Urteil des VG Düsseldorf vom 22.06.2010

VG Düsseldorf (italien, kläger, bundesrepublik deutschland, ehefrau, deutschland, befragung, arbeitssuche, gebrauch, aufenthaltserlaubnis, sitzung)

Verwaltungsgericht Düsseldorf, 27 K 6663/08
Datum:
22.06.2010
Gericht:
Verwaltungsgericht Düsseldorf
Spruchkörper:
27. Kammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
27 K 6663/08
Schlagworte:
Aufenthaltskarte Freizügigkeit Unionsbürgerrechte Carta d'Identita
Normen:
AufenthG § 59 Abs 1 AEU Art 56 AEU Art 49 AEU Art 45 AEU Art 21
FreizügG/EU
Leitsätze:
Der drittstaatsangehörige Ehegatte eines Unionsbürgers hat, wenn
dieser von seinen Freizügigkeitsrechten Gebrauch gemacht hat und in
seinen Herkunftsstaat zurückkehrt, ein abgeleitetes Aufent-haltsrecht in
dem Herkunftsmitgliedstaat des Unionsbürgers nur dann, wenn das
Gebrauchmachen von den Freizügigkeitsrechten eine spezifische
Qualität und gewisse Nachhaltigkeit aufweist. Es be-darf insoweit einer
wertenden Betrachtung des Einzelfalls.
(Wiederholte) Besuchsaufenthalte weisen die erforderliche Qualität und
Nachhaltigkeit des Gebrauchmachens von den Freizügigkeitsrechten in
der Regel nicht auf.
Tenor:
Die Klage wird abgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf
die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 v. H. des
auf Grund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwen-den, wenn nicht
der Beklagte vor der Vollstreckung in Höhe von 110 v. H. des jeweils zu
vollstreckenden Betrages Sicherheit leistet.
Die Berufung wird zugelassen.
Der am 00.0.1970 in Dakar (Senegal) geborene Kläger ist Staatsangehöriger der
Republik Senegal. Am 24. April 1995 reiste er in das Bundesgebiet ein und suchte um
Asyl nach. Den Asylantrag lehnte das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer
Flüchtlinge durch am 11. September 1995 auf Grund Gerichtsbescheid des
Verwaltungsgerichts Würzburg (W 1 K 95.31534) in Rechtskraft erwachsenen Bescheid
vom 24. Juli 1995 ab. Nachdem der Kläger untergetaucht und am 12. Oktober 1995 zur
1
Festnahme ausgeschrieben worden war, wurde er am 5. Juli 1997 von Beamten des
Bundesgrenzschutzes auf dem Flughafen Köln Bonn aufgegriffen. Er war ausweislich
der Sichtvermerke in seinem am 28. April 1997 in Dakar ausgestellten Dienstpass der
Republik Senegal am 2. Mai 1997 aus dem Senegal auf dem Luftweg in das
Bundesgebiet eingereist. Gegenüber der Ausländerbehörde der Stadt L erklärte er, nach
der Ablehnung seines Asylantrags von Frankreich aus in den Senegal zurückgereist zu
sein. Vom Senegal aus sei er am 30. April 1997 nach Tunesien und am 2. Mai 1997
wieder in das Bundesgebiet nach E gereist, wo er Geschäfte getätigt und seinen Bruder
besucht habe. Nachgewiesen durch Grenzübertrittsbescheinigung verließ der Kläger
das Bundesgebiet am 9. Juli 1997.
Nach seinen Angaben hielt er sich nachgehend nach Aufenthalten in den Vereinigten
Staaten von Amerika zwischen 2002 und 2005 wiederholt in der Italienischen Republik
auf, in welche er auf Grund seines Dienstpasses ohne Nachweis einer
Aufenthaltserlaubnis habe einreisen können. Am 1. Juni 2006 reiste der Kläger auf
Grund eines von der Republik Italien am 30. Mai 2006 erteilten Schengenvisums
(Typ C) nach Italien ein. Nach Ablauf der Gültigkeit des Visums verblieb der Kläger in
Italien, wo er am 16. Oktober 2007 in D (Provinz D1) seine Landsmännin B heiratete.
Die Ehefrau des Klägers ist Deutsche auf Grund Einbürgerung. Sie wohnt in L1 und ist
Bezieherin von Grundsicherungsleistungen nach dem Sozialgesetzbuch II
(Arbeitslosengeld II). Zum 17. Juli 2007 hatte die Ehefrau des Klägers einen Wohnsitz in
D angemeldet sowie sich eine Steuernummer (Codice Fiscale) erteilen und ein
Ausweisdokument (Carta d’Itentita) ausstellen lassen.
2
Am 22. Oktober 2007 stellte der Kläger beim Generalkonsulat der Bundesrepublik
Deutschland in Mailand einen Antrag auf Ausstellung eines Visums zum Zwecke der
Familienzusammenführung. Er wies sich durch einen am 22. April 2004 ausgestellten
Reisepass der Republik Senegal aus. Neben der Bescheinigung der Eheschließung
legte er Kopien eines zwischen seiner Ehefrau und der Familie T / E1 aus N (Rhein-
Kreis Neuss) am 15. November 2007 geschlossenen Arbeitsvertrags sowie
Gehaltsabrechnungen der Monate April, Juni und August 2007 vor. Im Rahmen des
Visumsverfahrens wurden der Kläger und seine Ehefrau am 7. Februar 2008 in Mailand
durch das Generalkonsulat der Bundesrepublik Deutschland beziehungsweise durch
die Ausländerbehörde in L1 befragt. Die Ehefrau des Klägers gab gegenüber dem
Beklagten – neben einer Vielzahl weiterer Punkte – an, zwischen Dezember 2006 und
November 2007 in Teilzeit von der Familie T / E1 zur Kinderbetreuung beschäftigt
worden zu sein. In dem Zeitraum 15. November 2007 bis 15. Januar 2008 sei sie in
Vollzeit beschäftigt gewesen. Weiter gab sie an, dem Kläger Ende 2005 in Italien
wiederbegegnet zu sein. Von da an seien sie und der Kläger ein Paar gewesen und sie
habe den Kläger sechs bis sieben mal an Wochenenden oder gelegentlich mehrere
Tage in Italien besucht. Wegen der weiteren Einzelheiten der Befragung wird Bezug
genommen auf die Blätter 120 bis 129 der Beiakten Heft 1. Das Generalkonsulat lehnte
die Erteilung des Visums nach Verweigerung der Zustimmung durch den Beklagten
durch Bescheid vom 3. März 2008 ab.
3
Im April 2008 reiste der Kläger in das Bundesgebiet zu seiner Ehefrau ein und
beantragte durch Schriftsatz seines Prozessbevollmächtigten vom 13. Mai 2008
gegenüber dem Beklagten die Erteilung eines Aufenthaltstitels in Hinsicht auf das
Gebrauchmachen von Freizügigkeitsrechten durch seine Ehefrau. Zur Begründung
führte er im Wesentlichen aus: Seine Ehefrau habe in Italien von dem
Freizügigkeitsrecht nach Art. 49 EGV Gebrauch gemacht. Daraus ergebe sich nach der
4
Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zu seinen Gunsten unmittelbar aus
dem Gemeinschaftsrecht ein Freizügigkeitsrecht. Am 22. Juli 2008 übergab der Kläger
dem Beklagten seinen im Juni 2008 von der Botschaft der Republik Senegal
ausgestellten Reisepass.
Durch Anhörungsschreiben vom 6. August 2008 teilte der Beklagte dem Kläger mit,
dass er beabsichtige, seinen Antrag abzulehnen. Der Beklagte führte im Wesentlichen
aus, der Kläger sei ohne den erforderlichen Aufenthaltstitel in das Bundesgebiet
eingereist. Er habe kein Aufenthaltsrecht aus dem Gemeinschaftsrecht, da seine
Ehefrau in keiner zu der Begründung eines Aufenthaltsrechts des Klägers genügenden
Weise von Freizügigkeitsrechten Gebrauch gemacht habe.
5
Durch Schriftsatz seines Prozessbevollmächtigten vom 25. August 2008 führte der
Kläger ergänzend aus, seine Ehefrau habe sich im Jahr 2007 zum Zwecke der
Arbeitssuche nach Italien begeben. Dies werde noch durch Nachweise belegt werden.
Zugleich habe sich seine Ehefrau als Dienstleistungsempfängerin in Italien aufgehalten.
6
Durch Ordnungsverfügung vom 8. September 2008 lehnte der Beklagte die Ausstellung
einer Aufenthaltskarte und die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis ab. Zugleich wurde
dem Kläger die Abschiebung in den Senegal angedroht und eine Ausreisefrist von zwei
Wochen gesetzt. Zur Begründung der Ordnungsverfügung führte der Beklagte im
Wesentlichen aus: Der Kläger habe kein Aufenthaltsrecht aus dem Gemeinschaftsrecht,
da seine Ehefrau in keiner zu der Begründung eines Aufenthaltsrechts des Klägers
genügenden Weise von Freizügigkeitsrechten Gebrauch gemacht habe. Die Erteilung
einer Aufenthaltserlaubnis nach dem Aufenthaltsgesetz scheitere an der Einreise ohne
das erforderliche Visum. Von dem Visumserfordernis sei keine Ausnahme zu machen.
7
Der Kläger hat am 25. September 2008 Klage erhoben und zugleich um Eilrechtsschutz
nachgesucht. Die Kammer hat im Eilverfahren durch Beschluss vom 17. August 2009
(27 L 1559/08) die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die
Abschiebungsandrohung angeordnet. Die vom Beklagten gegen den Beschluss
gerichtete Beschwerde hat das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-
Westfalen (OVG NRW) durch Beschluss vom 3. November 2009 (18 B 1276/09)
zurückgewiesen.
8
Zur Begründung der Klage wiederholt der Kläger seine Ausführungen aus dem
Verwaltungsverfahren und führt im Wesentlichen ergänzend aus: Seine Ehefrau habe
sich in Italien zum Zwecke der Arbeitssuche aufgehalten und so vom Freizügigkeitsrecht
des Art. 49 EGV Gebrauch gemacht. Zugleich habe sie sich in Hinsicht auf die Heirat als
Dienstleistungsempfängerin in Italien aufgehalten. Die Rechtswidrigkeit der
Abschiebungsandrohung ergebe sich zudem daraus, dass dem Kläger eine zu kurze
Ausreisefrist gesetzt worden sei.
9
Im Verhandlungstermin hat der Beklagte seine Ordnungsverfügung vom
8. September 2008 abgeändert und die dem Kläger gesetzte Ausreisefrist auf einen
Monat ab Zustellung der Ordnungsverfügung verlängert.
10
Der Kläger beantragt,
11
den Beklagten unter Aufhebung seiner Ordnungsverfügung vom
8. September 2008 in der Fassung der Erklärung in der mündlichen Verhandlung
12
vom 22. Juni 2010 zu verpflichten, ihm eine Aufenthaltskarte zu erteilen, hilfsweise,
ihm einer Aufenthaltserlaubnis aus familiären Gründen zu erteilen.
Der Beklagte beantragt,
13
die Klage abzuweisen.
14
Er führt ergänzend zu den Gründen seiner Ordnungsverfügung vom 8. September 2008
im Wesentlichen aus: Der Kläger habe kein Aufenthaltsrecht aus dem
Gemeinschaftsrecht. Der Wohnsitz und Lebensmittelpunkt der Ehefrau des Klägers sei
durchgehend L1 gewesen. Sie habe sich weder in Italien niedergelassen noch
nachhaltig Unionsbürgerrechte ausgeübt. Zudem sei die Anwendung von
Gemeinschaftsrecht ausgeschlossen, weil die Berufung auf dieses ein
Rechtsmissbrauch sei.
15
Die Kammer hat den Kläger informatorisch befragt und durch die Vernehmung seiner
Ehefrau als Zeugin Beweis erhoben. Wegen des Ergebnisses wird auf das Protokoll der
Sitzung vom 22. Juni 2010 verwiesen. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und
Streitstandes wird ergänzend auf den Inhalt der Gerichtsakten der Verfahren
27 K 6663/08 und 27 L 1559/08 sowie des Verwaltungsvorgangs des Beklagten Bezug
genommen.
16
Entscheidungsgründe:
17
I. Die Klage hat keinen Erfolg.
18
Der die Ausstellung einer Aufenthaltskarte und die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis
versagende Bescheid des Beklagten vom 8. September 2008 ist rechtmäßig und verletzt
den Kläger nicht in seinen Rechten. Der Beklagte hat zu Recht die Erteilung einer
Aufenthaltskarte (1) und einer Aufenthaltserlaubnis aus Gründen des Familiennachzugs
(2) versagt und dem Kläger die Abschiebung in den Senegal angedroht (3).
19
1. Der zulässige Hauptantrag ist unbegründet. Der Kläger hat keinen Anspruch auf
Erteilung einer Aufenthaltskarte. Der Sachverhalt weist keinen ausreichenden
unionsrechtlichen Bezug aus, welcher zur Begründung eines unionsrechtlichen
Aufenthaltsrechtes des Klägers geeignet wäre.
20
Freizügigkeitsberechtigten Unionsbürgern und ihren Familienangehörigen mit
Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaates der Europäischen Union wird nach § 5 Abs. 1
Gesetz über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern (FreizügG/EU) von Amts
wegen unverzüglich eine Bescheinigung über das Aufenthaltsrecht ausgestellt.
Freizügigkeitsberechtigten Familienangehörigen, die nicht Unionsbürger sind, wird von
Amts wegen innerhalb von sechs Monaten, nachdem sie die erforderlichen Angaben
gemacht haben, eine Aufenthaltskarte für Familienangehörige von Unionsbürgern
ausgestellt, die fünf Jahre gültig sein soll (§ 5 Abs. 2 FreizügG/EU).
21
Nach den Regelungen der in der Bundesrepublik Deutschland durch das FreizügG/EU
umgesetzten Richtlinie 2004/38/EG sowie den Freizügigkeitsrechten des Vertrags über
die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEU) und der Rechtsprechung des
Europäischen Gerichtshofs,
22
vgl. Europäischer Gerichtshof (EuGH), Urteil vom 7. Juli 1992 - C-370/90 - [Singh], Slg.
1992, I - 4265; Urteil vom 11. Juli 2002 - C-60/00 - [Carpenter], Slg. 2002, I-6279; Urteil
vom 25. Juli 2002 - C-459/99 - [MRAX]. Slg. 2002, I - 6591; Urteil vom
23. September 2003 - C-109/01 - [Akrich], Slg. 2003, I - 9607; Urteil vom
19. Oktober 2004 - C-200/02 - [Zhu und Chen], Slg. 2004, I-9925; Urteil vom
25. Juli 2008 - C-127/08 - [Metock], Slg. 2008, I-6241,
23
hat der drittstaatsangehörige Ehegatte eines von seinen Freizügigkeitsrechten
Gebrauch machenden Unionsbürgers ein Aufenthaltsrecht im Unionsgebiet. Das
Aufenthaltsrecht ergibt sich unmittelbar aus dem Unionsrecht und wird im Kern an keine
weitergehenden Voraussetzungen als die Ehe und den Nachweis der Identität geknüpft.
Speziell bedarf es weder der Einholung eines Visums vor der Einreise in das
Bundesgebiet noch des Nachweises von Sprachkenntnissen.
24
Vgl. EuGH, Urteil vom 25. Juli 2002 - C-459/99 - [MRAX], a. a. O.; Urteil vom
25. Juli 2008 - C-127/08 - [Metock],a. a. O; Epe, in: Fritz / Vormeier,
Gemeinschaftskommentar zum Aufenthaltsgesetz, Loseblattwerk (Stand: Mai 2010),
FreizügG/EU (IX) § 2 Rdnr. 137, m. w. N.
25
Offen gelassen werden kann, ob der Anwendungsbereich des FreizügG/EU, welches
nach § 1 FreizügG/EU auf Familienangehörige Deutscher keine Anwendung findet, in
unionsrechtskonformer Auslegung auf drittstaatsangehörige Familienangehörige
Deutscher – soweit diese von den Freizügigkeitsrechten Gebrauch machen –
auszudehnen ist,
26
vgl. Hailbronner, Ausländerrecht, Loseblattwerk (Stand: April 2010), FreizügG/EU (D 1)
§ 1 Rdnr. 2; Hoppe, in: Zeitler, HTK-AuslR, § 1 FreizügG/EU (05/2010) Nr. 2.3,
27
da selbst bei Ablehnung einer solchen Auslegung zumindest unmittelbar auf die
Freizügigkeitsrechte und die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs
zurückgegriffen werden kann,
28
vgl. VG Aachen, Urteil vom 24. November 2005 - 8 K 2788/04 -; Epe, a. a. O.,
FreizügG/EU (IX) § 2 Rdnr. 24 ff.; Fischer-Lescano, ZAR 2005, 288 (294),
29
was in der Sache im Ergebnis zu keinen abweichenden Bewertungen führt.
30
Vgl. Cremer, NVwZ 2010, 494 (495).
31
Unter welchen Voraussetzungen im Einzelnen ein die Anwendbarkeit des Unionsrechts
eröffnendes Gebrauchmachen von den Unionsbürgerrechten gegeben ist, hat der
Europäische Gerichtshof in seiner Rechtsprechung noch nicht abschließend geklärt.
Unzweifelhaft auf das Unionsrecht berufen kann sich danach der Ehegatte, wenn sich
der Unionsbürger in Ausübung der Dienstleistungsfreiheit (Art. 56 AEU),
Niederlassungsfreiheit (Art. 49 AEU) oder Arbeitnehmerfreizügigkeit (Art. 45 AEU) in
einem Mitgliedstaat längere Zeit aufgehalten hat und in seinen Heimatmitgliedstaat
zurückkehrt (Rückkehrerfälle). Gleiches gilt nach der Rechtsprechung des Europäischen
Gerichtshofs in der Rechtssache Carpenter,
32
vgl. EuGH, Urteil vom 11. Juli 2002 - C-60/00 - [Carpenter], a. a. O.,
33
wenn der Unionsbürger durch die Erbringung von grenzüberschreitenden
Dienstleistungen von seinem Heimatmitgliedstaat aus von der Dienstleistungsfreiheit
Gebrauch macht. Auch hat der Europäische Gerichtshof in der Rechtssache Zhu und
Chen,
34
Vgl. EuGH, Urteil vom 19. Oktober 2004 - C-200/02 - [Zhu und Chen] -, a. a. O.,
35
festgestellt, dass sich das Aufenthaltsrecht eines Familienangehörigen eines
Unionsbürgers auf das Freizügigkeitsrecht aus Art. 18 EGV (Art. 21 AEU) stützen kann.
36
Vgl. hierzu Kugelmann, in: Schulze / Zuleeg, Europarecht, 1. Auflage (2006), § 41
Rdnr. 96.
37
Unzweifelhaft keine Anwendung finden die Grundsätze nach der vorzitierten
Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs auf Sachverhalte, die keinerlei
Anknüpfungspunkt zu irgendeinem vom Unionsrecht erfassten Sachverhalt aufweisen,
welchen es also an einem unionsrechtlichen Bezug mangelt.
38
Aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zu den Grundfreiheiten kann
jedoch geschlossen werden, dass für ein die Anwendbarkeit des Unionsrechts
eröffnendes Gebrauchmachen von den Unionsbürgerrechten ein nur vorübergehender
Aufenthalt in einem anderen Mitgliedstaat nicht ausreichend ist.
39
Vgl. Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg (OVG BB), Urteil vom 16. Juli 2009 - 2
B 19.08 -, Juris; Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg (VGH BW), Beschluss vom
25. Januar 2010 - 11 S 2181/09 -, InfAuslR 2010, 143; Bayersicher
Verwaltungsgerichtshof (VGH Bayern), Beschluss vom 29. September 2009 - 19 CS
09.1405 -, Juris; Hessischer Verwaltungsgerichtshof (VGH Hessen), Beschluss vom
22. Januar 2010 - 3 B 2948/09 -, Juris; Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-
Westfalen (OVG NRW), Beschluss vom 14. Juni 2010 - 18 B 432/10 -; VG Aachen, Urteil
vom 24. November 2005 - 8 K 2788/04 -; VG Saarland, Beschlüsse vom 18. März 2009 -
2 L 62/09 - und 20. Januar 2010 - 10 L 2059/09 -, Juris; VG Darmstadt, Beschluss vom
23. Oktober 2009 - 5 L 557/09.DA (2) -, Juris; VG Freiburg, Beschluss vom
20. November 2009 - 3 K 2052/09 -, Juris; Hailbronner, a. a. O., FreizügG/EU (D 1) § 1
Rdnr. 17; Hoppe, in: Zeitler, HTK-AuslR, § 1 FreizügG/EU (05/2010) Nr. 2.3;
Fehrenbacher, in: Zeitler, HTK-AuslR, § 39 AufenthV (02/2010) Nr. 4.4; Cremer, NVwZ
2010, 494 (497); A. A. VG Freiburg, Beschluss vom 20. Januar 2009 - 1 K 2349/08 -.
40
Erforderlich ist hierfür vielmehr eine spezifische Qualität und gewisse Nachhaltigkeit des
Gebrauchmachens von den Unionsbürgerrechten. So erkennt der Europäische
Gerichtshof in seiner Rechtssprechung – wie die Kammer im Beschluss vom
10. September 2009 (27 L 2043/08) festgestellt hat und der Hessische VGH im
Beschluss vom 22. Januar 2010 (3 B 2948/09) hervorhebt – das Erfordernis einer
insoweit anzustellenden wertenden Betrachtung an, wenn er ausführt, dass die
Vertragsbestimmungen über die Freizügigkeit nicht auf Tätigkeiten anwendbar sind, die
keine Berührung mit irgendeinem der Sachverhalte aufweisen, auf die das Unionsrecht
abstellt, und die mit keinem relevanten Element über die Grenzen eines Mitgliedstaats
hinausweisen.
41
Vgl. EuGH, Urteil vom 25. Juli 2008 - C-127/08 - [Metock], a. a, O., Rdnr. 77; Urteil vom
26. Januar 1999 - C-18/95 - [Terhoeve], Slg. 1999, I-345, Rdnr. 26, m. w. N.; Urteil vom
42
1. April 2008 - C-212/06 -[Gouvernement de la Communauté française und
Gouvernement wallon].
Diesen wertenden Ansatz verfolgt der Europäische Gerichtshof auch bei der
Konkretisierung weiterer Grundfreiheiten. So hat er in ständiger Rechtsprechung in
Bezug auf die Arbeitnehmerfreizügigkeit nach Art. 45 AEU die einschränkende
Voraussetzung aufgestellt, dass als Arbeitnehmer nur angesehen werden kann, "wer
eine tatsächliche und echte Tätigkeit ausübt, die nicht einen so geringen Umfang hat,
dass es sich um völlig untergeordnete und unwesentliche Tätigkeiten handelt".
43
Vgl. EuGH, Urteil vom 30. Juni 2006 - C-10/05 - [Mattern], Slg. 2006, I-3145, Rdnr. 18;
Urteil vom 26. Februar 1992 - C-3/90 - [Bernini], Slg. 1992, I-1071, Rdnr. 14; Urteil vom
26. Februar 1992 - C-357/89 - [Raulin], Slg. 1992, I-1027, Rdnr. 10; Urteil vom
23. März 1982 - C-53/81 - [Levin], Slg. 1982, 1035, Rdnr. 17; Urteil vom 31. Mai 1989 -
C-344/87 - [Bettray], Slg. 1989, 1621, Rdnr. 17; Schneider / Wunderlich, in: Schwarze,
EU-Kommentar, 2. Auflage (2009), Art. 39 EGV § Rdnr. 11; Cremer, WissR 36 (2003),
129 (133); Schlachter, in: Schulze / Zuleeg, a. a. O., § 39 Rdnr. 7 ff.
44
Die nationalen Gerichte müssen die in Frage stehenden Tätigkeiten und die Umstände
der Beschäftigung im Rahmen einer Gesamtbetrachtung würdigen.
45
Vgl. EuGH, Urteil vom 6. November 2003 - C-413/01 - [Ninni-Orasche], Slg. 2003, I-
13187; Schneider / Wunderlich, in: Schwarze, a. a. O., Art. 39 EGV Rdnr. 11.
46
Darüber hinaus spricht, was das Verwaltungsgericht Darmstadt im Beschluss vom
23. Oktober 2009 - 5 L 557/09.DA (2) - hervorhebt und dem sich der
Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg im Beschluss vom 25. Januar 2010 -
11 S 2181/09 - und der Bayerische Verwaltungsgerichtshof im Beschluss vom
29. September 2009 - 19 CS 09.1405 - angeschlossen haben, auch der Schutzzweck,
den der Europäische Gerichtshof mit seiner weiten Auslegung hinsichtlich der Mitnahme
des Freizügigkeitsstatus eines Inländers bei Rückkehr in das Heimatland verfolgt,
gegen die Einbeziehung kurzfristiger Aufenthalte, bei denen durch Inländer von der
Dienstleistungsempfangsfreiheit in anderen Mitgliedstaaten Gebrauch gemacht wurde.
47
Der Europäische Gerichtshof verfolgt mit seiner Rechtsprechung das Ziel,
Beschränkungen der Freizügigkeit entgegenzuwirken, die dadurch entstehen können,
dass ein EU-Bürger von dem Gebrauchmachen der Freizügigkeit abgehalten wird, wenn
die Aussicht besteht, zum Zeitpunkt der Rückkehr in den Herkunftsstaat ein
möglicherweise dort begründetes familiäres Zusammenleben nicht ungehindert
fortsetzen zu können. Eine Einschränkung des Zusammenlebens oder eine
Verschlechterung der Rechtsstellung des Ehegatten bei Rückkehr in den Herkunftsstaat
ist geeignet, den Unionsbürger davon abzuschrecken, sich in den
Aufnahmemitgliedstaat zu begeben, um dort etwa durch Aufnahme einer Beschäftigung
im Lohn- oder Gehaltsverhältnis seiner Freizügigkeit nachzugehen.
48
So hat der Europäische Gerichtshof in der Rechtssache Eind,
49
vgl. EuGH, Urteil vom 11. Dezember 2007 - C-291/05 - [Eind], Slg. 2007, I-10719,
50
ausgeführt, dass ein Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats davon abgeschreckt
werden könnte, den Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, zu verlassen,
51
um im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats eine Beschäftigung im Lohn- oder
Gehaltsverhältnis auszuüben, wenn nach seiner Rückkehr in seinen
Herkunftsmitgliedstaat ein Zusammenleben mit seinen nahen Angehörigen nicht
möglich wäre. Die Hindernisse für die Familienzusammenführung könnten daher das
Recht auf Freizügigkeit beeinträchtigen, sodass die praktische Wirksamkeit des Rechts
auf Freizügigkeit erfordert, die Rückkehr eines Unionsarbeitnehmers in den
Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, nicht als rein inländischen
Sachverhalt zu betrachten.
Die erwähnte abschreckende Wirkung tritt indes nicht in gleicher Weise ein, wenn ein
Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats zu Besuchszwecken und in diesem Rahmen im
Wesentlichen als Empfänger von Dienstleistungen in einen anderen Mitgliedsstaat reist.
Denn der Freizügigkeit im Rahmen der Dienstleistungsempfangsfreiheit ist die
Rückkehr in den Herkunftsstaat nach einem vorübergehenden Aufenthalt immanent. Die
Inanspruchnahme von Dienstleistungen ist mit keinem Daueraufenthalt verbunden,
sondern erfolgt im Rahmen einzelner, grundsätzlich inhaltlich und zeitlich begrenzter
Tätigkeiten im Aufnahmeland. Hier besteht – anders als bei der Arbeitsaufnahme, einer
auf Dauer angelegten Dienstleistungserbringung oder Niederlassung in einem anderen
Mitgliedstaat – nicht in gleicher Weise das Bedürfnis, die Rückkehr in den Heimatstaat
durch Mitnahme der Freizügigkeitsrechtsstellung abzusichern. Der EU-Bürger, der sich
als Besucher (zu touristischen Zwecken), anlässlich einer Geschäftsreise oder ähnlich
kurzfristigen Aufenthalten in einen anderen Mitgliedstaat begibt, kann nicht auf eine
Verbesserung seiner Rechtsstellung bei Rückkehr in sein Heimatland vertrauen. Es
steht daher nicht zu erwarten, dass er davon abgehalten würde, von seiner
Dienstleistungsempfangsfreiheit oder seinen Rechten aus Art. 21 AEU Gebrauch zu
machen.
52
Vgl. VG Darmstadt, Beschluss vom 23. Oktober 2009 - 5 L 557/09.DA (2) -, a. a. O.
53
Der vorliegende Sachverhalt weist keinen ausreichenden unionsrechtlichen Bezug im
vorgenannten Sinn auf, welcher zur Begründung eines unionsrechtlichen
Aufenthaltsrechtes des Klägers geeignet wäre. Auf Grund des Inhalts der
Verwaltungsvorgänge sowie der informatorischen Befragung des Klägers und der
Zeugenvernehmung der Ehefrau des Klägers in der Sitzung vom 22. Juni 2010 steht zu
der Überzeugung der Kammer lediglich fest, dass die Zeugin zum 17. Juli 2007 einen
Wohnsitz in Italien angemeldet hat sowie sich eine Steuernummer (Codice Fiscale) hat
erteilen und ein Ausweisdokument (Carta d’Itentita) hat ausstellen lassen, sie sich vor
und nach der Eheschließung aber nur wiederholt zu Besuchszwecken in Italien
aufgehalten hat.
54
Die Kammer konnte insbesondere nicht feststellen, dass sich die Zeugin, wie vom
Kläger durch seinen Prozessbevollmächtigten im Verwaltungs- und Klageverfahren und
von ihr in ihrer Vernehmung ausgeführt, in Italien zum Zwecke der Arbeitsaufnahme
aufgehalten oder sie, wie von ihr im Rahmen ihrer Vernehmung weiter ausgeführt, in
Italien im Sinne einer Verlagerung des Lebensmittelpunktes einen erheblichen Zeitraum
verweilt hat.
55
Die Bekundungen der Zeugin in ihrer Vernehmung zu der Dauer ihres Aufenthalts in
Italien und dem Ziel der Arbeitsaufnahme sind unglaubhaft. Die Zeugenaussage ist in
wesentlichen Teilen in sich widersprüchlich und widerspricht zugleich den eigenen
Angaben der Zeugin im Rahmen der Befragung durch den Beklagten am
56
7. Februar 2008 im Visumsverfahren sowie den Angaben des Klägers in seiner
informatorischen Befragung. Zudem ist ihre Aussage in keiner Weise mit den sich aus
dem Akteninhalt ergebenden Umständen zur Zeit der Beschäftigung in Deutschland als
Tagesmutter in Einklang zu bringen. Die Aussage steht zu den von dem Kläger im
Verwaltungsverfahren vorgelegten Nachweisen in einem unauflösbaren Widerspruch.
Das Aussageverhalten der Zeugin ist erkennbar von dem Ziel einer den Ausführungen
und Ansätzen des Prozessbevollmächtigten des Klägers in seinen Schriftsätzen vom
25. August und 24. September 2008 zur Arbeitssuche genügenden
Sachverhaltsschilderung geleitet. Im Hinblick auf diese Widersprüche sind auch die
Angaben des Klägers zur Arbeitssuche seiner Ehefrau in seiner informatorischen
Befragung nicht glaubhaft.
So hat die Zeugin im Rahmen der Befragung durch den Beklagen im Visumsverfahren
des Klägers am 7. Februar 2008 erklärt, sie sei dem Kläger Ende 2005 in Italien
wiederbegegnet und sie und der Kläger seien von da an ein Paar gewesen. Sie habe
den Kläger von da an sechs bis sieben mal an Wochenenden oder mehrere Tage in
Italien besucht. Sie und der Kläger hätten während dieser Zeiten im Hotel "J" in Mailand
übernachtet. In der Wohnung des Klägers sei sie nie gewesen. Die Zeugin hat in
diesem Zusammenhang weder erwähnt, dass sie einen Wohnsitz in Italien angemeldet
hatte, noch hat sie angeführt, in Italien nach Arbeit gesucht zu haben. Ebenso wenig war
von einer Freundin B die Rede. Diesen Namen hat die Zeugin nur insoweit erwähnt, als
sie erklärte, Trauzeugen seien der Bekannte des Klägers P und dessen Ehefrau B
gewesen. Zum Aufenthalt zur Eheschließung hat sie erklärt, einen Tag vor der
Eheschließung nach Italien eingereist und am Tag nach der Eheschließung wieder
abgereist zu sein.
57
Zu Beschäftigungs- und Einkommensverhältnissen gab sie an, in der Zeit zwischen
Dezember 2006 und November 2007 durch die Familie T / E1 in N als Tagesmutter in
Teilzeit beschäftigt gewesen zu sein. Vom 15. November 2007 bis 15. Januar 2008
habe sie diese Tätigkeit in Vollzeit ausgeübt. Dann sei das Beschäftigungsverhältnis
jedoch von der Familie T / E1 gekündigt worden und sie ohne Arbeit gewesen. Diese
Angaben sehen sich durch die von dem Kläger im Visumsverfahren vorgelegten
Gehaltsabrechnungen und den Arbeitsvertrag vom 15. November 2007 bestätigt.
58
Ohne dass es darauf ankäme, werden die Angaben der Zeugin im Wesensgehalt in den
aufgeführten Punkten durch die Angaben des Klägers im Rahmen seiner Befragung im
Visumsverfahren durch das Generalkonsulat der Bundesrepublik Deutschland in
Mailand am 7. Februar 2008 gedeckt. So hat der Kläger erklärt, seine Ehefrau komme
ein bis zwei mal im Monat in Mailand vorbei und sie wohnten dann meistens im Hotel.
Zur Erwerbstätigkeit seiner Ehefrau hat er erklärt, sie arbeite als Tagesmutter in N. Die
Arbeitszeiten seien von 8:00 bis 17:00 Uhr und seine Ehefrau verdiene 400,00 Euro. Die
Angaben zum Verdienst sehen sich in den Gehaltsabrechnungen aus der Zeit der
Teilzeitbeschäftigung gedeckt und die Angaben zur Arbeitszeit erklären sich durch die
unmittelbar vor der Befragung abgeschlossene Zeit der Vollzeitbeschäftigung. Zum
Aufenthalt seiner Ehefrau zur Eheschließung hat er erklärt, er glaube, sie sei eine
Woche vor der Eheschließung nach Italien eingereist und direkt nach der
Eheschließung wieder abgereist.
59
Von einer Arbeitssuche der Zeugin in Italien war zugleich im Schriftsatz des
Prozessbevollmächtigten des Klägers vom 13. Mai 2008 noch keine Rede. Zur
Begründung des dem Sinn nach auf die Ausstellung einer Aufenthaltskarte gerichteten
60
Begehrens wurde nur ausgeführt, die Ehefrau des Klägers habe sich in Italien
aufgehalten und das Freizügigkeitsrecht nach Art. 49 EGV ausgeübt. Vorgelegt wurden
Kopien der am 1. Oktober 2007 ausgestellten Carta d’Itentita und der Codice Fiscale
sowie nachgehend ergänzend eine Kopie der Meldebescheinigung der Ehefrau des
Klägers.
Erstmals in dem Schriftsatz seines Prozessbevollmächtigten vom 25. August 2008
erklärte der Kläger, seine Ehefrau habe in Italien nach Arbeit gesucht. Im Einzelnen wird
ausgeführt, die Ehefrau des Klägers habe sich im vorigen Jahr nach Italien begeben und
einen Wohnsitz angemeldet. Von den Behörden in Italien habe sie eine Carta d’Itentita
und eine Steuernummer erhalten. Sie habe sich in Italien auf Arbeitssuche begeben.
Nachweise der Arbeitssuche und von Praktika seien angefordert und würden
nachgereicht.
61
Solche Nachweise sind nachgehend jedoch nicht vorgelegt worden, obwohl in der
Klageschrift an der Darstellung festgehalten und diese noch hervorgehoben wird. So
heißt es im Klageschriftsatz vom 24. September 2008, die Ehefrau des Klägers habe
sich in Italien zur Arbeitssuche aufgehalten und sei im Besitz der zum Aufenthalt und zur
Arbeitssuche erforderlichen Genehmigungen. Bezug genommen wird insoweit erneut
auf die Carta d’Itentita und Codice Fiscale. Während der Zeit des Aufenthalts in Italien
habe sie den Kläger lieben gelernt und der Kläger und seine Ehefrau hätten den
Entschluss zur Eheschließung gefasst. Zu einer Arbeitsaufnahme der Ehefrau des
Klägers in Italien sei es nicht gekommen, weil der Kläger ein gutes Arbeitsangebot in
Deutschland erhalten habe. Er hätte eine Anstellung in der IT-Branche zum
1. September 2008 antreten können. Vorgelegt wird zum Nachweis ein Schreiben der
E2 GmbH aus E vom 25. August 2008. Die Eheleute seien wegen des Arbeitsangebots
nach Deutschland gereist.
62
Ein Arbeitsangebot hatten zuvor weder der Kläger noch seine Ehefrau erwähnt.
Vielmehr hatten sie im Rahmen der Befragungen im Visumsverfahren auf die Frage,
was den Kläger nach der Einreise in das Bundesgebiet erwarte und welche beruflichen
Pläne bestünden, keine spezifischen Angaben gemacht. Zudem ist der Kläger im
Rahmen seiner Befragung in der Sitzung vom 22. Juni 2010 auf Vorhalt von dieser
Behauptung abgerückt und gab nun an, zum Zeitpunkt der Einreise noch kein
Jobangebot gehabt zu haben.
63
Im Rahmen der Zeugenvernehmung in der Sitzung am 22. Juni 2010 hat die Zeugin
dann – noch weitergehend als in den Schriftsätzen vom 25. August und
24. September 2008 dargelegt – ausgesagt, im Juni / Juli 2006 zum Zweck der
Arbeitssuche nach Italien gegangen und von da an im Wesentlichen in Italien gewesen
zu sein, nachdem das Beschäftigungsverhältnis als Tagesmutter durch die Familie
T / E1 aufgekündigt worden sei. Im Einzelnen hat sie auf Nachfrage zu ihrem
Arbeitsverhältnis als Tagesmutter erklärt, von 2003 an bei der Familie T / E1 auf
400,00 Euro Basis gearbeitet zu haben. Sie sei jeden Tag in den Haushalt gegangen
und habe zwei bis drei Stunden die Kinder betreut. Das sei ungefähr ein bis eineinhalb
Jahre so gegangen. Direkt danach habe sie dann ungefähr einen Monat voll gearbeitet.
Dann sei das Arbeitsverhältnis beendet worden und sie sei ein paar Monate Zuhause
gewesen, bevor ihr ihre in Italien lebende Freundin B vorgeschlagen habe, nach Italien
zu kommen und dort eine Arbeit zu suchen. Sie sei dann im Juni / Juli 2006 nach Italien
gereist, wo sie bei ihrer Freundin B gewohnt und sich auf verschiedene Stellen
beworben habe. In einem Restaurant, in welchem B beschäftigt (gewesen) sei, habe sie
64
zwei bis drei Tage auf Probe gearbeitet.
Diese Aussage steht in einem unauflösbaren Widerspruch zu den Erklärungen der
Zeugin vom 7. Februar 2008 und den im Rahmen des Visumsverfahrens vorlegten
Kopien des Arbeitsvertrags vom 15. November 2007 sowie der Gehaltsabrechnungen
von April, Juni und August 2007. Diese Diskrepanz lässt sich in keiner Weise mit
Schwierigkeiten in Hinsicht auf Datums- und Zeitangaben erklären, da schon die
Geschehensabläufe und Geschehensabfolgen in sich in keiner Weise in Einklang zu
bringen sind. Auf Vorhalt der Erklärungen vom 7. Februar 2008 und der vorbezeichneten
Nachweise hat die Zeugin an der Aussage festgehalten, dass sie zuletzt im Dezember
2005 als Tagesmutter durch die Familie T / E1 beschäftigt gewesen sei. Auf die
nachgehenden Vorhalte hat sie dann keine Erklärungen mehr abgegeben, ohne jedoch
von ihren früheren Behauptungen abzurücken. Soweit die Zeugin in der Sitzung vom
22. Juni 2010 erklärt hat, die ARGE vor der Ausreise nach Italien von dem Ziel der
Arbeitssuche in Italien in Kenntnis gesetzt zu haben und dem Sinn nach weiter erklärt
hat, von der ARGE eine Erlaubnis zur Arbeitssuche in Italien eingeholt zu haben, steht
diese Erklärung im Widerspruch zu der von dem Beklagten am 5. August 2008 von der
ARGE L1 eingeholten und als Vermerk in den – von dem Prozessbevollmächtigten des
Klägers im Verfahren 27 L 1559/08 eingesehenen – Verwaltungsvorgängen des
Beklagten festgehaltenen Auskunft. Danach hat die Zeugin zu keinem Zeitpunkt von der
Arbeitsagentur die Erlaubnis eingeholt, L1 oder die Bundesrepublik Deutschland
verlassen zu dürfen. Darüber hinaus bleiben sowohl die Angaben der Zeugin als auch
des Klägers zu der Arbeitssuche und auch zum Probearbeitsverhältnis der Zeugin
durchgehend vage, ungenau und ausweichend. In gleicher Weise stehen die Aussagen,
im Juni / Juli 2006 nach Italien gegangen zu sein und zeitnah nach der Einreise in
Italien einen Wohnsitz angemeldet zu haben, in einem unauflösbaren Widerspruch zu
den vorgelegten Unterlagen. Denn ausweislich der im Verwaltungsverfahren
vorgelegten Meldebescheinigung der Gemeinde D vom 21. August 2008 hat die Zeugin
zum 17. Juli 2008 einen Wohnsitz angemeldet. Zudem ist in ihrer Zeugenaussage
erstmals von der (eine zentrale Rolle zukommenden) Freundin B die Rede, bei der sie
dann gewohnt haben will und die ihr das Probearbeitsverhältnis vermittelt haben soll. In
der Befragung durch den Beklagten am 7. Februar 2008 hatte sie den Namen – wie
ausgeführt – nur insoweit erwähnt, als sie erklärte, Trauzeugen seien der Bekannte des
Klägers P und dessen Ehefrau B gewesen.
65
Ebenso widersprüchlich sind die Angaben zu den Zeiträumen, zu welchen sich die
Klägerin ununterbrochen in Italien aufgehalten haben will. Die Aussagen im Rahmen
der Zeugenvernehmung variieren zwischen drei Monaten und einem halben Jahr. So
hat die Zeugin im Einzelnen auf die Frage, wie lange sie sich an einem Stück in Italien
aufgehalten habe, zunächst erklärt, dass sie immer hin- und her gependelt sei, an einem
Stück aber sicher ungefähr drei Monate in Italien gewesen zu sein. Auf Nachfrage
erklärte die Zeugin jedoch, sicherlich über ein Jahr hin- und her gependelt zu sein und
sich ein halbes Jahr am Stück in Italien aufgehalten zu haben. Die Nachfrage, ob das so
zu verstehen sei, dass sie ein halbes Jahr in Italien gewesen, dann nach Deutschland
und wieder zurück nach Italien gereist sei, hat die Zeugin bejaht. Hingegen hatte die
Zeugin im Rahmen des Visumsverfahrens gegenüber dem Beklagten angegeben,
sechs bis sieben mal an Wochenenden oder gelegentlich mehrere Tage in Italien
gewesen zu sein, nachdem sie dem Kläger Ende 2005 wiederbegegnet sei. Diese
Diskrepanzen sind durch die von der Zeugin eingewandten "Gedächtnis- und
Zahlenprobleme" nicht erklärbar, geht es doch um völlig verschiedene Zeiträume,
welche völlig verschiedene Vorkehrungen in der Planung und Gestaltung des
66
Aufenthalts erfordern. Es erscheint ausgeschlossen, dass sich die Zeugin während der
Dauer der Beschäftigung als Tagesmutter in größerem Umfang in Italien aufgehalten
hat, wenn sie zugleich aussagt, sich auch während der Beschäftigung als sogenannte
Minijobberin jeden Tag um die Kinder der Familie T / E1 gekümmert zu haben. Insoweit
verbleiben als mögliche Zeiten des Aufenthalts in Italien die Wochenenden und
Urlaubszeiten, was in Einklang mit den Erklärungen der Zeugin gegenüber dem
Beklagten im Visumsverfahren steht. Auf den Vorhalt in der Zeugenvernehmung,
gegenüber der Ausländerbehörde angegeben zu haben, sechs bis sieben mal an
Wochenenden oder gelegentlich mehrere Tage in Italien gewesen zu sein, hat die
Zeugin erklärt, hierzu nichts sagen zu wollen.
Im Widerspruch zu den Aussagen im Visumsverfahren und zu dem vorgelegten
Arbeitsvertrag steht weiter die Aussage in der Sitzung vom 22. Februar 2010, nach der
Eheschließung drei Monate durchgehend in Italien gewesen zu sein. Die Ehe wurde am
16. Oktober 2007 geschlossen und der Arbeitsvertrag wurde von der Zeugin und der
Familie T / E1 am 15. November 2007 unterzeichnet. Auch der Kläger hat überdies in
seiner informatorischen Befragung in der Sitzung vom 22. Juni 2010 angegeben, seine
Ehefrau sei ein paar Tage nach der Eheschließung nach Deutschland zurückgereist,
weil sie schließlich Verpflichtungen in Deutschland gehabt habe.
67
Die Aussagen der Zeugin zur Aufenthaltsdauer in Italien widersprechen auch den
Erklärungen des Klägers im Rahmen seiner Befragung in der Sitzung vom
22. Juni 2010. So hat der Kläger erklärt, dass er glaube, dass seine Ehefrau im Juli 2007
ein paar Wochen in Italien gewesen sei. Auf die Nachfrage, was ein paar Wochen seien,
hat der Kläger sodann erklärt, eine, zwei oder drei Wochen. Auf den Vorhalt, dass seine
Ehefrau bei der Anhörung im Visumsverfahren gegenüber der Ausländerbehörde
angegeben habe, in der Zeit sechs bis sieben mal in Italien gewesen zu sein, mal nur
am Wochenende und mal mehrere Tage, erwiderte er, genau dass auch gesagt zu
haben.
68
Die Widersprüche in dem Aussageverhalten der Zeugin machen sich zudem an
weiteren Erklärungen fest. So hat die Zeugin in der Sitzung vom 22. September 2010
erklärt, mit dem Kläger in der Wohnung seines Cousins geschlafen zu haben. In der
Befragung durch den Beklagten am 7. Februar 2008 hatte sie demgegenüber erklärt,
immer im Hotel J in Mailand übernachtet zu haben und nie in der Wohnung gewesen zu
sein. Auf den diesbezüglichen Vorhalt in der Zeugenvernehmung hat sie erklärt, dazu
nicht sagen zu wollen. Der Kläger wiederum hatte hierzu in seiner informatorischen
Befragung zunächst angegeben, seine Ehefrau habe ihn in der Wohnung besucht und
dort auch übernachtet. Auf den Vorhalt, seine Ehefrau habe bei der Anhörung im
Visumsverfahren angegeben, während der Aufenthalte in Italien im Hotel gewohnt zu
habe, erklärte der Kläger, dies auch manchmal getan zu haben, wenn sein Cousin da
gewesen sei. Auf den weiteren Vorhalt, dass seine Ehefrau in der Anhörung angegeben
habe, nicht in seiner Wohnung gewesen zu sein und immer im Hotel geschlafen zu
haben, erklärte der Kläger, dazu nichts sagen zu können. Er sei sprachlos.
69
Zwar hat die Zeugin ausgehend von dem festgestellten Sachverhalt durch die
wiederholten Besuche in Italien von dem Recht auf Freizügigkeit aus Art. 21 AEU und
der Dienstleistungsempfangsfreiheit,
70
vgl. EuGH, Urteil vom 31. Januar 1984 - C-286/82 und C-26/83 - (Luisi und Carbone),
Slg. 1984, 377; Kluth, in: Calliess / Ruffert, EUV / EGV, 3. Auflage (2007), Art. 49 und 50
71
EGV Rdnr. 27 und 28, m. w. N.,
des Art. 56 AEU Gebrauch gemacht. Nach den genannten wertenden Maßstäben weist
das von ihr gezeigte Gebrauchmachen von den Unionsbürgerrechten indes nicht eine
solche Qualität auf, die die Anwendbarkeit des Unionsrechts zu Gunsten des Klägers
rechtfertigt.
72
Die Aufenthalte der Zeugin in Italien reichen nicht über Besuchsaufenthalte hinaus. Ihr
Lebensmittelpunkt war seinerzeit weiterhin L1, wo sie durchgängig Arbeitslosengeld II
bezog und der Tätigkeit als Tagesmutter nachging. Sie hat sich zu keiner Zeit in Italien
niedergelassen. Zwar hat sie dort einen Wohnsitz angemeldet, dort aber nach dem
Ergebnis der Beweisaufnahme über die genannten Besuchsaufenthalte hinaus im
Sinne eines verfestigten Aufenthalts nicht tatsächlich gelebt. Allein die formale
Anmeldung eines Wohnsitzes, ohne dass diese Anmeldung den tatsächlichen
Lebensverhältnissen entspricht, rechtfertigt die Anwendung des Unionsrechts nicht. In
gleicher Weise ergibt sich keine Verfestigung des Aufenthalts in Italien aus dem
Umstand der Ausstellung des Ausweisdokuments und der Steuernummer. Die Erteilung
einer Steuernummer (Codice Fiscale) und Ausstellung des Ausweisdokuments (Carta
d’Itentita) setzt nach Auskunft des Generalkonsulats der Bundesrepublik Deutschland in
Mailand vom 6. Mai 2010 im Kern ausschließlich die Anmeldung eines Wohnsitzes
voraus. Es wird kein Mindestaufenthalt in Italien vorausgesetzt.
73
Schließlich kann – im Sinne eines Korrektivs – unter den gegeben Umständen auch
nicht festgestellt werden, dass die Ehefrau des Klägers oder eine Deutsche in
vergleichbarer Situation ohne Anwendung des Unionsrechts gehindert würde, in Zukunft
von ihrem Freizügigkeitsrecht oder ihren Grundfreiheiten Gebrauch zu machen.
74
2. Der zulässige Hilfsantrag ist in gleicher Weise wie der Hauptantrag unbegründet. Der
Kläger hat keinen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis aus familiären
Gründen.
75
Der Kläger hat keinen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 28
Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG.
76
Nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG ist dem ausländischen Ehegatten eines
Deutschen die Aufenthaltserlaubnis zu erteilen, wenn der Deutsche seinen
gewöhnlichen Aufenthalt im Bundesgebiet hat und sich der ausländische Ehegatte
zumindest auf einfache Art in deutscher Sprache verständigen kann (§ 28 Abs. 1 Satz 5
i. V. m. § 30 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG). Hier fehlt es an der Erfüllung der
Erteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AufenthG. Nach dieser Vorschrift
setzt die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis voraus, dass der Ausländer mit dem
erforderlichen Visum eingereist ist. Der Kläger ist jedoch ohne Visum in die
Bundesrepublik Deutschland eingereist.
77
Die Regelung des § 5 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AufenthG wird vorliegend nicht durch den auf
der Grundlage der Verordnungsermächtigung des § 99 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG
erlassenen § 39 Aufenthaltsverordnung (AufenthV) verdrängt. Zwar gehen die §§ 39 - 42
AufenthV dem § 5 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AufenthG vor.
78
Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 21. Dezember 2007 - 18 B 1535/07 -, InfAuslR 2008,
129; OVG BB, Urteil vom 16. Juli 2009 - 2 B 19.08 -, a. a. O.
79
Jedoch erfüllt der Kläger offenkundig keinen der Ausnahmetatbestände des § 39
AufenthV.
80
Der Kläger hat auch keinen Anspruch darauf, dass nach § 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG
ausnahmsweise von der Einhaltung der Visumspflicht des § 5 Abs. 2 Satz 1 AufenthG
abgesehen wird. Nach § 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG kann von den
Erteilungsvoraussetzungen des § 5 Abs. 2 Satz 1 AufenthG abgesehen werden, wenn
die Voraussetzungen eines Anspruchs auf Erteilung erfüllt sind oder es auf Grund
besonderer Umstände des Einzelfalls nicht zumutbar ist, das Visumsverfahren
nachzuholen.
81
Es sind keine Gesichtspunkte ersichtlich, welche die Nachholung des Visumsverfahrens
als unzumutbar erscheinen ließen (§ 5 Abs. 2 Satz 2 Alt. 2 AufenthG). Eine
Unzumutbarkeit ergibt sich aufgrund der kurzen Dauer des Aufenthalts des Klägers in
der Bundesrepublik und der Ehe im Besonderen weder aus Art. 6 GG noch aus Art. 8
EMRK.
82
Im Übrigen (§ 5 Abs. 2 Satz 2 Alt. 1 AufenthG) hat der Beklagte das ihm durch § 5 Abs. 2
Satz 2 AufenthG eingeräumte Ermessen ausweislich der Begründung der
Ordnungsverfügung vom 8. September 2008 erkannt und von diesem durch die
Ablehnung der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis ohne Einhaltung der Visumspflicht
fehlerfrei Gebrauch gemacht (§ 114 Satz 1 VwGO).
83
Im Rahmen ihrer Entscheidung nach § 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG hat die
Ausländerbehörde bezüglich beider dort aufgeführten Sonderfälle im Wege des
Ermessens zu beurteilen, ob eine Ausnahme von der Einhaltung der Visumsregeln
vertretbar und angemessen ist. Dabei ist zunächst zu berücksichtigen, dass die
Regelung als Ausnahmebestimmung prinzipiell eng auszulegen ist. Die Durchführung
des Visumsverfahrens soll nach der amtlichen Begründung des § 5 Abs. 2 AufenthG
sowohl bei Vorliegen eines Anspruchs auf Erteilung eines Aufenthaltstitels als auch in
allen anderen Fällen die Regel bleiben. Auf diese Weise wird einerseits sichergestellt,
dass die Steuerungsmechanismen des Aufenthaltsgesetzes nicht lahmgelegt und die
dort vorgesehenen Zugangskontrollen hinsichtlich eines Aufenthalts in der
Bundesrepublik nicht unterlaufen werden. Andererseits wird durch die Regelung
deutlich, dass die Einhaltung der Visumsregeln kein Selbstzweck sein soll. Erforderlich
ist demnach eine Güterabwägung unter Beachtung des Grundsatzes der
Verhältnismäßigkeit, bei der zu berücksichtigen ist, dass die Einhaltung des
Visumsverfahrens der Regelfall bleiben soll und dass allein die Verpflichtung, zur
Herstellung einer ehelichen Lebensgemeinschaft in Deutschland vor der Einreise ein
Visum einzuholen, nicht Art. 6 Abs. 1 GG verletzt. Dies erfordert, die legitimen Interessen
des Ausländers (z. B. wirtschaftliche Interessen, Familieneinheit) gegen das öffentliche
Interesse an der Einhaltung des Visumsverfahrens abzuwägen. Dabei ist zu beachten,
dass die Nachholung des Visumverfahrens stets mit allgemein bekannten und deshalb
auch vom Gesetzgeber in den Regelungen des AufenthG berücksichtigten
Unannehmlichkeiten verbunden ist. Vor allem aber gilt es, dem Eindruck bei anderen
Ausländern entgegenzuwirken, man könne durch eine Einreise stets vollendete
Tatsachen schaffen. Die Grenze liegt dort, wo das Beharren auf die Einhaltung des
Visumsverfahrens objektiv als unangemessen empfunden werden müsste.
84
Vgl. OVG NRW, 5. Oktober 2006 - 18 B 1767/06 -, InfAuslR 2007, 56.
85
Gemessen daran ist die Ermessensentscheidung des Beklagten nicht zu beanstanden.
Der Beklagte hat unter Hinweis auf die vorgenannten Wertungsmaßstäbe davon
abgesehen, eine Ausnahme von der Einhaltung der Visumsregeln zu machen. Die
durch Art. 6 GG und Art. 8 EMRK gesetzten Grenzen sind – wie ausgeführt – gewahrt.
86
Da es schon an der Erfüllung der Erteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1
AufenthG mangelt, kann offen gelassen werden, ob der Kläger auf Grund von Verstößen
gegen die Strafvorschriften des § 95 Abs. 1 Nr. 2 und 3 AufenthG den
Ausweisungstatbestand des § 55 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG verwirklicht hat und es aus
diesem Grund zudem an der Erteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG
mangelt.
87
3. An der Rechtmäßigkeit der in § 59 AufenthG die erforderliche Rechtsgrundlage
findenden Abschiebungsandrohung ergeben sich keine Zweifel. Der Kläger ist nach
§ 50 Abs. 1 AufenthG ausreisepflichtig, weil er keinen Aufenthaltstitel besitzt. Es bedarf
weder der Vollziehbarkeit der Ausreisepflicht,
88
vgl. OVG NRW, Beschluss vom 20. Februar 2009 - 18 A 2620/08 -, NRWE,
89
noch wird die Rechtmäßigkeit der Abschiebungsandrohung durch Duldungsgründe
nach § 60 a AufenthG,
90
vgl. OVG NRW, Beschluss vom 6. Januar 2005 - 18 B 2801/04 -, NRWE,
91
oder das Vorliegen von Abschiebeverboten nach § 60 AufenthG – für welches nichts
ersichtlich ist – berührt (§ 59 Abs. 3 Satz 1 AufenthG). Im Übrigen genügt die
Abschiebungsandrohung den Anforderungen des § 59 Abs. 1 und 2 AufenthG. Offen
gelassen werden kann, ob die dem Kläger zunächst gesetzte Ausreisefrist von zwei
Wochen ausreichend war. Ein möglicher Mangel der Ausreisefrist wäre durch die in der
Sitzung vom 22. Juni 2010 von dem Beklagten verfügte Verlängerung der Ausreisefrist
auf einen Monat behoben. Der Beklagte ist dazu befugt, die zunächst gesetzte
Ausreisefrist nachträglich und rückbezogen auf den Zeitpunkt der Zustellung der
Ordnungsverfügung vom 8. September 2008 zu verlängern (und dadurch den
möglicherweise gegebenen rechtlichen Erfordernissen anzupassen).
92
Vgl. Hessischer VGH, Beschluss vom 2. Dezember 1993 - 13 TH 1595/93 -,
InfAuslR 1994, 223.
93
Eine solche nachträgliche und rückwirkende Veränderung der Ausreisefrist wäre nur
dann ausgeschlossen, wenn Abschiebungsandrohung und Ausreisefrist in solch
untrennbarer Weise verbunden wären, dass mit jeglicher Veränderung der Ausreisefrist
zugleich auch die Abschiebungsandrohung gegenstandslos würde und deshalb erneut
erlassen werden müsste. Eine solche Verknüpfung zwischen Ausreisefrist und
Abschiebungsandrohung gibt es indessen nicht.
94
Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 20. Februar 2009 - 18 A 2620/08 -, NRWE; Hessischer
VGH, Beschluss vom 2. Dezember 1993 - 13 TH 1595/93 -, a. a. O.
95
Eine Verlängerung der Ausreisefrist – wie sie vorliegend von dem Beklagten
vorgenommen worden ist – bleibt ohne Einfluss auf den Bestand der
96
Abschiebungsandrohung. Durch diese Verlängerung der Ausreisefrist wird der Kläger
lediglich so gestellt, wie er möglicherweise von vornherein zum Zeitpunkt des Erlasses
der Ordnungsverfügung vom 8. September 2008 gestanden hätte. Auf Einräumung einer
günstigeren Rechtsposition hat er keinen Anspruch.
Vgl. Hessische VGH, Beschluss vom 2. Dezember 1993 - 13 TH 1595/93 -, a. a. O.
97
II. Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO.
98
III. Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit folgt aus § 708 Nr. 11, 711 ZPO.
99
IV. Die Berufung war nach § 124 a Abs. 1 Satz 1, 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO zuzulassen.
Die Rechtssache hat in Hinsicht auf die Klärung der Voraussetzungen eines sich aus
dem Unionsrecht ergebenden Aufenthaltsrechts grundsätzliche Bedeutung.
100