Urteil des VG Düsseldorf vom 25.08.2003
VG Düsseldorf: wohl des kindes, elterliche sorge, pflegeeltern, jugendamt, einvernehmliche regelung, form, familie, haushalt, gutachter, jugendhilfe
Verwaltungsgericht Düsseldorf, 19 K 7174/01
Datum:
25.08.2003
Gericht:
Verwaltungsgericht Düsseldorf
Spruchkörper:
19. Kammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
19 K 7174/01
Tenor:
Der Bescheid des Beklagten vom 26. Juli 2000 und der
Widerspruchsbescheid des Beklagten vom 27. September 2001 werden
aufgehoben.
Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens, für das Gerichtskosten
nicht erhoben werden. Die Zuziehung der Prozessbevollmächtigten als
Bevollmächtigte im Vorverfahren wird für notwendig erklärt.
Die Kostenentscheidung ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von
2.050,00 Euro vorläufig vollstreckbar.
Tatbestand:
1
Die Klägerin wendet sich gegen die Heranziehung zu Kostenbeiträgen für die Zeit ab
dem 22. Januar 1999 anlässlich der Unterbringung ihrer Kinder K1 - geb. am 00. April
1994 -, K2 - geb. am 00. Mai 1995 - und K3 - geb. am 00. Juli 1996 -.
2
Neben den beiden vorgenannten Kindern ist die Klägerin die leiblich Mutter der Kinder
K4 und K5, die jeweils älter sind als die erst genannten Kinder. Der Vater aller fünf
Kinder ist der Ehemann der Klägerin.
3
Zu der Unterbringung der Kinder kam es wie folgt:
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Im Dezember 1996 erlitten die Klägerin und ihr Ehemann nach Alkohol- und
Tabelettenmissbrauch einen Zusammenbruch, der zur stationären Aufnahme führte.
5
Mit Beschlüssen des Amtsgerichts S vom 00. und 00. Dezember 1996, - 000000000 -,
wurden der Klägerin und ihrem Ehemann zunächst vorläufig - 00. Dezember 1996 - und
sodann bis zum "Nachweis der Erziehungsfähigkeit der Eltern" - 00. Dezember 1996 -
die elterliche Sorge für alle fünf Kinder entzogen und auf das Jugendamt des Beklagten
übertragen.
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Im Beschluss vom 00. Dezember 1996 heißt es u.a. :
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"Wegen einer seit langer Zeit bestehenden Alkohol- und Tablettenproblematik bei den
Kindeseltern ist ein Erziehungsnotstand bei den Kindern K bereits mindestens seit 1993
dem Jugendamt bekannt. Inzwischen sind die weiteren Kinder K1, K2 und K3 geboren
worden. Der Erziehungsnotstand hat sich entsprechend vergrößert. Die Kinder wurden
in den letzten Jahren mehrfach aushäusig untergebracht, jeweils bei den beiderseitigen
Großeltern. Die Wohnsituation ist im elterlichen Haushalt beengt. Die Familie lebt mit
inzwischen sieben Personen auf 37 Quadratmeter. Am 28. 08. 1996 wurde das
Jugendamt darüber informiert, dass die Kinder K2 und K1 in Abständen von einer
Woche mit Tablettenvergiftung im Kinderkrankenhaus des G Krankenhauses des
Diakoniewerkes L aufgenommen worden waren. Zu Grunde lag jeweils eine Vergiftung
mit valiumhaltigen Präparaten. Hierbei sowie bei Beobachtungen der Kinder durch den
Kindergarten bzgl. der weiteren Kinder K4 und K5 fiel auf, dass die Kinder sämtlich in
einem sehr schlechten Ernährungszustand an der Untergrenze des Zulässigen sich
befanden, tiefe rote Augenringe hatten, ein an Hospitalismus grenzendes Verhalten
zeigten und zu normalem Spielverhalten und Kontaktaufnahme mit altersgleichen
Kindern außer Stande waren.
8
Die beobachteten Defizite der Kinder wurden vom Jugendamt mit den Kindeseltern
besprochen. Es wurden verschiedene Hilfsangebote unterbreitet, die letztlich alle darauf
fußen, dass die Kindeseltern sich selbst einer geeigneten Therapie gegen Alkohol- und
Tablettenabusus unterziehen müssen, um für die Kinder stabile Rahmenbedingungen
schaffen zu können, falls dies dann möglich sein sollte. Nachdem die Kindeseltern
nunmehr seit gut einer Woche sich im G1- Krankenhaus befinden und trotz dortiger
Hilfsangebote und weiterer Gespräche dort mit der Sachbearbeiterin des Jugendamtes
sich ausdrücklich geweigert haben, in dem erforderlichen Maß durch eigene
Behandlung mit dem Jugendamt zusammenzuarbeiten, bleibt nur die Möglichkeit des
Entzugs der elterlichen Sorge, ... Vielmehr sollte bei diesen nur mit ihren Geschwistern
vertrauten Kindern eine Fremdunterbringung für alle für Kinder gemeinsam gesucht
werden, um ihnen zunächst zumindest vertrauensvollen Umgang untereinander zu
gewährleisten, bevor sie zu einer Öffnung nach außen fähig sein werden. Eine weniger
einschneidende Möglichkeit als den Entzug ....."
9
Den Beschluss bestätigte das Amtsgericht S unter dem 00. Dezember 1996 nach
Anhörung der Eltern und stellte ferner fest, dass eine Rückübertragung der elterlichen
Sorge erst in Betracht komme, wenn jeder Elternteil für sich die Wiedererlangung der
Erziehungsfähigkeit durch Gutachten nachgewiesen habe.
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Die beiden älteren Kinder wurden nach einem Zwischenaufenthalt bei den Großeltern
im Kinderdorf E untergebracht, die drei jüngeren Kinder - ebenfalls nach einem
Zwischenaufenthalt im Kinderhaus W in P - durch Vermittlung des vom Jugendamt
eingeschalteten SKFM E1 getrennt jeweils in einer anderen Pflegefamilie
untergebracht, deren Adoptionswilligkeit bekannt war.
11
K3 wurde am 14. März 1997 in die Familie K6 in X, K1 am 19. März 1996 in die Familie
M in L1und K2 am 21. März 1997 in die Familie T in E1 gegeben.
12
Bereits am 18. Februar 1997 schlossen die Klägerin und ihr Ehemann zur Verbesserung
der Wohnverhältnisse mit der Mutter der Klägerin einen Vertrag über die Anmietung der
im Eigentum der Mutter stehenden Wohnung -1. OG und Mansarde, ca. 100 m² - im
13
Hause C1straße 00 in S, dessen Erdgeschosswohnung die Mutter selbst bewohnte.
Die Therapie bei der Klägerin und ihrem Ehemann verlief so erfolgreich, dass die
beiden älteren Kinder mit Zustimmung des Jugendamtes S am 5. Juli 1998 aus dem
Kinderheim E in den elterlichen Haushalt zurückkehren konnten.
14
Mit Beschluss vom 00. April 1999 - 000000000 - übertrug das Amtsgericht S den
Kindeseltern die elterlich Sorge für K4 und K5 zurück. In der Begründung des
Beschlusses heißt es:
15
"Durch konsequente Absolvierung von Therapie und Beratung ist die in der
Vergangenheit nicht gegebene Erziehungseignung der Kindeseltern bezüglich dieser
Kinder jetzt in vollem Umfang hergestellt, sodass ihnen die elterliche Sorge zu
übertragen war."
16
Die Klägerin und ihr Ehemann beantragten auch hinsichtlich K2, K3 und K1 die
Rückübertragung der elterlichen Sorge und Herausgabe der Kinder. In den
entsprechenden Verfahren beim Amtsgericht S - 0000000000 für K2, 0000000000 für K1
und 00000000 für K3 - beantragten die jeweiligen Pflegeeltern, jeweils vertreten durch
die gleiche in L1 ansässige Prozessbevollmächtigte, den Antrag der leiblichen Eltern
zurückzuweisen und gleichzeitig im Hinblick auf das Aufenthaltsbestimmungsrecht des
Jugendamtes anzuordnen, dass die Kinder in der jeweiligen Pflegefamilie zu verbleiben
hätten.
17
Gleichzeitig war eine einvernehmliche Regelung des Umgangs- / Besuchsrechts nicht
möglich, sodass auch hier die Kindeseltern gerichtliche Hilfe erbaten, AG S 000000000
- K1-, 000000000 - K2 - und 000000000 - K3.
18
Mit Beschlüssen vom 00. Januar 2001 übertrug das Amtsgericht für K2 und K1 die
elterlich Sorge mit Ausnahme des Aufenthaltbestimmungsrechts, der Gesundheitssorge,
des Rechts der Regelung der Kindergarten- und schulischen Angelegenheiten sowie
des Rechts der Geltendmachung öffentlicher Hilfen auf die Kindeseltern zurück.
Hinsichtlich der Ausnahmen verblieb der Wirkungskreis beim Jugendamt S als
Ergänzungspfleger. Der Herausgabeantrag wurde abgelehnt und gleichzeitig
angeordnet, dass die Kinder in der jeweiligen Pflegefamilie zu verbleiben hätten.
19
Der Entscheidung legte das Gericht die im Rahmen der Verfahren eingeholten
Gutachten des Dipl. Psych. Priv.-Doz. Dr. S1 zu Grunde. Die jeweiligen Pflegeeltern - im
Beschlusstext jeweils "Beteiligte zu 3." - hatten den Gutachter nach Erstellung des
Gutachtens abgelehnt und gegen dessen Gutachten jeweils drei private
Gegengutachten vorgelegt, zu denen es u.a. im Beschluss des Amtsgerichts im
Verfahren 000000000 zum Umgangsrecht - inhaltsgleich mit den Beschlüssen
betreffend die anderen beiden Kinder - heißt:
20
"...
21
Der Gutachter kommt letztlich zu dem Ergebnis, dass die fehlende Bereitschaft der
Beteiligten zu 3. zur Suche nach einer einvernehmlichen Lösung und zur Übernahme
gemeinsamer Elternverantwortung sowie Beharren auf einer gerichtlichen Entscheidung
aus psychologischer Sicht eine Rückkehr von K1 in die Herkunftsfamilie bedeute. Dies
sei die beste der möglichen schlechten Lösungen, weil nur sie das Kind vor weiteren
22
defizitären und seine künftige Entwicklung langfristig beeinträchtigenden Erfahrungen
schütze.
Die Beteiligten zu 3. haben daraufhin den Gutachter Dr. S1 durch Einreichung dreier
privatgutachterlicher Stellungnahmen ( von Prof. F, L1, Prof. G2, S2 und Prof. R, NN ) in
erheblicher Weise angegriffen: Prof. F spricht von einem "so genannten" Gutachten,
dessen Nachvollzug ( so ) wenig möglich sei. Prof. R meint, die Argumentation des
Gutachters S1 als "blut- und bodenartig", mithin voll von nazistischem Gedankengut
bezeichnen zu müssen. Das Gericht hat daher dieses Elaborat nicht weiter für seriös
genommen. ...
23
...
24
Zunächst war der Antrag der Beteiligten zu 3. auf Ablehnung des Sachverständigen
wegen Besorgnis der Befangenheit zurückzuweisen. Deren Verhalten in diesem
Zusammenhang mutet das Gericht wie jemand an, die einen anderen vors Schienbein
tritt und diesen dann wegen des lauten Geschreis anzeigt. Immerhin haben die
Beteiligten zu 3. den Sachverständigen Dr. S1 schwerstens und bis zur persönlichen
Beleidigung (s.o.) kritisieren lassen. ..."
25
In den im Wesentlichen wortgleichen Beschlüssen, weil sich alle Pflegeeltern gleich
verhielten, heißt es weiter:
26
"... Hinzu kamen erhebliche Fehler anderer Beteiligter, die sich selbst einem Laien
aufdrängen: So wurden die Kinder vom Jugendamt in S offensichtlich ohne Beteiligung
oder gar Information der leiblichen Eltern in die Pflegefamilien vermittelt. Sie waren
somit um die Chance gebracht, Einfluss auf die Unterbringungs- oder Pflegestelle zu
nehmen. Dies war zu einem Zeitpunkt, als die Eheleute K die ersten Schritte zur
Überwindung ihrer Alkoholproblematik machten und es dem Jugendamt bekannt war,
dass die leiblichen Eltern durch Einschaltung eines Anwalts bei Gericht einen
Umgangsantrag gestellt hatten.
27
Weiterhin wurden die Geschwister auseinander gerissen und in verschiedene
Pflegestellen gegeben. Zwei der drei jüngeren Kinder wachsen nun als Einzelkinder
auf, ohne nennenswerte Bindungen an ihre Geschwister. Schließlich hat man die Kinder
an Paare vermittelt, die gerne ein Kind adoptiert hätten. So haben die Beteiligten zu 3.
dem Gutachter berichtet, dass der Mitarbeiter des vom Jugendamt eingeschalteten
Pflegekinderdienstes anfangs von Adoption gesprochen habe. Es ist der Verdacht nicht
von der Hand zu weisen, dass die Pflegeeltern mit der Erwartung gewonnen wurden, sie
könnten die ihnen anvertrauten Pflegekinder adoptieren. Dass solche Paare, die in der
Regel ihre eigene Frustrationsgeschichte wegen nicht erfülltem Kinderwunsch hinter
sich haben, andere und tiefere Bindungen den Pflegekindern gegenüber entwickeln,
liegt auf der Hand. Solche Pflegeeltern werden wenig geneigt sein, ihre Pflegekinder
zurückzugeben, insbesondere, wenn sie dann wieder zu einem kinderlosen Ehepaar
werden, einem Status, den sie vorher mit viel Mühe hinter sich gebracht haben. Wie
problemlos die Rückkehr aus einem Heim oder Kinderhaus sein kann, zeigt das
Beispiel der beiden ältesten Kinder der Beteiligten zu 1."
28
Trotz dieser Ausführungen gelangte das Gericht zum Ergebnis, dass unter dem
Gesichtspunkt des Kindeswohls ein langfristiges Verbleiben in der Pflegefamilie aus
Gründen des Kindeswohles angezeigt sei, allerdings mit einer erheblichen Ausweitung
29
der Kontakte zu den leiblichen Eltern. Der Gutachter habe ein Modell der engen
Zusammenarbeit zwischen den Pflegeeltern und den leiblichen Eltern vorgeschlagen,
die vom kindlichen Standpunkt aus formuliert und mit dem Wunsch an die Eltern
verbunden worden wäre, sich auf die kindliche Perspektive einzulassen. Einer solchen
Einigung auf freiwilliger Basis, der die leiblichen Eltern unter Hintanstellung ganz
erheblicher Bedenken zugestimmt hätten, sei letztlich an den jeweiligen Pflegeeltern
gescheitert, da diese sich nicht zu einer solchen Lösung hätten bereit finden können.
Dies sei letztlich auch der Grund gewesen, weshalb der Gutachter sich für eine
Rückführung der Kinder nach dem Motto, "Lieber ein Ende mit Schrecken als ein
Schrecken ohne Ende" ausgesprochen habe.
Die Anordnungen der Umgangsregelungen seien erforderlich, da die Pflegeeltern
mangelnde Kooperationsbereitschaft bewiesen.
30
Für K3 erging ein entsprechender Beschluss unter dem 0. April 2001-00000000- .
31
Seit dem 23. März 2003 befindet sich K1 wieder im Haushalt der Familie der Klägerin.
Das Amtsgericht S hat mit Beschluss vom 00. Mai 2003 die Verbleibensanordnung
aufgehoben, da es dem Willen des Kindes entsprochen habe, in den Haushalt der
leiblichen Eltern zurückzukehren.
32
Aktuell betreiben die Pflegeeltern von K2 und K3 Verfahren, das Umgangsrecht der
leiblichen Eltern einzuschränken bzw. diesen zu versagen.
33
Im Verfahren betreffend K2, dass die Pflegeeltern eingeleitet haben, da sie der
Auffassung sind, dass K2 wegen der ausgeweiteten Besuchskontakte suizidgefährdet
sei, hat das Oberlandesgericht E1 im Beschluss vom 00. August 2003 -
00000000000000 betreffend die Beschwerde der Pflegeeltern u.a. ausgeführt:
34
"... Aller Voraussicht nach wird gegebenenfalls durch ein Sachverständigengutachten
die Frage zu klären sein, ob das Kind K2 unter Berücksichtigung der bestehenden
Bindungen zu den Pflegeeltern, den leiblichen Eltern und seinen Geschwistern ohne
Gefährdung des Kindeswohls in den elterlichen Haushalt zurückkehren kann. Vor
diesem Hintergrund erscheint es mit dem Wohl des Kindes nicht vereinbar, bereits jetzt
einen Zustand zu schaffen, der der Rückführung des Kindes in den elterlichen Haushalt
zumindest gleich kommt. Wie sich insbesondere der aktuellen Stellungnahme der
Verfahrenspflegerin vom 06.08.2003 mit Deutlichkeit entnehmen lässt ist K2 derzeit aufs
Äußerste verwirrt und zwischen Eltern, Pflegeeltern und den übrigen Beteiligten hin und
her gerissen. Seinen Äußerungen gegenüber der Verfahrenspflegerin ist zu entnehmen,
dass er sich in einem übergroßen Loyalitätskonflikt zwischen den Pflegeeltern einerseits
und den leiblichen Eltern andererseits befindet. In dieser Situation ist es nicht mit dem
Wohl des Kindes vereinbar, ihn bereits jetzt in der Herkunftsfamilie zu belassen. ..."
35
Der Beklagte gewährt den Pflegeeltern auf Grund entsprechender, an die Pflegeeltern
adressierter Bescheide seit Aufnahme der Pflege Pflegegeld nach § 39 SGB VIII. Nach
den vorlegten Verwaltungsvorgängen wurden die Anträge auf Hilfe zur Erziehung in
Form der Vollzeitpflege durch Pflegefamilien zwar von Mitarbeitern des Beklagten
aufgenommen, eine Unterzeichnung durch den Pfleger / Ergänzungspfleger in der
Rubrik "Eltern", "Vater" bzw. "Mutter" lässt sich jedoch nicht feststellen. Im Übrigen lässt
sich den Verwaltungsvorgängen des Beklagten nicht entnehmen, welcher Bedienstete
im Hause des Beklagten wann auf Grund welcher Festlegung mit der Wahrnehmung der
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dem Jugendamt S vom Amtsgericht S übertragenen Aufgaben/Befugnisse betraut war.
An den Hilfeplangesprächen nahm in der Folgezeit ausweislich der Protokolle hierzu
bisweilen unter der Bezeichnung "Vormund" ein Herr X1 teil.
37
In einem Vermerk vom 17. September 1999, Bl. 64 der BA Heft 1, ist allerdings
Folgendes festgehalten:
38
"Am 17.09.99 wurde ein Gespräch bezüglich der Vormundschaftsbestellung über die
Kinder K geführt.
39
An dem Gespräch nahmen teil:
40
Frau K7
41
Frau X2
42
Herr C2, der Unterzeichner
43
Das Amtsgericht hatte bereits vor drei Jahren für die fünf ehelichen Kinder der Eheleute
K das Jugendamt zum Vormund bestellt. Dabei war von der Abteilung 51.2 versäumt
worden, den Amtsvormund der Abtl. 51.1 rechtzeitig zu beteiligen. Allerdings hatte auch
das Amtsgericht bisher zur vermögensrechtlichen Situation keinen Bericht verlangt.
44
Inzwischen wurden jedoch bereits zwei Kinder den Eltern zurückgegeben, sodass
aktuell nur noch drei Kinder unter Vormundschaft stehen.
45
Es wird festgestellt, dass der Amtsvormund der Abtl. 51.1 sich der Sache nicht
annehmen muss. Für die drei Kinder wird von Anfang an Jugendhilfe gewährt. Im
Rahmen der Hilfegewährung ist der Unterhaltsanspruch auf die Abtl. Wirtschaftl.
Erziehungshilfe übergegangen. Der Anspruch wird nicht auf die Mutter oder den
Amtsvormund zurückübertragen.
46
Wie bisher, wird daher die Abtl. WE. die unterhaltsrechtlichen und
vermögensrechtlichen Ansprüche der Kinder prüfen und Entscheidungen treffen.
47
Herr X1 lässt übermitteln, dass ....
48
Abschließend ist festzustellen, dass bisher durch die Nichtbeteiligung des
Amtsvormundes der Abtl. 51.1 kein Schaden entstanden ist und durch die Tätigkeit der
Abtl. Wirt. Erziehungshilfe die Vermögensrechtl. Dinge erledigt wurden und werden.
49
Derzeit ist nichts zu veranlassen."
50
Für die Zeit der Hilfeleistung prüfte der Beklagte, ob er von den Kindeseltern
Kostenbeiträge für die Gewährung der Hilfe aus deren Einkommen verlangen könne, da
die Klägerin und ihr Ehemann seit Ende 1999 wieder berufstätig waren bzw. anfangs
Leistungen des Arbeitsamtes erhielten. Die Prüfung verlief stets negativ.
51
Am 22. Januar 1999 wurde die Klägerin im Grundbuch von I des Amtsgerichts S, Blatt
000 als Eigentümerin des ca. 1.190 qm großen mit einem zweigeschossigen Haus
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bebauten Hausgrundstücks C1straße 00 in S im Wege der Erbfolge nach ihrer
verstorbenen Mutter eingetragen. Es war nicht lastenfrei. Das etwa um 1926 erbaute
Haus hat eine Wohnfläche von ca.180 qm. Auf dem Grundstück befindet sich ein
Schuppen, der gewerblich vermietet ist. Das Grundstück liegt im Geltungsbereich eines
Bebauungsplanes, der auch für Teile der derzeit nicht bebauten Grundstücksteile eine
überbaubare Fläche ausweist. Der Beklagte gelangte nach längeren Ermittlungen zum
Ergebnis, dass es sich im Hinblick auf die Verweisung in § 93 Abs. 2 SGB VIII auf § 88
BSHG nicht um ein kleines Hausgrundstück handele. Allein der Grundstückswert, der
bei 432.000,00 DM liege, spreche dagegen. Im Übrigen sei sowohl das Haus von der
Wohnfläche her wie auch das Grundstück als solches unangemessen groß. Hinsichtlich
der Wohnfläche sei zu berücksichtigen, dass nicht sicher sei, ob die drei kleineren
Kinder überhaupt in den Haushalt zurückkehren würden.
Nach vorheriger Anhörung setzte der Beklagte mit Bescheid vom 26. Juli 2000
Kostenbeträge in Höhe von 80 % des Mindestunterhaltes für die Kinder K1, K2 und K3
für die Zeit ab dem 22. Januar 1999 unbefristet fest. Zur Begründung führte er aus, der
Klägerin sei der Einsatz des Hausgrundstückes zumutbar, da es sich nicht um ein
geschütztes Hausgrundstück im Sinne von § 88 BSHG handele. Es sei nicht der
Verkauf erforderlich, das Grundstück könne auch geteilt oder mit einer Hypothek
belastet werden. Bis zum 31. Juli 2000 seinen Kostenbeiträge in Höhe von 15.780,00
DM aufgelaufen, diese seinen mit der Rate für August 2000 bis zum 20. August 2000 zu
zahlen. Wegen der Einzelheiten der Höhe der Kostenbeiträge und deren Berechnung,
sowie der Begründung der Entscheidung im Übrigen wird auf den Bescheid, GA Bl. 3
bis 6 verwiesen.
53
Den hiergegen - vertreten durch die Prozessbevollmächtigten - eingelegten
Widerspruch, mit dem die Klägerin weiterhin die Ansicht vertrat, es handele sich bei
dem Hausgrundstück um Schonvermögen, zudem sei die Hilfegewährung fehlerhaft, da
sie erziehungsfähig sei, wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 27.
September 2001, zugestellt am 11. Oktober 2001, als unbegründet zurück. Wegen der
Begründung der Widerspruchsentscheidung wird auf die Gründe des Bescheides
verwiesen, BA Heft 1 Bl. 205 ff.
54
Die Klägerin hat am 10. November 2001 Klage erhoben.
55
Zur Begründung verweist sie auf die Gründe des Widerspruchs. Selbst die im Rahmen
des Verwaltungsverfahrens erstellten Vermerke von Bediensteten des Beklagten
belegten die Rechtswidrigkeit der Bescheide. Dem Widerspruch sei offensichtlich
lediglich auf Grund der Weisung eines Beigeordneten nicht abgeholfen worden.
56
Die Klägerin beantragt,
57
1. den Bescheid des Beklagten vom 26. Juli 2000 und den Widerspruchsbescheid des
Beklagten vom 27. September 2001 aufzuheben,
58
2.
59
3. die Zuziehung eines Bevollmächtigten für das Vorver- fahren für notwendig zu
erklären.
60
4.
61
Der Beklagte beantragt,
62
die Klage abzuweisen.
63
Der Beklagte ist der Ansicht, die Bescheide seien zu Recht ergangen. Bei dem
Hausgrundstück handele es sich nicht um ein kleines Hausgrundstück.
64
Wegen des Weiteren Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte, den
der beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Beklagten, Beiakte Heft 1 - Vorgang
betreffend die Heranziehung der Klägerin zum Kostenbeitrag - und Hefte 2 bis 22 sowie
den der Verfahrensakten des Amtsgerichts S 000000000, 0000000000, 00000000,
000000000, Beiakten Hefte 26 bis 31 ergänzend Bezug genommen.
65
Entscheidungsgründe:
66
Die Klage ist begründet. Die angefochtenen Bescheide sind rechtswidrig und verletzten
die Klägerin in ihren Rechten, § 113 Abs. 1 VwGO.
67
Die Voraussetzungen zur Geltendmachung eines Kostenbeitrages anlässlich der
Unterbringung der Kinder K3, K2 und K1 liegen nicht vor.
68
Gemäß § 91 Abs. 1 Nr. 4 b) SGB VIII werden das Kind, oder der Jugendliche und
dessen Eltern zu den Kosten der Hilfe zur Erziehung in Form - wie hier - der
Vollzeitpflege herangezogen. Die Heranziehung zu den Kosten der in § 91 SGB VIII
genannten Aufgaben erfolgt durch Erhebung eines Kostenbeitrages - § 93 Abs. 1 SGB
VIII -, der nach den Absätzen 2 bis 4 sowie § 94 SGB VIII ermittelt wird. Die Eltern, von
denen ein Kostenbeitrag erhoben wird, werden aus Ihrem Einkommen nach den §§ 79,
84, 85 und ihrem Vermögen nach den §§ 88 und 89 BSHG herangezogen.
69
Ungeschriebene, aus dem Rechtstaatsprinzip folgende Voraussetzung einer
Heranziehung zu den Kosten ist jedoch eine rechtmäßige Hilfegewährung.
70
Eine solche liegt in mehrfacher Hinsicht bis heute nicht vor.
71
Die im vorliegenden Verfahren streitige Hilfe zur Erziehung in Form der Vollzeitpflege
mit Bewilligung von Pflegegeld für die Erziehung eines Kindes in einer Pflegefamilie
kann nicht ohne weiteres von Amts wegen erbracht werden, sondern bedarf eines
Antrages durch den Berechtigten. Gemäß § 27 Abs. 1 SGB VIII hat ein
Personensorgeberechtigter bei der Erziehung eines Kindes oder eines Jugendlichen
Anspruch auf Hilfe zur Erziehung, wenn eine dem Wohl des Kindes oder des
Jugendlichen entsprechende Erziehung nicht gewährleistet ist und die Hilfe für seine
Entwicklung geeignet und notwendig ist. Nach § 27 Abs. 2 SGB VIII wird die Hilfe zur
Erziehung insbesondere nach Maßgabe der §§ 28 bis 35 SGB VIII gewährt. Hierzu zählt
also auch die Hilfe nach § 33 SGB VIII (Vollzeitpflege). Auf Hilfe zur Erziehung besteht
grundsätzlich ein Rechtsanspruch. Leistungsberechtigter dieser Hilfe ist der
Personensorgeberechtigte gem. § 27 Abs. 1 SGB VIII; als Annex zur Hilfe zur Erziehung
in Form der Vollzeitpflege gilt dies ebenfalls für die Leistungen nach § 39 SGB VIII, die
hier gewährt wurden. Voraussetzung für die Hilfe zur Erziehung z.B. im Rahmen der
Vollzeitpflege ist u.a. damit, dass der Personensorgeberechtigte die Leistung in
Anspruch nimmt, dies setzt nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgericht
72
einen entsprechenden Antrag voraus.
Gemäß § 7 Abs. 1 Nr. 5 SGB VIII ist Personensorgeberechtigter, wem allein oder
gemeinschaftlich mit einer anderen Person nach den Vorschriften des Bürgerlichen
Gesetzbuches die Personensorge zusteht. Nach § 1626 BGB steht die Personensorge
den Eltern zu. Ist ein Vormund bestellt, obliegt sie diesem ( § 1793 Abs. 1 BGB ). Gemäß
§ 1630 Abs. 1 BGB erstreckt sich die elterliche Sorge nicht auf Angelegenheiten des
Kindes, für die ein Pfleger bestellt ist.
73
Auf Grund der Beschlüsse des Amtsgericht S vom 00. und 00. Dezember 1996 war den
Eltern die elterliche Sorge entzogen und auf das Jugendamt des Beklagten übertragen
worden. Mit den Beschlüssen vom 00. Januar 2001 bzw. 0. April 2001 war die elterliche
Sorge zwar auf die Klägerin und ihren Ehemann zurückübertragen worden, allerdings
mit Ausnahme der hier relevanten Bereiche Aufenthaltbestimmungsrecht und Recht,
öffentliche Hilfen in Anspruch nehmen zu können. Sowohl nach den Beschlüssen aus
1996 als auch denjenigen aus dem Jahre 2001 oblag dem Jugendamt S für K3, K2 und
K1 die "Personensorge" im Sinne des § 7 Abs. 1 Nr. 5 SGB VIII. Hiermit war aber nicht
gleichermaßen jeder beliebige Mitarbeiter / Bedienstete des Beklagten mit der
Wahrnehmung der vormundschaftlichen Rechte betraut bzw. zu deren Ausübung
berechtigt, sondern nur solche im Sinne § 55 Abs. 2 SGB VIII.
74
Die Übertragung der Aufgaben auf eine natürliche Person des Jugendamtes ist
zwingend vorgeschrieben, wie der Wortlaut der Vorschrift des § 55 Abs. 2 Satz 1 SGB
VIII ("das Jugendamt überträgt die Ausübung der Aufgaben Einzelnen seiner Beamten
oder Angestellten ") deutlich macht. Jede unmittelbare Ausübung der Aufgaben des
Pflegers oder Vormundes, etwa durch den Leiter des Jugendamtes, ist ausgeschlossen,
wenn er nicht selbst damit betraut worden ist. Von ihm lediglich als Leiter der
Verwaltung des Jugendamtes für ein Mündel des Jugendamtes abgegebene
Erklärungen beispielsweise sind mithin keine Erklärungen des gesetzlichen Vertreters
des Mündels und daher unwirksam, weil Erklärungen eines nicht betrauten Leiters des
Jugendamtes, denen einer unbefugten Person vergleichbar sind. Eine nachträgliche
Genehmigung einer solchen ohne Vertretungsmacht abgegebenen Erklärung ist nicht
möglich.
75
Vgl. Krug/Grüner/Dalichau, Kommentar zum SGB VIII, a.a.O., zu § 55 V Anm. 2.
76
Diese Grundsätze gelten auch dann, wenn es um Aufgaben des Jugendamtes in
Ausübung seiner übertragenen Funktion etwa als "Teilsorgerechtsinhaber" geht.
77
Problematisch ist demzufolge immer die "Beauftragung" einer Person innerhalb des
Jugendamtes, die neben der Wahrnehmung der Pflichten des
Aufenthaltsbestimmungspflegers für ein Kind gleichzeitig über die Bewilligung von Hilfe
zur Erziehung für denselben Fall zu entscheiden hat. Dabei geht es nicht um die
Differenzierung zwischen Bewilligung der Hilfe zur Erziehung und Zahlung von
Pflegegeld, sondern ausschließlich um die Frage, ob der Beauftragte im Sinne des § 55
SGB VIII, der die Personensorgeberechtigten zum Wohle des Kindes vertritt, gleichzeitig
die Funktionen der Behörde auf der "anderen Seite" wahrnehmen kann, die diese bei
der Prüfung von Anträgen auf Gewährung von Hilfen nach SGB VIII auszuüben hat.
78
Hierzu weist Wiesner
79
vgl. : Wiesner, Kommentar zum SGB VIII, a.a.O., zu § 55 Rdnr. 41
80
unter dem Stichwort "Insichprozess" zu Recht daraufhin, dass die Wahrnehmung der
unterschiedlichen Funktionen, ohne klare Abgrenzungen der Tätigkeiten voneinander,
zu Interessenkollissionen führen kann. Da der Pfleger als betraute Person nur begrenzt
dem Behördenleiter in der Wahrnehmung der Aufgabe untersteht, kann letzterer den
Pfleger, als gesetzlichen Vertreter des Kindes, nicht ohne weiteres - etwa aus
fiskalischen Gründen - anweisen, eine erforderliche Maßnahme nicht zu beantragen
oder durchzuführen. Gerade der vorliegende Fall belegt in besonderem Maße, wie
unterschiedlich die Einschätzung der richtigen Maßnahme, die zum Kindeswohl zu
treffen ist, sein kann.
81
Wer mit den Wahrnehmungen der Aufgaben des Amtsvormundes in Person betraut war,
ergibt sich nicht aus den Akten. Ob es immer Herr X1 war, lässt sich nicht feststellen.
Dies kann letztlich aber auch dahinstehen, denn keiner der Anträge auf Hilfe zur
Erziehung in Form der Vollzeitpflege für die drei vorgenannten Kinder ist in der
entsprechenden Rubrik des Antrages überhaupt unterzeichnet.
82
Dass der Vormund und später Ergänzungspfleger offensichtlich nicht bei der
Beantragung der Hilfegewährung mitgewirkt hat, ergibt sich auch in einer kaum zu
übertreffenden Deutlichkeit aus dem Vermerk vom 17. September 1999 des Herrn C2,
der deutlich macht, dass der Amtsvormund an der Unterbringung der Kinder und der
Hilfegewährung nicht beteiligt war. Dieser Vermerk belegt allerdings zugleich, dass im
Hause des Beklagten offensichtlich untragbare, um nicht zu sagen eklatant rechtswidrig
Zustände in der Organisation und der Wahrnehmung übertragener Aufgaben vorlagen.
83
Es muss nach der Aktenlage sogar davon ausgegangen werden, dass er nicht einmal
an der Auswahl der Pflegeeltern beteiligt war, da diese offensichtlich durch den SKFM
E1 erfolgte.
84
Mangels ordnungsgemäßer - nicht nachholbarer - Antragstellung konnte die Hilfe zur
Erziehung in Form der Vollzeitpflege einschließlich der Gewährung von Leistungen
nach § 39 SGB VIII nicht rechtmäßig erfolgen.
85
Folge dieser unrechtmäßigen Handhabung der Hilfegewährung war auch, dass die Hilfe
nicht etwa dem "Personensorgeberechtigten" in Person des Amtsvormundes, später des
Amtspflegers bewilligt wurde, sondern den Pflegeeltern als nicht Anspruchsberechtigten
der Leistungen nach §§ 27, 33, 39 SGB VIII. Damit wurde die Leistung auch rechtswidrig
erbracht, weil sie einem nicht Anspruchsberechtigten gewährt wurde.
86
Die vom Beklagten als Hilfe zur Erziehung erbrachten Leistungen waren aber auch in
der hier konkret gewährten Form materiell rechtswidrig.
87
Gemäß § 27 Abs. 1 SGB VIII hat ein Personensorgeberechtigter bei der Erziehung eines
Kindes oder eines Jugendlichen Anspruch auf Hilfe (Hilfe zur Erziehung), wenn eine
dem Wohl des Kindes oder des Jugendlichen entsprechende Erziehung nicht
gewährleistet ist und die Hilfe für seine Entwicklung geeignet und notwendig ist. Nach §
27 Abs. 2 SGB VIII wird Hilfe zur Erziehung insbesondere nach Maßgabe der §§ 28 bis
35 SGB VIII gewährt. Art und Umfang der Hilfe richten sich nach dem erzieherischen
Bedarf im Einzelfall; dabei soll das engere soziale Umfeld des Kindes oder des
Jugendlichen einbezogen werden.
88
Voraussetzung für die Gewährung von Hilfen dieser Art ist mithin, dass eine dem Wohl
des Kindes oder Jugendlichen entsprechende Erziehung nicht gewährleistet ist. Dies ist
etwa dann der Fall, wenn die Lebenssituation des Kindes dadurch gekennzeichnet wird,
dass die zur Verfügung stehende Erziehungsleistung nicht geeignet ist, das Ziel der
Erziehung zu erreichen. Bei der Feststellung einer Mangelsituation ist in erster Linie die
Tatsache von Bedeutung, dass bestimmte Faktoren die Entwicklung des Kindes
belasten sowie die mangelnde Fähigkeit der Familie, diese belastenden Faktoren aus
eigener Kraft zu bewältigen. Unerheblich ist dabei, ob die Mangelsituation etwa auf das
erzieherische Unvermögen der Eltern, Erziehungsschwierigkeiten des Kindes (etwa auf
Grund ungünstiger Anlagen, Behinderungen oder ungünstiger Einflüsse durch dritte
Personen) oder andere Faktoren aus dem sozioökonomischen Umfeld wie etwa die
Wohnverhältnisse, die wirtschaftliche Lage, die Einflüsse der Nachbarschaft und der
Schule usw., zurückzuführen sind.
89
Vgl. Wiesner u.a., Kommentar zum SGB VIII, a.a.O., zu § 27 Rdnr. 28 ff.;
90
Krug u.a., Kommentar zum SGB VIII, a.a.O., zu § 27 Anm. I zu a.).
91
Dabei verbietet sich die Verweisung auf die Selbsthilfe der Personensorgeberechtigten
erst, wenn die Familie, die in Krisen und Konflikte geraten oder sonst von
außergewöhnlichen Belastungen betroffen ist, die Erziehung nicht hinreichend leisten
kann.
92
Vgl. Jans/Happe/Saurbier, Kommentar zum Kinder- und Jugendhilferecht,
Loseblattsammlung, 9. Lieferung Stand März 1996, zu § 27 SGB VIII Rdnr. 20.
93
Gemessen an diesen Voraussetzungen ist es nach Überzeugung der Kammer schon
höchst fraglich, ob in dem hier in Rede stehenden Zeitraum ab Januar 1999 überhaupt
ein Anlass für Hilfe zur Erziehung gegeben war.
94
Unter Zugrundelegung des umfangreichen Akteninhaltes aus dem
jugendhilferechtlichen Verfahren und dem vormundschaftsgerichtlichen Verfahren und
auch dem dort eingeholten Gutachten der Dipl.-Psych. S1 geht die Kammer davon aus,
dass die Klägerin und ihr Ehemann jedenfalls ab Januar 1999 in ihrer
Erziehungsfähigkeit nicht beeinträchtigt gewesen sind. Dies bestätigt die Begründung
des das Sorgerecht auf die Eheleute K rückübertragenden Beschlusses des
Amtsgerichts S vom 00. April 1999, als es dort heißt, dass die Eltern ihr
Erziehungsfähigkeit wieder erlangt haben und die beiden älteren Geschwister auch
bereits seit Mitte 1998 !!! mit Zustimmung des Jugendamtes S wieder bei den Eltern
lebten.
95
Ferner war die vom Beklagten ab März 1997 ergriffene Hilfe zur Erziehung in der
konkreten Form, wie sie hier erbracht wurde, für die Entwicklung der Kind K3, K2 und K1
weder geeignet noch notwendig, wie der Leidensweg der Kinder und der Familie zeigt.
96
Es steht zur Überzeugung des Gerichts fest und ist auch offenkundig, dass die im
vorliegenden Fall ergriffene Maßnahme der Hilfe zur Erziehung in der hier
konkretisierten Form der Vollzeitpflege durch Unterbringung der Kinder der Klägerin in
drei verschiedenen adoptionswilligen Pflegefamilien an drei verschiedenen Orten von
Beginn der Hilfe an bis zum heutigen Tage absolut ungeeignet war und ist.
97
Geeignet ist die Hilfe in Vollzeitpflege dann, wenn die Pflegeeltern die Erziehung -
zusammen mit Fachkräften der Jugendhilfe - entsprechend dem Kindeswohl
sicherstellen können und dies im Einzelfall die, dem Erziehungsbedarf entsprechende,
angemessene Betreuungsart darstellt.
98
Vgl. Krug u.a., Kinder- und Jugendhilfe, Kommentar, a.a.O. zu § 27 SGB VIII, Anm. II 1
zu b.
99
Gemäß § 33 SGB VIII soll Hilfe zur Erziehung in Form der Vollzeitpflege, entsprechend
dem Alter und Entwicklungsstand des Kindes oder des Jugendlichen und seinen
persönlichen Bindungen sowie den Möglichkeiten der Verbesserung der
Erziehungsbedingungen in der Herkunftsfamilie, Kindern und Jugendlichen in einer
anderen Familie eine zeitlich befristete Erziehungshilfe oder eine auf Dauer angelegte
Lebensform bieten. Dabei sind nach § 36 SGB VIII der Personensorgeberechtigte und
das Kind oder der Jugendliche vor der Entscheidung über die Inanspruchnahme einer
Hilfe und vor einer notwendigen Änderung von Art und Umfang der Hilfe zu beraten und
auf die möglichen Folgen für die Entwicklung des Kindes oder des Jugendlichen
hinzuweisen. Nach § 36 Abs. 2 SGB VIII soll die Entscheidung über die im Einzelfall
angezeigte Hilfeart, wenn Hilfe voraussichtlich für längere Zeit zu leisten ist, im
Zusammenwirken mehrerer Fachkräfte getroffen werden. Als Grundlage für die
Ausgestaltung der Hilfe sollen sie zusammen mit dem Personensorgeberechtigten und
dem Kind oder dem Jugendlichen einen Hilfeplan aufstellen, der Feststellungen über
den Bedarf, die zu gewährende Art der Hilfe sowie die notwendigen Leistungen enthält;
sie sollen regelmäßig prüfen, ob die gewählte Hilfeart weiterhin geeignet und notwendig
ist. Die Zielsetzung der Hilfe ergibt sich dabei zusätzlich aus § 37 Abs. 1 SGB VIII.
Danach soll u.a. bei der Vollzeitpflege darauf hingewirkt werden, dass die Pflegeperson
... und die Eltern zum Wohl des Kindes oder des Jugendlichen zusammenarbeiten.
Durch Beratung und Unterstützung sollen die Erziehungsbedingungen in der
Herkunftsfamilie innerhalb eines im Hinblick auf die Entwicklung des Kindes oder
Jugendlichen vertretbaren Zeitraumes soweit verbessert werden, dass sie das Kind oder
den Jugendlichen wieder selbst erziehen kann. Während dieser Zeit soll durch
begleitende Beratung und Unterstützung der Familien darauf hingewirkt werden, dass
die Beziehung des Kindes oder Jugendlichen zur Herkunftsfamilie gefördert wird. Ferner
ist bei der Vollzeitpflege grundsätzlich davon auszugehen, dass das Kind nach einer
kürzeren oder längeren Verweildauer außerhalb des Elternhauses in dieses wieder
zurückkehren soll.
100
Vgl. Krug u.a., Kinder- und Jugendhilfe, Kommentar a.a.O. zu § 33 SGB VIII Anm. II 2.
101
Die Fremdunterbringung bei Erziehungs- und Lebensschwierigkeiten bedeutet
regelmäßig einen schwerwiegenden Eingriff in das Leben von Kindern und
Heranwachsenden, weil sie sich in ein völlig neues soziales Bezugsfeld einleben
müssen. Aus diesem Grund gilt die Unterbringung außerhalb des Elternhauses im
Spektrum der sonstigen Jugendhilfe-leistungen als nachrangig etwa gegenüber
anderen weniger schwer in das Leben des Kindes eingreifenden Maßnahmen, so z.B.
Tagespflege oder qualifizierte ambulante Erziehungshilfe.
102
Vgl. Krug u.a., Kinder- und Jugendhilfe, Kommentar a.a.O. zu § 33 SGB VIII, Anm. II 1..
103
Hierzu heißt es in der Begründung des Gesetzentwurfes ( BT- Drs. 11/5948, S. 71 f.) :
104
"Durch den verstärkten Ausbau qualifizierter ambulanter Erziehungshilfen, wie der
sozialpädagogischen Familienhilfe, wird, wie sich in Untersuchungen gezeigt hat, ein
immer größerer Teil früherer Unterbringungen in Dauerpflege substituiert. Für eine
Unterbringung von Kindern und Jugendlichen außerhalb der eigenen Familie kommen
daher zunehmend solche Kinder und Jugendliche in Betracht, die nicht mehr über
familienunterstützende Hilfen erreicht werden können."
105
Diese Voraussetzungen für die Aufnahme und Zielsetzung einer Vollzeitpflege in Form
der hier praktizierten Maßnahme lagen zu keiner Zeit aus jugendhilferechtlicher Sicht
vor.
106
Dass die Maßnahme ungeeignet war, hätte sich dem Beklagten schon auf Grund des
Beschlüsse des Amtsgerichtes S vom 00. und 00. Dezember 1996 erschließen müssen.
Dort hat das Amtsgericht in einer nicht zur übersendenden Deutlichkeit die erforderliche
Maßnahme aufgezeigt, nämlich die gemeinsame Unterbringung aller 5 !! Kinder.
107
Selbst wenn die Unterbringung nicht aller Kinder in einer Einrichtung möglich gewesen
wäre, so zeigte doch die Anfangs erfolgte Unterbringung in zwei Heimen, dass die
Kinder nach den Berichten dieser Einrichtungen dort zu zweit und zu dritt mit anderen
Kindern gut untergebracht waren und sich auch positiv entwickelten.
108
Das die Unterbringung bei drei verschiedenen kinderlosen adoptionswilligen
Ehepaaren in Vollzeitpflege ungeeignet war ergibt sich schon aus den ebenfalls
deutlichen Ausführungen des Amtsgerichts S in den Beschlüssen vom 00. Januar 2001,
als es dort heißt:
109
"... Hinzu kamen erhebliche Fehler anderer Beteiligter, die sich selbst einem Laien
aufdrängen: So wurden die Kinder vom Jugendamt in S offensichtlich ohne Beteiligung
oder gar Information der leiblichen Eltern in die Pflegefamilien vermittelt. Sie waren
somit um die Chance gebracht, Einfluss auf die Unterbringungs- oder Pflegestelle zu
nehmen. Dies war zu einem Zeitpunkt, als die Eheleute K die ersten Schritte zur
Überwindung ihrer Alkoholproblematik machten und es dem Jugendamt bekannt war,
dass die leiblichen Eltern durch Einschaltung eines Anwalts bei Gericht einen
Umgangsantrag gestellt hatten.
110
Weiterhin wurden die Geschwister auseinander gerissen und in verschiedene
Pflegestellen gegeben. Zwei der Drei jüngeren Kinder wachsen nun als Einzelkinder
auf, ohne nennenswerte Bindungen an ihre Geschwister. Schließlich hat man die Kinder
an Paare vermittelt, die gerne ein Kind adoptiert hätten. So haben die Beteiligten zu 3.
dem Gutachter berichtet, dass der Mitarbeiter des vom Jugendamt eingeschalteten
Pflegekinderdienstes anfangs von Adoption gesprochen habe. Es ist der Verdacht nicht
von der Hand zu weisen, dass die Pflegeeltern mit der Erwartung gewonnen wurden, sie
könnten die ihnen anvertrauten Pflegekinder adoptieren. Dass solche Paare, die in der
Regel ihre eigene Frustrationsgeschichte wegen nicht erfülltem Kinderwunsch hinter
sich haben, andere und tiefere Bindungen den Pflegekindern gegenüber entwickeln,
liegt auf der Hand. Solche Pflegeeltern werden wenig geneigt sein, ihre Pflegekinder
zurückzugeben, insbesondere, wenn sie dann wieder zu einem kinderlosen Ehepaar
werden, einem Status, den sie vorher mit viel Mühe hinter sich gebracht haben. Wie
problemlos die Rückkehr aus einem Heim oder Kinderhaus sein kann, zeigt das
Beispiel der beiden ältesten Kinder der Beteiligten zu 1."
111
Dieser Einschätzung, die allerdings beim Amtsgericht nicht zu weiteren Einsichten
geführt hat, schließt sich das erkennende Gericht an. Es gab seinerzeit - im Frühjahr
1997 -, nur drei Monate nach Beginn der Therapie der Eltern, keinerlei Veranlassung,
davon auszugehen, dass eine Dauerpflege erforderlich werden würde. Auf Grund der
deutlichen Hinweise auch des Amtsgerichts dürfte eine Unterbringung in einer
adoptionswilligen Pflegefamilie noch nicht in Betracht gezogen werden. Offensichtlich
fehlte sowohl dem Vormund, wenn er sich denn überhaupt damit nach dem oben
Dargestellten beschäftigt haben sollte, als auch den mit der Leistungsgewährung
betrauten Bediensteten des Beklagten jedes Verständnis für die Geeignetheit und
Erforderlichkeit der konkreten Maßnahme. Insoweit hat das Amtsgericht wie oben
wiedergegeben zutreffend ausgeführt, dass sich die Ungeeignetheit selbst dem Laien
aufgedrängt hätte.
112
Ferner macht schon der Verlauf der Verfahren um das Sorgerecht, das Umgangsrecht
sowie die Verbleibensanordnung in den letzten 5 Jahren offenkundig, dass die
Pflegeeltern völlig ungeeignet waren und bis heute sind, in diesem Sinne tätig zu
werden. Es spricht nahezu alles dafür, dass sie bewusst und gewollt versuchten, das
ihnen jeweils überlassene Kind der Herkunftsfamilie der Klägerin ständig mehr zu
entfremden. Anders ist es jedenfalls nicht zu erklären, dass es selbst für die Frage des
Umgangsrechts einer gerichtlichen Regelung bedürfte, wie es sonst nur zwischen
verfeindeten Eheleuten anlässlich von Scheidungen der Fall ist und eine
einvernehmliche Regelung ausweislich der amtsgerichtlichen Beschlüsse nicht an der
Mitwirkung der leiblichen Eltern scheiterte.
113
Dieses Verhalten auch noch durch Bewilligung von Hilfe zur Erziehung in Form der
Vollzeitpflege zu honorieren, ist mit den gesetzlichen Vorgaben an Hilfen nach dem
SGB VIII nicht mehr vereinbar.
114
Die "Hilfe" führte und führt jedenfalls für K3 und K2 zu einem Lebensschicksal, wie es
schlimmer kaum sein kann und mit der Zielsetzung des SGB VIII unvereinbar ist.
115
Dies zeigen auch die Ausführungen des Oberlandesgericht E1 in seinem Beschluss
vom 00. August 2003 zu K2:
116
"... Aller Voraussicht nach wird gegebenenfalls durch ein Sachverständigengutachten
die Frage zu klären sein, ob das Kind K2 unter Berücksichtigung der bestehenden
Bindungen zu den Pflegeeltern, den leiblichen Eltern und seinen Geschwistern ohne
Gefährdung des Kindeswohls in den elterlichen Haushalt zurückkehren kann. Vor
diesem Hintergrund erscheint es mit dem Wohl des Kindes nicht vereinbar, bereits jetzt
einen Zustand zu schaffen, der der Rückführung des Kindes in den elterlichen Haushalt
zumindest gleich kommt. Wie sich insbesondere der aktuellen Stellungnahme der
Verfahrenspflegerin vom 06.08.2003 mit Deutlichkeit entnehmen lässt ist K2 derzeit aufs
Äußerste verwirrt und zwischen Eltern, Pflegeeltern und den übrigen Beteiligten hin und
her gerissen. Seinen Äußerungen gegenüber der Verfahrenspflegerin ist zu entnehmen,
dass er sich in einem übergroßen Loyalitätskonflikt zwischen den Pflegeeltern einerseits
und den leiblichen Eltern andererseits befindet. In dieser Situation ist es nicht mit dem
Wohl des Kindes vereinbar, ihn bereits jetzt in der Herkunftsfamilie zu belassen. ..."
117
Die erkennende Kammer fragt sich allerdings vor diesem Hintergrund, wie lange die
Kinder durch entsprechende "Sorgerechtsverfahren" in der Situation der "Verwirrtheit"
118
zum Wohl des Kindes noch gehalten werden sollen.
Mangels einer rechtmäßigen "Hilfegewährung" liegen schon die Voraussetzungen für
die Geltendmachung eines Kostenbeitrags nicht vor, sodass es keiner weiteren
Erörterung bedarf, ob der Einsatz des Hausgrundstücks verlangt werden kann.
119
Ferner ist die Heranziehung im Hinblick auf die unbefristete Geltendmachung
hinsichtlich Maureen auch für die Zeit ab der Rückkehr in die Herkunftsfamilie
rechtswidrig. Der Beklagte hat hier nach Aktenlage nur Aufhebungsbescheide
gegenüber den Pflegeeltern erlassen.
120
Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1 188 Satz 2 VwGO.
121
Die Entscheidung über Notwendigkeit der Zuziehung eines Bevollmächtigten für das
Vorverfahren folgt aus § 162 Abs. 2 Satz 2 VwGO. Die anwaltliche Vertretung der
rechtsunkundigen Klägerin war angesichts des Umfangs und der Komplexität der Sache
offenkundig erforderlich.
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Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich § 167 VwGO, § 709
ZPO.
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