, was
von der dortigen Dolmetscherin offenbar falsch übersetzt worden sei. Auch hinsichtlich
der Abweichungen über die bauliche Beschaffenheit des Nebenhauses haben die
Beigeladenen entstandene Unstimmigkeiten in den Angaben auf Nachfrage aufklären
können. Nach den übereinstimmenden Angaben der Beigeladenen in der mündlichen
Verhandlung, in der sie getrennt angehört worden sind, hat das Nebenhaus nämlich
zwei Türen, was den Widerspruch zwischen den Angaben des Beigeladenen zu 1. bei
seiner Anhörung durch das Bundesamt erklärt, wonach er die Tür habe öffnen können
(dabei handelt es sich um die erste Tür) und denjenigen bei seiner Vernehmung durch
die Staatsanwaltschaft, wonach es ihm nicht gelungen sei, die Tür zu öffnen (dabei
handelte es sich um die zweite Tür, die zwar aus Holz, oben aber mit zwei Glasfenstern
versehen war) und er lediglich durch die Glasscheibe habe sehen können, was mit
seiner Schwester geschehen sei. Der Beigeladene zu 1. hat auch nachvollziehbar
darauf verwiesen, dass die Ereignisse sich im Anschluss an die Vergewaltigung derart
überstürzt hätten, dass er zum Teil nicht mehr genau den einzelnen Geschehensablauf
wiedergeben könne. Zu berücksichtigen ist dabei auch, dass seit diesem Geschehen
über sechs Jahre vergangen sind und die Erinnerung selbst bei gravierenden
Ereignissen nachlässt. Abgesehen davon ist die Glaubhaftigkeit der Angaben der
Beigeladenen durch den Kläger auch nicht in Abrede gestellt worden. Auch der
Umstand, dass die im Strafververfahren von dem BKA gestartete Anfrage aus Moskau
59
noch nicht beantwortet ist, lässt nicht den Schluss zu, dass der Beigeladene die von ihm
behaupteten Straftaten nicht begangen hat, weil die fehlende Antwort auch auf einer
unzureichenden Bearbeitung beruhen kann. Ebenso wenig lässt die in der Strafakte
festgehaltene Einschätzung des Mitarbeiters des BKA, dass Asylbewerber aus der
ehemaligen Sowjetunion durchgängig ähnlich gelagerte Sachverhalte schilderten,
Zweifel an der Glaubhaftigkeit aufkommen, denn diese Einschätzung beruht nicht auf
dem persönlichen Eindruck des Mitarbeiters von den Beigeladenen und kann im
Übrigen auch von der Einzelrichterin auf Grund ihrer Erfahrung in anderen
Asylverfahren von Asylbewerbern aus der GUS nicht bestätigt werden. Dem
Beigeladenen zu 1. droht daher bei einer Rückkehr eine Haftstrafe wegen der Tötung
der beiden Soldaten. Gründe dafür, dass der Beigeladene den menschenrechtswidrigen
Zuständen in den russischen Gefängnissen nicht unterliegen wird, sind nicht ersichtlich.
Dazu hatte die Kammer in einem vergleichbaren Fall in ihrem Urteil vom 20. März 2000 -
25 K 7371/96.A - ausgeführt:
„Wenn die Zahl der an Tuberkulose erkrankten Häftlinge zwischen 50 und 80 % liegt, ist
auch eine hinreichende Wahrscheinlichkeit dafür gegeben, dass der Kläger zu 2.
ebenfalls schwer erkrankt und bleibende Schäden davonträgt. Auch dass 2% aller
Gefangenen sterben, lässt eine Abschiebung in der Gewissheit, dass der
Abgeschobene inhaftiert wird, nicht zu. Denn bei einer derart schweren Folge wie dem
Tod reicht auch eine relativ geringe zahlenmäßige Wahrscheinlichkeit aus, um eine
"beachtliche" Wahrscheinlichkeit im Sinne der Rechtsprechung anzunehmen."
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Diese Ausführungen gelten im vorliegenden Fall entsprechend, Gründe aus denen für
den Beigeladenen zu 1. eine andere Bewertung geboten sein könnte, sind nicht
ersichtlich.
61
Auch die Beigeladene zu 2. hat bei einer Rückkehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit
zu befürchten, der Folter unterworfen zu werden, weil damit zu rechnen ist, dass die
Miliz weiterhin versuchen wird, über die Beigeladene zu 2., die Ehefrau des
Beigeladenen zu 1., der wegen des festgestellten Abschiebungshindernisses nicht in
die Russische Föderation zurückkehren wird, die Rückkehr des Beigeladenen zu 1. zu
erzwingen. Auch die Angaben der Beigeladenen zu 2. zu den gegen sie von der Miliz
ergriffenen Maßnahmen sind - wie oben ausgeführt - glaubhaft und in sich
widerspruchsfrei. Entgegen der Auffassung des Klägers kann auch nicht davon die
Rede sein, dass es sich bei den Übergriffen der Miliz auf die Beigeladenen zu 2.
lediglich um Exzesstaten Einzelner handelte. Denn nach den der Kammer zur
Verfügung stehenden Auskünften und Erkenntnissen ist Folter und grausame
Behandlung in Russland nach wie vor fester Bestandteil der Arbeitsweise der Miliz,
62
vgl. IGFM, Auskunft an das OVG NRW vom 26. Januar 1999.
63
Schon allein deswegen kann nicht von dem Exzess Einzelner gesprochen werden,
wenn diese Arbeitsweise den gesamten Strafverfolgungsapparat des Staates
kennzeichnet. Zudem trägt der russische Staat auch deswegen Verantwortung für diese
Taten, weil er mit seinem System, von jedem Ermittler pro Monat eine bestimmte Anzahl
aufgeklärter Verbrechen zu verlangen, zu diesen Missständen beiträgt,
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vgl. IGFM, a.a.O.
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Darüber hinaus begründen auch existierende geheime Dekrete und lokale Erlasse, die
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die systematische Anwendung von Folter etwa im Rahmen der Strafaufklärung
sanktionieren, die unmittelbare Verantwortlichkeit des gesamten russischen Staates für
die dort von den Polizeibeamten angewendete Folter,
vgl. ai., ai-Jaurnal, 4/1999, S. 9.
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So wurde etwa mit Sonderbefehl Nr. 13 des Innenministeriums vom 15. Januar 1993 die
1988 abgeschaffte Reduzierung der Nahrungsmittelration - Folter durch Hunger - für
Häftlinge, die zusätzlich bestraft werden sollen, wieder eingeführt,
68
vgl. ai., a.a.O.
69
Eine weitere geheime Anordnung des Innenministeriums gestattet den Sondereinheiten
der Polizei theoretische und praktische an Gefangenen zu trainieren,
70
vgl. ai., a.a.O.
71
Lässt der Staat aber gezielt Folter zu und zwar auch eine gezielte Ausbildung der
Polizei auf diesem Gebiet, kann eine staatliche Verantwortung im Einzelfall nicht mit
dem Hinweis auf angebliche Exzesstaten verneint werden.
72
Dass gerade auch die Beigeladene zu 2. bei einer Rückkehr mit beachtlicher
Wahrscheinlichkeit Gefahr läuft, erneut das Opfer von Misshandlungen durch die Polizei
zu werden, gründet sich zudem darauf, dass gerade auch Frauen zu den Zielgruppen
von Menschenrechtsverstößen gehören,
73
vgl. ai, ai-Journal, a.a.O., S. 14.
74
Im Übrigen besteht - wie ausgeführt - bei der Beigeladenen zu 2. die konkrete Gefahr,
weil sie auf Grund des bei dem Beigeladenen zu 1. festgestellten
Abschiebungshindernisses ohne ihren Ehemann in die Russische Föderation
zurückkehren müsste und deswegen Gefahr laufen würde, dass die Sicherheitskräfte
erneut über sie versuchen würden, ihres Ehemannes habhaft zu werden.
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Weiter stellen die den Beigeladenen zu 1. und 2. drohenden Misshandlungen auch ein
Abschiebungshindernis nach § 53 Abs. 4 AuslG in Verbindung mit Art. 3 EMRK dar.
Nach Art. 3 EMRK ist es untersagt, einen Menschen der Folter oder unmenschlicher
oder erniedrigender Strafe oder Behandlung zu unterwerfen. Wie bereits dargelegt
drohen den Beigeladenen zu 1. und 2. Bei einer Rückkehr nach Russland die Gefahr
der Folter. Diese Misshandlungen sind dem russischen Staat - wie dargelegt - auch
zuzurechnen.
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Im Übrigen wird ergänzend auf die Ausführungen des Bundesamtes Bezug genommen,
denen die Kammer folgt (§§ 117 Abs. 5 VwGO, 77 Abs. 2 AsylVfG).
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Selbst, wenn man jedoch eine staatliche Verantwortlichkeit für die den Beigeladenen
drohenden Misshandlungen verneinen sollte bzw. diese auch nicht als Folter werten
würde, läge zu Gunsten der Beigeladenen jedenfalls ein Abschiebungshindernis im
Sinne des § 53 Abs. 6 AuslG vor, weil die zu befürchtenden Übergriffe eine erhebliche
konkrete Gefahr für Leib und Leben der Beigeladenen darstellen.
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Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO i.V.m. § 83b Abs. 1 AsylVfG. Es
entspricht auch der Billigkeit, die Kosten der Beigeladenen für erstattungsfähig zu
erklären, da sie einen Antrag gestellt haben, mit dem sie erfolgreich waren, § 162 Abs. 3
VwGO.
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Wegen des Gegenstandswertes der anwaltlichen Tätigkeit wird auf § 83b Abs. 2
AsylVfG verwiesen.
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