Urteil des VG Düsseldorf vom 09.04.2008

VG Düsseldorf: armenien, gefahr, bundesamt für migration, verschlechterung des gesundheitszustandes, auskunft, medikamentöse behandlung, botschaft, ausländer, handelsname, abschiebung

Verwaltungsgericht Düsseldorf, 5 K 3125/07.A
Datum:
09.04.2008
Gericht:
Verwaltungsgericht Düsseldorf
Spruchkörper:
5. Kammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
5 K 3125/07.A
Tenor:
Die Beklagte wird unter entsprechender teilweiser Aufhebung des
Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 2. Juli
2007 verpflichtet festzustellen, dass ein Abschiebungsverbot nach § 60
Abs. 7 Satz 1 AufenthG in Bezug auf Armenien vorliegt.
Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens, für das Gerichtskosten
nicht erhoben werden.
Tatbestand:
1
Der Kläger stammt aus Armenien; er leidet an einer dialysepflichtigen
Niereninsuffizienz. Seinen ersten Asylantrag, den er mit der fehlenden
Behandlungsmöglichkeit dieser Erkrankung in Armenien begründete, lehnte das
Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) mit Bescheid vom 10. Juni 2005
ab. Die dagegen erhobene Klage blieb erfolglos (Urteil des VG Düsseldorf vom 29. Mai
2006 - 5 K 2882/05.A -).
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Am 6. Juni 2007 stellte der Kläger einen Folgeantrag, den er wiederum mit seiner
Erkrankung begründete. Mit Bescheid vom 2. Juli 2007, am 3. Juli 2007 als
Einschreiben zur Post gegeben, lehnte das Bundesamt die Durchführung eines
weiteren Asylverfahrens und die Änderung der in dem Bescheid vom 10. Juni 2005
getroffenen, für den Kläger negativen Feststellungen zu § 53 Abs. 1 - 6 Ausländergesetz
ab.
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Am 17. Juli 2007 hat der Kläger Klage erhoben.
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Der Kläger beantragt,
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die Beklagte unter entsprechender Aufhebung des Bescheides des Bundesamtes für
Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) vom 2. Juli 2007 zu verpflichten festzustellen,
dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 7 AufenthG bzgl. Armeniens vorliegen.
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Die Beklagte beantragt schriftsätzlich,
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die Klage abzuweisen.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird ergänzend auf den
Inhalt der Gerichtsakten und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten
und der Ausländerbehörde sowie auf die der Kammer vorliegenden Auskünfte und
Erkenntnisse, auf die der Kläger hingewiesen worden ist, und die im Verfahren
eingeholten Auskünfte der Deutschen Botschaft in Eriwan, der Amtsärztin bei dem
Gesundheitsamt der Stadt S und der Fa. G Bezug genommen.
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Entscheidungsgründe:
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Die zulässige Klage ist begründet.
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Der angefochtene Bescheid des Bundesamtes ist rechtswidrig und verletzt den Kläger
in seinen Rechten, § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO, denn im Hinblick auf seine
dialysepflichtigen Niereninsuffizienz liegt ein zielstaatsbezogenes Abschiebungsverbot
im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG bezogen auf Armenien vor.
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Nach der Vorschrift des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von einer Abschiebung eines
Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer
eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Eine solche
Gefahr kann sich auch aus dem Gesundheitszustand eines Betroffenen ergeben. Dabei
gilt für die Beurteilung der Voraussetzungen dieser Vorschrift der gleiche
Prognosemaßstab, den die Rechtsprechung bei der Beurteilung der Gefahr einer
politischen Verfolgung aufgestellt hat,
13
vgl. BVerwG, Beschl. v. 28. März 2001 - 1 B 83.01; BVerwG, Beschl. v. 18. Juli 2001 - 1
B 71.01; BVerwG, Urt. v. 17. Oktober 1995 - 9 C 9.95, jew. m.w.N.
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Erforderlich ist daher, dass die Prognose eine beachtliche Wahrscheinlichkeit für das
Eintreten der dort genannten Gefahr ergibt. Deren bloße Möglichkeit reicht nicht aus. Die
für die Rechtsgutgefährdung sprechenden Gründe müssen dabei ein größeres Gewicht
besitzen als die dagegen sprechenden Tatsachen, so dass der Schadenseintritt nicht
nur in gleicher Weise wahrscheinlich wie unwahrscheinlich ist,
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vgl. BVerwG, Urt. v. 23. Februar 1988 - 9 C 32.87, BVerwGE 79, 143, 150f.; BVerwG,
Urt. v. 05. November 1991 - 9 C 118.90, BVerwGE 89, 162, 169f.
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Die Rechtsgutgefährdung im Sinne dieser Vorschrift muss dabei "erheblich" sein, d.h.
es muss eine Gefährdung von besonderer Intensität zu erwarten sein. Das ist
insbesondere dann der Fall, wenn sich der Gesundheitszustand des betroffenen
Ausländers bei einer Abschiebung in den Zielstaat wesentlich oder sogar
lebensbedrohlich verschlechtern würde. "Konkret" ist die Gefahr, wenn diese
Verschlechterung alsbald nach der Rückkehr in das Heimatland / den Zielstaat einträte,
da dort nur unzureichende Möglichkeiten zur Behandlung des Leidens bestünden und
der Betroffene anderweitige wirksame Hilfe nicht in Anspruch nehmen könnte,
17
vgl. BVerwG Urt. v. 25. November 1997 - 9 C 58.96, BVerwGE 105, 383; BVerwG Urt. v.
27. April 1998 - 9 C 13.97, NVwZ 1998, 973.
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Diese Voraussetzungen sind vorliegend erfüllt.
19
Der Kläger ist aufgrund seiner terminalen Niereninsuffizienz auf die lebenserhaltende
Dialysebehandlung einschließlich der erforderlichen begleitenden Medikamentierung
sofort nach Rückkehr nach Armenien angewiesen. Ohne eine Behandlungsmöglichkeit
dort würde sich sein Gesundheitszustand alsbald erheblich und konkret verschlechtern.
In Armenien kann er die erforderliche medikamentöse Behandlung nicht erlangen.
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Zwar sind die gerätetechnischen Behandlungsmöglichkeiten ausreichend gewährleistet.
Nach der im Verfahren eingeholten Auskunft der Deutschen Botschaft in Eriwan vom 14.
Dezember 2007 werden in Armenien alle armenischen Staatsangehörigen, die an
dialysepflichtiger, chronischer Niereninsuffizienz im terminalen Stadium leiden, im
Rahmen des staatlichen Gesundheitsauftrages unentgeltlich behandelt; sofern der
Botschaft die Rückkehr des Betroffenen ca. zwei Wochen im Voraus angezeigt wird,
kann auch ein Behandlungsplatz ab Einreise sichergestellt werden. Hat der Patient in
Armenien ein Anrecht auf unentgeltliche Behandlung, dann wird er sie - entgegen den
Behauptungen des Klägers - auch erhalten; sollte sie ihm verweigert werden, kann er
sich entweder an das Gesundheitsministerium wenden oder den Rechtsweg wählen,
auf dem mit einer Entscheidung innerhalb von zwei Monaten gerechnet werden kann.
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Vgl. Auskünfte des Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Eriwan an das VG
Schleswig vom 16. August 2007 (RK-10-516.80/1788) und an das VG Düsseldorf vom
14. Dezember 2007 (RK-10-516.80/1943) .
22
Der Behandelbarkeit steht nicht entgegen, dass nach der Auskunft der Deutschen
Botschaft in Eriwan vom 14. Dezember 2007 die in Armenien bei der Dialyse
eingesetzten Filter nach Sterilisation 4 - 5 Mal benutzt werden, obwohl gesetzlich
vorgeschrieben ist, dass Patienten mit Infektionserkrankungen wie HIV oder Hepatitis B
und C an separaten Geräten dialysiert werden. Es stehen nicht in ausreichendem
Umfang Dialysegeräte zur Verfügung, so dass die gesetzliche Vorgabe nicht immer
eingehalten werden kann. Jedoch werden nach der auf vertrauensärztlicher Information
beruhenden Auskunft die Hygienevorschriften in Bezug auf die Sterilisierung der Geräte
etc. ausnahmslos eingehalten.
23
Trotz dieser Praxis des Mehrfacheinsatzes von Filtern ist es dem Kläger zuzumuten, die
Dialysemöglichkeiten in Armenien zu nutzen. Denn ausweislich der vom Gericht bei
dem führenden - auch Dialysekliniken in Armenien ausstattenden - Hersteller von
Dialysegeräten eingeholten Auskunft vom 11. Februar 2008 reicht eine fachgerechte
Sterilisierung der Geräte und Filter aus, um nicht infizierte Patienten vor Infektionen mit
HIV- oder Hepatitiserregern zu schützen.
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Für den Kläger sind aber die für eine ausreichende Behandlung seiner
dialysepflichtigen Niereninsuffizienz erforderlichen Medikamente nicht zu erlangen, weil
er deren Beschaffung nicht finanzieren kann. Ein zielstaatsbezogenes
erkrankungsbedingtes Abschiebungsverbot im Sinne des § 60 Abs. 7 AufenthG kann
sich trotz an sich verfügbarer medikamentöser Behandlungsmöglichkeiten auch
deswegen ergeben, weil dem betroffenen Ausländer die medizinische Versorgung aus
finanziellen Gründen nicht zugänglich ist.
25
Vgl. BVerwG, Urteil vom 29. Oktober 2002 - 1 C 1/02 - (veröffentlicht in juris, dort Rdnr.
9).
26
So liegt der Fall hier.
27
Ausweislich der vom Gericht in vorliegendem Verfahren eingeholten Auskunft der
Amtsärztin des Gesundheitsamtes der Stadt S vom 5. Oktober 2007 sind die dort unter
Ziffer 1. genannten Medikamente zur Behandlung des Klägers zwingend erforderlich. Es
handelt sich dabei um
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- blutdrucksenkende Mittel, die der durch die Niereninsuffizienz eingeschränkten
Blutdruckregulationsfähigkeit entgegenwirken (Wirkstoff/Handelsnamen: Minoxidil,
Bisoprolol, Amlodipin und Verapamil),
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- ein Erythropoetin-Präparat [Wirkstoff: Epoetin beta (Handelsname: Neorecormon)],
30
- Vitaminpräparate [Wirkstoff: Vitamin B-Komplex plus Vitamin C (Handelsname:
Dreisavit)] ,
31
- ein Eisenpräparat [Wirkstoff: Eisen III (Handelsname: Ferrlecit)],
32
- ein Calciumpräparat [Wirkstoff: Alfakalicidol (Handelsname Bondiol),
33
- einen Phosphatbinder [Algedrat (Handelsname: Antiphosphat)],
34
- einen Kalium-Natrium-Austauscher (Handelsname: Resonium A)
35
- ein Harnsäurespiegel senkendes Medikament (Handelsname Allo oder Allopurinol).
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Nach Angaben der Amtsärztin muss ohne Gabe dieser Medikamente mit einer bis hin
zur Lebensbedrohung gehenden, d.h. erheblichen Verschlechterung des
Gesundheitszustandes in höchstens einem Jahr, d.h. konkret bevorstehend gerechnet
werden. Wie die Amtsärztin auf telefonische Nachfrage durch das Gericht ergänzend
mitgeteilt hat, führt die nach ihren Beobachtungen bei Patienten aus dem
Herkunftsbereich des Klägers öfter festzustellende unzureichende
Begleitmedikamentierung der Dialyse dazu, dass die Patienten einen siechen Eindruck
machen. Die erforderliche Medikamentierung schützt den Patienten also vor
dialysefolgenbedingtem Siechtum.
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Nach der im Verfahren eingeholten Auskunft der Botschaft der Bundesrepublik
Deutschland in Eriwan an das VG Düsseldorf vom 14. Dezember 2007 sind die in Rede
stehenden Medikamente oder Alternativmedikamente in Armenien i.W. erhältlich.
Allerdings werden nach dieser Auskunft in der Praxis in Armenien nur die
Blutdruckmedikamente unentgeltlich ausgegeben; die übrigen Medikamente muss sich
der Patient auf eigene Kosten in der Apotheke beschaffen.
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Unter Zugrundelegen der Angaben über die Kosten der erforderlichen Medikamente in
der Auskunft der Botschaft vom 14. Dezember 2007 und der Mengenangaben in der
ergänzenden Auskunft der Amtsärztin des Gesundheitsamtes der Stadt S vom 22.
Januar 2008 ergeben sich für den Kläger für die zur Vermeidung konkreter und
erheblicher Gesundheitsgefahren notwendige, selbst zu finanzierende
Medikamentenkosten (ohne die kostenlosen Blutdruckmittel) im Umfang von 68.000,-
AMD/monatlich, d.h. bei einem Kurs von 1,- Euro : 454 AMD von 150,- Euro/ monatlich
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oder von 1.800,- Euro/jährlich.
Dieses erforderliche Medikamentenbudget übersteigt die finanziellen Möglichkeiten des
Klägers bei weitem.
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Nach seinen glaubhaften Angaben im Termin zur mündlichen Verhandlung vom 17.
September 2007 konnte er vor seiner Ausreise, die im Jahre 2004 stattfand, für seine
Medikamentierung nur rund 40,- bis 50,- Euro/mtl. aufbringen, zumal seine eigenen
finanziellen Möglichkeiten nach der Veräußerung seines Eigentumes erschöpft waren.
Diese Aussage entspricht im Kern seinen Angaben in der Anhörung durch das
Bundesamt im Erstverfahren vom 17. Juni 2004, als er bekundete, wegen seiner
Erkrankung für den Transport zum Krankenhaus, den Arzt und die Medikamente mit
Unterstützung seiner Familie monatlich insgesamt ca. 100,- Dollar ausgegeben zu
haben. Es bestehen vor diesem Hintergrund keine Anhaltspunkte dafür, dass der Kläger
selbst mit Unterstützung seiner Familie die erforderlichen Medikamentierungskosten
aufbringen könnte.
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Die Angaben zu den Finanzierungsschwierigkeiten sind auch vor dem Hintergrund
glaubhaft, dass Armenien nach wie vor mit einem durchschnittlichen Pro- Kopf-
Einkommen von etwa 1430 US-Dollar nach Weltbank-Definition nur wenig über der
Schwelle der ärmsten Länder liegt. Der Transformationsprozess der Volkswirtschaft
nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion ist noch nicht abgeschlossen, erst jüngst
wurde das Bruttosozialprodukt aus sowjetischen Zeiten erstmals leicht überschritten.
Trotz Wirtschaftswachstums leben in Armenien nach wie vor jedoch erhebliche Anteile
der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze. 1998/99 waren 56 Prozent, 2001/02 49
Prozent und 2004 immer noch gut 42 Prozent unterhalb dieser Grenze,
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vgl. Urteil der Kammer vom 12. Juni 2006 - 5 K 2991/05.A - S. 17 des Urteilsabdruckes
m.w.N..
43
Die Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ist vorliegend auch nicht durch § 60
Abs. 7 Satz 3 AufenthG "gesperrt". Zwar droht die Gefahr einer aus finanziellen Gründen
nicht ausreichenden medizinischen Versorgung grundsätzlich der gesamten
Bevölkerungsgruppe der mittellosen Kranken in Armenien allgemein, d.h. der Gruppe
derjenigen, die dort die erforderlichen Behandlungskosten für ihre Krankheit nicht
aufbringen können. Die derart verstandene (nach sozialen Merkmalen bestimmten)
Gruppe bildet -ungeachtet der Frage, wie umfangreich die Gruppe der Kranken in
Armenien ist- eine eigene Bevölkerungsgruppe i.S.d. § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG,
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vgl. -zur Gruppe, die aus finanziellen Gründen beschränkten Zugang zu einer
Heilbehandlung hat- BVerwG, Beschl. v. 29. April 2002 - 1 B 59/02; BVerwG Urt. v. 08.
Dezember 1998 - 9 C 4/98; VGH München, Beschl. v. 10. Oktober 2000 - 25 B 99.32077;
OVG S-H, Urt. v. 29. Oktober 2003 - 14 A 246/02.
45
Nach § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG werden Gefahren in dem Abschiebestaat, denen die
Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe der der Ausländer angehört, allgemein
ausgesetzt ist, bei Entscheidungen nach § 60a Abs. 1 AufenthG berücksichtigt. Die
oberste Landesbehörde kann nach § 60a Abs. 1 AufenthG aus völkerrechtlichen oder
humanitären Gründen oder zur Wahrung politischer Interessen der Bundesrepublik
Deutschland anordnen, dass die Abschiebung von Ausländern aus bestimmten Staaten
oder von sonstigen Ausländergruppen allgemein oder in einzelne Zielländer für
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längstens 6 Monate ausgesetzt wird (Satz 1); für längere Aussetzungen bedarf es des
Einvernehmens mit dem Bundesministerium des Innern (Satz 2). Mit dieser Regelung
soll nach dem Willen des Gesetzgebers erreicht werden, dass dann, wenn eine
bestimmte Gefahr der ganzen Bevölkerung oder einer im Abschiebezielstaat lebenden
Bevölkerungsgruppe gleichermaßen droht, über deren Aufnahme oder Nichtaufnahme
nicht im Einzelfall durch das Bundesamt und eine Ermessensentscheidung der
Ausländerbehörde, sondern für die ganze Gruppe der potentiell Betroffenen einheitlich
durch eine politische Leitentscheidung des Innenministeriums befunden wird,
vgl. BVerwG, Urt. v. 08. Dezember 1998 - 9 C 4/98; BVerwG, Urt. v. 17. Oktober 1995 - 9
C 9.95, jew. m.w.N.; VGH München, Beschl. v. 10. Oktober 2000 - 25 B 99.32077; OVG
S-H, Urt. v. 29. Oktober 2003 - 14 A 246/02.
47
Allgemeine Gefahren im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG können daher auch
dann keine Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG begründen, wenn
sie den Ausländer konkret und in individualisierbarer Weise betreffen. Denn solche
individuellen Gefährdungen, die sich aus einer allgemeinen Gefahr im Sinne des § 60
Abs. 7 Satz 3 AufenthG ergeben, können auch dann nicht als Abschiebungshindernis
unmittelbar nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG berücksichtigt werden, wenn sie auch
durch Umstände in der Person oder in den Lebensverhältnissen des Ausländers
begründet oder verstärkt werden, aber gleichwohl insgesamt nur typische Auswirkungen
der allgemeinen Gefahrenlage sind. Der Normzweck des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG
i.V.m. § 60a Abs 1. AufenthG lässt es mit anderen Worten nicht zu, den Ausländer aus
der allgemein gefährdeten Bevölkerung oder Bevölkerungsgruppe aufgrund zusätzlicher
individueller "Besonderheiten" oder Umstände auszugliedern, die bei wertender
Betrachtung eine solche Differenzierung nicht rechtfertigen, weil sie lediglich zu einer
Realisierung der allgemeinen Gefahr für den einzelnen führen und die eine politische
Leitentscheidung bedingende Typik unberührt lassen. In Anknüpfung hieran darf der
Einzelne mithin nicht aus der Bevölkerung oder Bevölkerungsgruppe i.S.d. § 60 Abs. 7
Satz 3 AufenthG und damit aus dem Ermessens- und Entscheidungsvorbehalt der
obersten Ausländerbehörden herausgenommen werden,
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vgl. BVerwG, Urt. v. 08. Dezember 1998 - 9 C 4/98; BVerwG, Urt. v. 17. Oktober 1995 - 9
C 9.95; BVerwG, Urt. v. 29. März 1996 - 9 C 116.95.
49
Trotz bestehender konkreter erheblicher Gefahr ist danach die Anwendbarkeit des § 60
Abs. 7 Satz 1 AufenthG im Verfahren eines einzelnen Ausländers "gesperrt", wenn
dieselbe Gefahr zugleich einer Vielzahl weiterer Personen im Abschiebezielstaat droht,
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vgl. BVerwG, Urt. v. 08. Dezember 1998 - 9 C 4/98; BVerwG, Urt. 27. April 1998, - 9 C
13.97.
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Diese Entscheidung des Bundesgesetzgebers haben die Verwaltungsgerichte zu
respektieren. Sie dürfen daher im Einzelfall Ausländern, die einer gefährdeten Gruppe
angehören, für die ein Abschiebestopp nach § 60a Abs. 1 AufenthG nicht besteht, nur
dann ausnahmsweise Schutz vor der Durchführung der Abschiebung in
verfassungskonformer Anwendung des § 60 Abs. 7 AufenthG zusprechen, wenn keine
anderen Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG gegeben sind, eine
Abschiebung aber Verfassungsrecht verletzten würde. Das ist dann der Fall, wenn der
Ausländer in seinem Heimatstaat einer extremen Gefahrenlage dergestalt ausgesetzt
wäre, dass er im Falle seiner Abschiebung dorthin gleichsam sehenden Auges dem
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sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert sein würde. Nur dann gebieten
es die Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, dem einzelnen Ausländer
unabhängig von einer Ermessensentscheidung nach § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG, §
60a Abs. 1 AufenthG Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu
gewähren,
vgl. BVerwG, Urt. v. 08. Dezember 1998 - 9 C 4/98; BVerwG, Urt. v. 17. Oktober 1995 - 9
C 9.95, jew. m.w.N.
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Vorliegend würde der Kläger aber bei einer Abschiebung nach Armenien derartigen
schwersten Verletzungen ausgeliefert. Denn ohne die erforderliche Medikamentierung,
die der Kläger mangels finanzieller Möglichkeiten in Armenien nicht erlangen kann,
wäre er der Gefahr dialysefolgenbedingten Siechtums und damit einer nicht mehr
hinnehmbaren Gefahr ausgesetzt.
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Der Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG
zugunsten des Klägers steht hier auch nicht entgegen, dass es sich um ein
Asylfolgeverfahren im Sinne des § 71 AsylVfG handelt. Es kann offen bleiben, ob hier
die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 - 3 VwVfG vorliegen, die einen strikten Anspruch
auf Wiederaufgreifen des abgeschlossenen Erstverfahrens gewähren. Jedenfalls hat
das Bundesamt gemäß § 51 Abs. 5 VwVfG in Verbindung mit §§ 48, 49 VwVfG nach
pflichtgemäß auszuübendem Ermessen zu entscheiden, ob die bestandskräftige frühere
Entscheidung zu § 53 Abs. 6 AuslG (= Vorgängervorschrift zu § 60 Abs. 7 AufenthG)
zurückgenommen oder widerrufen wird. Dieses Ermessen ist hier "auf Null", d.h. auf
eine positive Wiederaufgreifensentscheidung reduziert, weil ein Festhalten an der
bestandskräftigen negativen Entscheidung zu § 53 AuslG zu einem schlechthin
unerträglichen Ergebnis führen würde. Denn dem Kläger ist in Armenien die für ein
siechtumfreies Leben notwendige Medikamentierung nicht zugänglich.
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Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO, § 83 b AsylVfG. Der
Gegenstandswert folgt aus § 30 RVG.
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