Urteil des VG Düsseldorf vom 15.06.2005

VG Düsseldorf: örtliche zuständigkeit, wohl des kindes, aufenthalt, jugendhilfe, elterliche sorge, geschwister, haushalt, wechsel, sorgerecht, form

Verwaltungsgericht Düsseldorf, 19 K 3405/03
Datum:
15.06.2005
Gericht:
Verwaltungsgericht Düsseldorf
Spruchkörper:
19. Kammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
19 K 3405/03
Tenor:
Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger im Jugendhilfefall der
Geschwister L für die Zeit vom 1. Juli 2001 bis zum 30. April 2003
Kosten in Höhe von 6.842,95 Euro nebst Zinsen in Höhe von 5
Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 20. Mai 2003 sowie für
die Zeit vom 1. Mai 2003 bis zum 31. Mai 2005 Kosten in Höhe von
14.747,37 Euro nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem
Basiszinssatz seit dem 7. Mai 2005 zu erstatten. Im Übrigen wird die
Klage abgewiesen.
Die Kosten des Verfahren tragen der Kläger zu 2/5 und die Beklagte zu
3/5.
Das Urteil ist für den Kläger gegen Sicherheitsleistung in Höhe von
110% des beizutreibenden Betrages vorläufig vollstreckbar.
Tatbestand:
1
Der Kläger und die Beklagte streiten um die Übernahme der vom Kläger im Zeitraum
vom 1. Juli 2001 bis 31. Mai 2005 aufgewendeten Kosten im Jugendhilfefall der
Schwestern L1, geb. 00.00.1984, L2, geb. 00.0.1988, und L3, geb. 0.0.1991.
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Nach der Scheidung der Eltern lebten L1, L2 und L3 (im folgenden: L1, L2 und L3) bei
ihrer Mutter in O, Kreis W, die auch das alleinige Sorgerecht inne hatte (Urteil des
Amtsgerichts F vom 29. November 1996). Im Juli 1997 wurde L1 im Haushalt ihrer
Großeltern in X, einer Gemeinde im Kreisgebiet des Klägers, erstmals aufgenommen,
kehrte aber im Juni 1999 in den Haushalt der Mutter zurück. Am 18. Oktober 1999
wechselte L1 erneut zu den Großeltern, wohin ihr am 28. Januar 2000 L2 und L3 folgten.
Nachdem die Schwestern im Jahr 2000 zunächst Sozialhilfe bezogen hatten, beantragte
ihre Mutter unter dem 4. Januar 2001 beim Kreisjugendamt W die Gewährung von Hilfe
zur Erziehung in Form der Unterbringung der Töchter bei den Großeltern. In der
Annahme, der Kläger sei für die Gewährung von Jugendhilfeleistungen zuständig,
übersandte der Landrat des Kreises W diesen Antrag unter dem 16. Januar 2001 dem
3
Kläger mit der Bitte um Übernahme des Jugendhilfefalls. Mit Schreiben vom 30. März
2001 verneinte der Kläger gegenüber dem Landrat des Kreises W seine Zuständigkeit,
erklärte jedoch, die Fallbearbeitung nach § 86d SGB VIII übernehmen zu wollen. Mit
Bescheid vom 27. Juni 2001 bewilligte der Kläger der Mutter rückwirkend zum 4. Januar
2001 Hilfe zur Erziehung in Form der Vollzeitpflege gemäß §§ 27 und 33 SGB VIII für
L1, L2 und L3. Am 1. Juli 2001 zog die Mutter der Geschwister L nach N um. Zum
gleichen Zeitpunkt verzog L1 nach G, wo sie in der Wohnung ihres Onkels ein Zimmer
angemietet hatte, um ab 6. August 2001 in der kaufmännischen U-Schule in P die
Fachoberschule (11. Schuljahr) zu besuchen. Der Kläger zahlte aufgrund der
Bewilligung ein monatliches Pflegegeld in Höhe von (Stand 1. Juli 2001) 1290,00 DM
für L1 und jeweils 438,75 DM für L2 und L3. Das Pflegegeld für L1 umfasste neben dem
notwendigen Lebensunterhalt auch die Unterkunftskosten in G sowie die Kosten von
vier "Heimfahrten" nach X pro Monat. Er gewährte daneben mit Schreiben vom 19. Juli
2001 an die Großeltern für L1 zwei Beihilfen für Einrichtung (415,00 DM) und
Berufsbekleidung (200,00 DM). Zum 30. November 2001 kehrte L2 in den Haushalt ihrer
Mutter zurück; aus diesem Grund stellte der Kläger mit Bescheid vom 20. Dezember
2001 die Hilfe zur Erziehung für L2 zum Ende des Monats November 2001 ein. L1 brach
die Schule im September 2002 ab und begann am 1. November 2002 eine Ausbildung
zur Hotelkauffrau, welche sie jedoch schon vor dem Jahreswechsel 2002/2003 aufgab.
Sie stellte einen Antrag auf Hilfe zur Erziehung für junge Volljährige. Nach weiteren
Hilfeplangesprächen Anfang des Jahres 2003 bewilligte der Kläger ihr mit Bescheid
vom 23. April 2003 ab dem 22. November 2002 Hilfe für junge Volljährige nach § 41
SGB VIII in Gestalt der Vollzeitpflege im Haushalt der Großeltern. Etwa zum
Jahreswechsel 2002/2003 war L1 bereits bei ihrem Onkel ausgezogen und wohnte -
jedenfalls ab 1. Februar 2003 in 00000 N1. Ab 1. Februar 2003 war sie bei Firma H
teilzeitbeschäftigt. Mit Bescheid vom 4. Dezember 2003 stellte der Kläger die Hilfe für
junge Volljährige zum 31. Dezember 2003 ein. L3 lebte bis zum 31. Mai 2005 nach wie
vor im Haushalt ihrer Großeltern; bereits mit Beschluss des Amtsgerichts F vom 1. Juli
2003 war der Mutter die elterliche Sorge für L3 entzogen und dem Jugendamt des
Klägers übertragen worden.
Mit Schreiben vom 15. Januar 2002 forderte der Kläger den Beklagten auf, seine
Kostenerstattungspflicht im Hinblick auf die Schwestern L ab dem 1. Juli 2001
anzuerkennen. Nachdem die Beteiligten unter sich die Fragen der
Sorgerechtsinhaberschaft sowie den Zeitpunkt des Umzugs der Mutter geklärt hatten,
lehnte der Beklagte mit Schreiben vom 3. Februar 2003 eine Kostenerstattung endgültig
ab. Zur Begründung führte er aus, die Hilfe zur Erziehung sei bereits nicht erforderlich
gewesen, weil die Geschwister L im Zeitpunkt der Antragstellung durch die Mutter
bereits seit einem Jahr von den Großeltern betreut worden waren. Zudem sei das
gewährte Pflegegeld rechtswidrig, weil es lediglich den Lebensunterhalt der Kinder,
nicht jedoch die Kosten der Erziehung umfasse, wie dies § 39 Abs. 1 Satz2 SGB VIII
fordere. Schließlich bestünden auch Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Hilfe für L1, da
wegen der Unterbringung beim Onkel eine Vollzeitpflege bei den Großeltern nicht mehr
angenommen werden könne.
4
Der Kläger hat am 20. Mai 2003 Klage erhoben. Er ist der Auffassung, die Hilfe zur
Erziehung sei erforderlich gewesen. Dies ergebe sich aus der Hilfeplanung. Dass das
gezahlte Pflegegeld niedriger sei als im Runderlass des Ministeriums für Frauen,
Jugend, Familie und Gesundheit NRW vorgesehen, führe nicht dazu, dass auch diese
niedrigere Zahlung rechtswidrig werde. Im Hinblick auf die Hilfe für L1 trägt er vor, es
müsse eine Vollzeitpflege auch bei auswärtiger Ausbildung eines Jugendlichen möglich
5
sein. Im Fall von L1 sei es besonders nötig gewesen, den Kontakt zu den Pflegeeltern
zu erhalten und diese Bindung an die "Ersatzfamilie" durch Anerkennung der Großeltern
als Pflegeeltern zu unterstützen.
Der Kläger beantragt,
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1. die Beklagte zu verurteilen, im Jugendhilfefall der Geschwister L für die Zeit vom 1.
Juli 2001 bis 30. April 2003 Kosten in Höhe von 21.393,22 Euro nebst Zinsen in Höhe
von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 20. Mai 2003 zu erstatten,
7
2.
8
3. die Beklagte zu verurteilen, im Jugendhilfefall der Geschwister L für die Zeit vom 1.
Mai 2003 bis 31. Mai 2005 Kosten in Höhe von 14.997,86 Euro nebst Zinsen in Höhe
von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 7. Mai 2005 zu erstatten.
9
4.
10
Die Beklagte beantragt,
11
die Klage abzuweisen.
12
Unter Ergänzung ihrer bisherigen Einwände macht sie geltend, ein Anspruch auf
Pflegegeld habe nicht bestanden, weil die Großeltern durch die Aufnahme der Kinder
bereits im Jahr 2000 gezeigt gehabt hätten, dass sie zur unentgeltlichen Pflege bereit
gewesen seien. Dies könne von den Großeltern aufgrund ihrer engen familiären
Verbundenheit mit den Enkeln auch regelmäßig erwartet werden. Sollten die Großeltern
den Lebensunterhalt der Kinder nicht aus eigenen Mitteln sicherstellen können, bestehe
ein Anspruch auf Hilfe nach dem BSHG.
13
Wegen der weiteren Einzelheiten das Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der
Gerichtsakte sowie der beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Klägers und der
Beklagten Bezug genommen.
14
Entscheidungsgründe:
15
Die Klage ist zulässig, jedoch nur teilweise begründet.
16
Der Kläger hat gegen den Beklagten Anspruch auf Erstattung der Kosten im
Jugendhilfefall der Geschwister L für den Zeitraum vom 1. Juli 2001 bis 30. April 2003 in
Höhe von 6.842,95 EUR und für den Zeitraum vom 1. Mai 2003 bis 31. Mai 2005 in
Höhe von 14.997,86 EUR gemäß § 89c Abs. 1 Satz 2 - für die Zeit bis 27. Januar 2001 -
und gemäß § 89a Abs. 1 - für die Zeit ab 28. Januar 200 - des Sozialgesetzbuch (SGB)
Achtes Buch (VIII) - Kinder- und Jugendhilfe -. Der Anspruch umfasst die für L3 und L2
angefallenen Aufwendungen, nicht jedoch diejenigen für L1.
17
Nach § 89c Abs. 1 Satz 2 SGB VIII sind die Kosten, die ein örtlicher Träger im Rahmen
seiner Verpflichtung nach § 86d SGB VIII aufgewendet hat, von dem örtlichen Träger zu
erstatten, dessen Zuständigkeit durch den gewöhnlichen Aufenthalt nach §§ 86, 86a
und 86b SGB VIII begründet wird. Nach § 89a Abs. 1 SGB VIII sind die Kosten, die ein
örtlicher Träger aufgrund einer Zuständigkeit nach § 86 Abs. 6 SGB VIII aufgewendet
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hat, von dem örtlichen Träger zu erstatten, der zuvor zuständig war oder gewesen wäre.
Aufgewendete Kosten sind gemäß § 89f Abs. 1 SGB VIII jedoch nur zu erstatten, soweit
die Erfüllung der Aufgaben den Vorschriften des SGB VIII entspricht.
Diese Voraussetzungen sind nur im Hinblick auf die für L2 und L3 geleistete Jugendhilfe
erfüllt. Die für L1 erbrachte Hilfe entsprach nicht den Vorschriften des SGB VIII.
19
Hinsichtlich der Schwestern L2 und L3 beruht - für den Zeitraum bis 27. Januar 2001 -
der Erstattungsanspruch dem Grunde nach zunächst auf § 89c Abs. 1 Satz 2 SGB VIII.
Der Kläger hat in dem genannten Zeitraum die Leistungen nach § 86d SGB VIII
erbracht. Aufgrund der zu Beginn des Hilfefalls bestehenden Unklarheit über die Frage,
ob der Mutter die Personensorge allein oder gemeinsam mit ihrem geschiedenen Mann
zustehe, stand die örtliche Zuständigkeit nach § 86 SGB VIII nicht fest.
Dementsprechend war der Kläger vorläufig zum Tätigwerden verpflichtet, da sich die
Geschwister L vor Beginn der Leistungen bereits in X bei den Großeltern und damit im
Bereich des Klägers aufgehalten hatten. Die Beklagte ist der nach § 89c Abs. 1 Satz 2
SGB VIII zur Kostenerstattung verpflichtete örtliche Träger. Mit dem Umzug der Mutter
nach N zum 1. Juli 2001 ist der Beklagte gemäß § 86 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII zuständig
geworden, weil die Mutter in diesem Zeitpunkt das alleinige Personensorgerecht inne
hatte.
20
Grundlage für den Anspruch des Klägers ab dem 28. Januar 2002 für die für L3
erbrachten Leistungen ist demgegenüber § 89a Abs. 1 SGB VIII. Der Kläger war ab dem
genannten Zeitpunkt nach § 86 Abs. 6 SGB VIII für die Hilfegewährung für L3 zuständig.
Denn L3 lebte zu diesem Zeitpunkt zwei Jahre bei den Großeltern als Pflegepersonen.
Dass es sich bei den Großeltern um Pflegepersonen handelt steht außer Frage.
Pflegeperson im Sinne von § 86 Abs. 6 SGB VIII ist die Person, die ein Kind außerhalb
des Elternhauses in ihrer Familie regelmäßig betreut oder ihm Unterkunft gewährt.
Gleichgültig ist dabei, ob eine Pflegeerlaubnis notwendig war oder erteilt wurde und auf
welcher Rechtsgrundlage der Aufenthalt des Kindes bei der Pflegeperson beruht.
21
Vgl. Kunkel in: Kinder- und Jugendhilfe, Lehr- und Praxiskommentar (LPK), 2. Auflage
2003, § 86 Rdnr. 49; Wiesner, in: Wiesner/Mörsberger/Oberloskamp/Struck, SGB VIII,
Kinder- und Jugendhilfe, 2. Auflage 2000, § 86 Rdnr. 35.
22
Angesichts des Umstandes, dass die leiblichen Eltern zur Betreuung und Erziehung von
L3 nicht zur Verfügung standen bzw. nicht zur Verfügung stehen wollten, musste L3
außerhalb der Haushalte ihrer Eltern regelmäßig durch ihre Großeltern betreut werden
und dort Unterkunft erhalten.
23
Ihr Verbleib bei ihren Großeltern war auch bei Beantragung der Jugendhilfeleistung auf
Dauer im Sinne von § 86 Abs. 6 SGB VIII zu erwarten. Bei dieser Formulierung, die eine
Prognose erfordert, handelt es sich um einen unbestimmten Rechtsbegriff, dessen
Anwendung der vollen gerichtlichen Überprüfung unterliegt. Dabei ist ein schriftlich
fixierter Hilfeplan oder dessen Fortschreibung keine notwendige Voraussetzung, um die
Prognoseentscheidung treffen zu können.
24
Vgl. Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen (OVG NRW), Urteil vom
5. Dezember 2001 - 12 A 4215/00 -, FEVS 54, 21 ff.
25
Im vorliegenden Fall sind keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass der Aufenthalt des
26
Kindes bei seinen Großeltern nicht auf Dauer angelegt gewesen sein könnte. L3 befand
sich seit Januar 2000 durchgängig bei ihren Großeltern und lebt noch heute dort.
Ohne die Regelung des § 86 Abs. 6 SGB VIII wäre die Beklagte auch für den Zeitraum
vom 28. Januar 2001 bis 31. Mai 2005 zuständig gewesen. Wie bereits dargelegt, war
der Beklagte seit dem 1. Juli 2001 nach § 86 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII für die Gewährung
von Jugendhilfe zuständig und wäre ohne die Regelung des § 86 Abs. 6 SGB VIII auch
über den 27. Januar 2001 hinaus zuständig gewesen. Denn die Mutter von L3 lebte im
gesamten streitgegenständlichen Zeitraum im Bereich des Beklagten.
27
Die Kostenerstattungspflicht endete auch nicht deshalb vorher, weil der Mutter mit
Beschluss des Amtsgerichts F vom 1. Juli 2003 das Sorgerecht für L2 und L3 entzogen
worden ist. Nach § 89a Abs. 3 SGB VIII wird zwar der örtliche Träger
kostenerstattungspflichtig, der ohne Anwendung des § 86 Abs. 6 örtlich zuständig
geworden wäre, wenn sich während der Gewährung der Leistung nach Absatz 1 der für
die örtliche Zuständigkeit nach § 86 Abs. 1 bis 5 maßgebliche gewöhnliche Aufenthalt
ändert. Diese Voraussetzungen liegen jedoch nicht vor. Aus der Formulierung des
Gesetzes ergibt sich, dass ein Wechsel in der Person des kostenerstattungspflichtigen
Trägers nur dann stattfinden soll, wenn sich derjenige Aufenthalt ändert, der für die
Bestimmung der örtlichen Zuständigkeit maßgeblich ist. Im vorliegenden Fall hat sich
jedoch kein Aufenthalt geändert. Allein der Verlust des Sorgerechts auf Seiten der zuvor
allein sorgeberechtigten Mutter - zugunsten des Kreisjugendamtes des Klägers - führt
nicht zu einem Zuständigkeitswechsel nach § 86 Abs. 1 bis 5 SGB VIII.
28
So Sächsisches OVG, Urteil vom 4. Oktober 2004 - 5 B 770/03 -, FEVS 56, 107 ff.;
Wiesner, in: Wiesner u.a., a.a.O, § 86 Rdnr. 32a; Kunkel, a.a.O., § 86 Rdnr. 42;
Mrozynski, SGB VIII - Kinder- und Jugendhilfe, 4. Auflage 2004, § 86 Rdnr. 5.
29
Die Frage, welche Folgen ein Wechsel in der Personensorge während der laufenden
Gewährung von Jugendhilfe hat, ist im Gesetz nicht ausdrücklich geregelt. Soweit § 86
Abs. 5 SGB VIII Rechtsfolgen für Änderungen nach Beginn der Leistungen festlegt,
erfasst er nur Fälle der Begründung verschiedener gewöhnlicher Aufenthalte durch die
Eltern. Die Unerheblichkeit des Verlusts des Personensorgerechts lässt sich jedoch der
Systematik des Gesetzes entnehmen. Zunächst knüpfen die Zuständigkeitsregelungen
in § 86 Abs. 1 SGB VIII vorrangig an den (gemeinsamen) Aufenthaltsort der Eltern an.
Nur im Falle verschiedener Aufenthaltsorte wird das Kriterium des Personensorgerechts
zur Lösung der Konkurrenz zwischen den Trägern der beiden Aufenthaltsorte
herangezogen. Ermöglicht das Kriterium des Sorgerechts keine Lösung, weil - bei
unterschiedlichen Aufenthalten der Eltern - die Sorge gemeinsam (§ 86 Abs. 2 Satz 2-4
SGB VIII) oder von keinem Elternteil ausgeübt wird (§ 86 Abs. 3 SGB VIII), ist als
weiteres Hilfskriterium an den Aufenthalt des Kindes bzw. Jugendlichen anzuknüpfen.
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Stellt demnach der gewöhnliche Aufenthaltsort der Eltern, des überlebenden oder des
sorgeberechtigten Elternteils das zunächst ausschlaggebende Kriterium dar, wechselt -
vorbehaltlich der Regelungen des § 86 Abs. 5 SGB VIII - die örtliche Zuständigkeit,
wenn die Eltern, bzw. im Falle des Getrenntlebens der maßgebliche Elternteil, während
der Hilfedauer den gewöhnlichen Aufenthalt wechseln bzw. wechselt. Damit soll der
enge Kontakt zwischen den Eltern und dem verantwortlichen Jugendamt gewährleistet
werden.
31
So OVG Schleswig-Holstein, Urteil vom 28. März 2001 - 2 L 68/01 -, FEVS 53, 25 ff.;
32
Wiesner, a.a.O., § 86 Rdnr. 8; Kunkel, a.a.O., § 86 Rdnr. 42; Mrozynski, a.a.O., § 86
Rdnr. 4
Der Sinn und Zweck der dynamischen Zuständigkeit - Nähe zu den Eltern bzw. dem
Personensorgeberechtigten - kann in dem Fall, dass dem Elternteil, an dessen
Aufenthalt nach § 86 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII bei Beginn der Leistung angeknüpft worden
war, die Personensorge entzogen und nicht dem anderen Elternteil übertragen wird,
aber nicht erfüllt werden. Es gibt demnach keinen Grund, im Falle des Wegfalls des
Sorgerechts auf Seiten der Eltern einen Wechsel in der Zuständigkeit anzunehmen.
Soweit § 86 Abs. 3 SGB VIII bei verschiedenen gewöhnlichen Aufenthalten der Eltern
ohne Personensorgerecht eines Elternteils eine Zuständigkeitsregel schafft, dient diese
- quasi hilfsweise - nur der erstmaligen Bestimmung eines örtlich zuständigen Trägers
bei Hilfebeginn.
33
Für dieses Ergebnis spricht auch die Regelung des § 86 Abs. 5 Satz 2 SGB VIII. Auch
wenn Eltern von Beginn an kein Sorgerecht hatten, aber gemeinsamen Aufenthalt (§ 86
Abs. 1 Satz 1 SGB VIII), sie später aber verschiedene gewöhnliche Aufenthalte
begründen, bleibt die bisherige Zuständigkeit nach § 86 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII
bestehen, § 86 Abs. 5 Satz 2 SGB VIII. Sie wird also nicht nach § 86 Abs. 3 SGB VIII
anknüpfend an den Aufenthalt des Kindes vor Beginn der Leistung nunmehr neu
bestimmt, obwohl dessen tatbestandliche Voraussetzungen nachträglich, das heißt
nach Beginn der Maßnahme erfüllt sind.
34
Ob anderes in dem Falle gälte, dass bei Getrenntleben das Sorgerecht von dem einen
Elternteil auf den anderen übertragen würde, bedarf hier keiner Klärung.
35
Vgl. auch OVG Schleswig-Holstein, a.a.O.: Zuständigkeit bestimmt sich nach § 86 Abs.
1 Satz 3 SGB VIII, wenn im Falle des § 86 Abs. 3 SGB VIII ein Elternteil verstirbt.
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Kann der Kläger demnach sein Begehren auf §§ 89c Abs. 1 Satz 2, 89a Abs. 1 SGB VIII
stützen, kommt gemäß § 89f Abs.1 SGB VIII eine Kostenerstattung nur für rechtmäßig
erbrachte Hilfe in Betracht.
37
Vgl. OVG NRW, Urteil vom 12. September 2002 - 12 A 4352/01-; Wiesner, a.a.O., § 89 f
Rdnr. 3
38
Ob die jugendhilferechtliche Maßnahme rechtmäßig war, unterliegt im Erstattungsstreit
grundsätzlich der uneingeschränkten gerichtlichen Kontrolle.
39
Vgl. OVG NRW, Urteil vom 12. September 2002 - 12 A 4352/01-; Wiesner, a.a.O., § 89 f
Rdnr. 3
40
Entgegen der Ansicht des Beklagten war die Hilfegewährung im Sinne von §§ 27, 33,
39 SGB VIII für L2 und L3 rechtmäßig.
41
Die Voraussetzungen für die Gewährung von Hilfe zur Erziehung in Form der
Vollzeitpflege einschließlich wirtschaftlicher Hilfe für L2 und L3 lagen vor. Nach § 27
Abs. 1 SGB VIII hat ein Personensorgeberechtigter bei der Erziehung eines Kindes
Anspruch auf Hilfe zur Erziehung, wenn eine dem Wohl des Kindes entsprechende
Erziehung nicht gewährleistet und die Hilfe für seine Entwicklung notwendig und
geeignet ist. Dass in diesem Sinne Hilfe zur Erziehung für L2 und L3 notwendig war, ist
42
zwischen den Beteiligten unstreitig. Die Kindesmutter war als
Personensorgeberechtigte offensichtlich nicht in der Lage, die Erziehung der Kinder
sicherzustellen. Gleiches galt für den Kindesvater.
Die Notwendigkeit der Hilfe einschließlich der Annexleistungen nach § 39 SGB VIII ist
nicht dadurch entfallen, dass L2 und L3 sich bereits seit Anfang des Jahres 2000 bei
den Großeltern befanden. Zwar kann die erforderliche Betreuung und Erziehung
minderjähriger Kinder auch ohne öffentliche Jugendhilfe, z.B. durch einen Vormund
oder einen Verwandten, geleistet werden. Deckt ein Verwandter im Einvernehmen mit
dem Personensorgeberechtigten den erzieherischen Bedarf des Kindes bzw.
Jugendlichen unentgeltlich, scheitert ein Anspruch auf öffentliche Jugendhilfe am
fehlenden Bedarf; Hilfe zur Erziehung ist nicht "notwendig" im Sinne des § 27 Abs. 1
SGB VIII.
43
BVerwG, Urteile vom 15. Dezember 1995 - 5 C 2.94 -, FEVS 47, 13 ff, vom 12.
September 1996 - 5 C 37.95 -, BVerwGE 102, 56 ff, und vom 12. September 1996 - 5 C
31.95 -, FEVS 47, 433 ff.
44
Eine derartige, unentgeltliche Bedarfsdeckung durch Verwandte, insbesondere
Großeltern, kann aber nur dann angenommen werden, wenn diese entweder die
Betreuung ihres Enkelkindes in Erfüllung ihrer Unterhaltspflicht leisten oder wenn sie
zur unentgeltlichen Pflege bereit sind.
45
BVerwG, Urteile vom 12. September 1996 - 5 C 31.95 -, a.a.O., und vom 4. September
1997 - 5 C 11.96 -, FEVS 48, 289 ff..
46
Die Großeltern von L2 und L3 haben die Pflege nicht in Erfüllung ihrer (Bar-
)Unterhaltspflicht erbracht. Eine Unterhaltspflicht der Großeltern nach §§ 1607 Abs. 1,
1606 BGB bestand - mangels Leistungsfähigkeit - nicht. Dies ergibt sich schon daraus,
dass für die Enkelkinder trotz des Aufenthalts im Haushalt der Großeltern vor der
Bewilligung von Jugendhilfeleistungen Hilfe zum Lebensunterhalt gewährt worden ist;
dieser Punkt ist letztlich zwischen den Beteiligten auch unstreitig. Die Großeltern waren
auch zur unentgeltlichen Pflege von L2 und L3 nicht bereit. Denn bei Großeltern, die -
wie hier - nach ihren wirtschaftlichen Verhältnissen zur Sicherstellung des notwendigen
Unterhalts ihrer Enkelkinder außerstande sind, ist zu vermuten, dass sie zur
unentgeltlichen Pflege nicht bereit sind.
47
So OVG NRW, Urteil vom 6. September 2004 - 12 A 3625/03 -, NVwZ-RR 2005, 336 ff.
m.w.N.
48
Diese Vermutung wird nicht allein dadurch erschüttert, dass die Großeltern hier erklärt
haben, es sei selbstverständlich, dass sie ihre Enkelinnen zu sich nähmen. Das
Verantwortungsgefühl und die innere Bindung zwischen Großeltern und Enkeln, die aus
solchen Äußerungen sprechen, sind Voraussetzungen für eine dem Kindeswohl
dienende Erziehung und schließen die Gewährung von Hilfe zu einer solchen
Erziehung nicht aus.
49
So OVG NRW, Urteil vom 6. September 2004, a.a.O.
50
Im Übrigen haben die Großeltern durch die Beantragung von Hilfe zum Lebensunterhalt
im Februar 2000 deutlich gemacht, dass sie nicht in der Lage sind, den Unterhalt und
51
damit auch die Erziehung der Enkelinnen aus eigenen Mitteln sicherzustellen.
Die vom Beklagten erbrachten Leistungen gemäß § 39 SGB VIII sind jedenfalls in der
Höhe, in der sie gezahlt worden sind, rechtmäßig. Da - wie bereits dargestellt -
Anspruch auf Hilfe zur Erziehung für L2 und L3 bestand, umfasste die Hilfe auch die
Sicherstellung des notwendigen Unterhalts von L2 und L3 sowie die Kosten der
Erziehung (§ 39 Abs. 1 Sätze 1 und 2 SGB VIII). Dass der Kläger die laufenden
Leistungen für den Unterhalt der Schwestern (§ 39 Abs. 4 SGB VIII) nicht an den durch
Runderlasse des Ministeriums für Frauen, Jugend, Familie und Gesundheit des Landes
Nordrhein-Westfalen nach § 39 Abs. 5 SGB VIII festgesetzten Beträgen orientiert,
52
vgl. etwa Erlass vom 22. August 2001, MBl.NRW. 2001 S. 1075,
53
sondern einen geringeren Betrag gewährte sowie daneben - für die Kosten der
Erziehung - einen Erziehungsbeitrag überhaupt nicht gezahlt hat, macht die gewährten
Leistungen nicht insgesamt rechtswidrig. Denn soweit Leistungen gewährt worden sind,
entsprachen sie dem Gesetz. Ob daneben ein Anspruch des
Personensorgeberechtigten auf einen höheren Pflegegeldbetrag bestand, berührt nicht
die Rechtmäßigkeit der nun im Wege der Erstattung geforderten Beträge; insoweit
stellen die vom Kläger gewährten Leistungen lediglich ein minus gegenüber den vom
Ministerium festgesetzten Pauschalbeträgen dar, nicht jedoch ein aliud. Die Vorschrift
des § 89f SGB VIII soll den erstattungspflichtigen Leistungsträger vor der Erstattung von
nach dem Gesetz nicht veranlassten oder überhöhten Leistungen schützen, nicht jedoch
davor, dass gegebenenfalls rechtswidrig zu wenig gewährt wurde.
54
Die Klage im Übrigen ist unbegründet.
55
Ein Anspruch auf Erstattung der für L1 erbrachten Jugendhilfeleistungen besteht nicht.
Dabei kann offen bleiben, ob ein solcher Anspruch nur auf § 89c Abs. 1 Satz 2 SGB VIII
oder auch auf § 89a Abs. 1 SGB VIII beruhen könnte. Denn die Gewährung von Hilfe zur
Erziehung in Form der Vollzeitpflege (§ 33 SGB VIII) für L1 war im gesamten Zeitraum
nicht rechtmäßig.
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Unter Vollzeitpflege versteht man die Unterbringung des Kindes oder Jugendlichen
"über Tag und Nacht" in einer Pflegefamilie.
57
Wiesner, in: Wiesner u.a. a.a.O., § 33 Rdnr. 19; Jans/Happe/Saurbier, Kinder- und
Jugendhilferecht, Erl. § 33 Rdnr. 16a; Salgo, in: Gemeinschaftskommentar zum SGB VIII
(GK-SGB VIII), Stand Nov. 2003, § 33 Rdnr. 29.
58
Diese Voraussetzungen lagen im Falle L1s ab 1. Juli 2001 nicht (mehr) vor. Denn sie
hat zu diesem Zeitpunkt durch den Umzug nach G und den Beginn der Schulausbildung
dort ihren Lebensmittelpunkt nach G verlegt. Dem entsprechend hatte der Kläger intern
zunächst auch einen Wechsel der Hilfeform befürwortet (vgl. Vermerke vom 5. Juni
2001, Bl. 19 Beiakte Heft 4, sowie vom 29. Juni 2001, Bl. 22 Beiakte Heft 4). Auch die
Tatsache, dass der Onkel in die Hilfe für L1 im Sinne der Reklamation einer
Erziehungsverantwortung (vgl. Vermerk vom 6. Juli 2001, Bl. 33 Beiakte Heft 4)
eingebunden wurde, lässt nur den Schluss zu, dass eine Vollzeitpflege durch die
Großeltern ab diesem Zeitpunkt nicht mehr stattgefunden hat. Hierzu passt, dass die
Jugendliche selbst, die im Zeitpunkt des Umzugs etwa 16 ½ Jahre alt war, nachträglich
angegeben hat, dass sich durch ihren Auszug bei den Großeltern einiges verändert
59
habe. So hat sie ausgeführt, man trage nun mehr Verantwortung und müsse vieles
selbst machen (vgl. Antrag auf Hilfe für junge Volljährige vom Herbst 2002, Bl. 90 ff.
Beiakte Heft 4). Hinzu kommt, dass der Kläger zwar im Rahmen des Instituts der
Vollzeitpflege monatlich vier Wochenendheimfahrten von L1 durch Bewilligung
entsprechender Mittel ermöglichen wollte; ob diese regelmäßige und durchgehende
"Heimkehr" zu den Großeltern tatsächlich stattgefunden hat, lässt sich den Akten jedoch
nicht entnehmen, da weder L1 noch die Großeltern entgegen der Aufforderung durch
den Kläger im Schreiben vom 14. September 2001, Bl. 53 Beiakte Heft 1, die
Entstehung der Fahrtkosten im bewilligten Umfang nachgewiesen haben. Soweit der
Kläger sein Vorgehen damit gerechtfertigt hat, diese Hilfekonstruktion entspreche den
Interessen L1s, ist darauf zu verweisen, dass selbst das dem Anspruchsinhaber nach §
27 SGB VIII zustehende Wunsch- und Wahlrecht (§ 5 SGB VIII) sich nur auf geeignete
Hilfeformen erstreckt.
Mrozynski, a.a.O., § 5 Rdnr. 5; Wiesner, a.a.O., § 5 Rdnr. 10b;
60
Als Leistung in einer anderen Hilfeform mangelt es schon an einer solchen Bewilligung
bzw. Erwägungen des Klägers hierzu. Zudem ist eine solche andere Hilfe für die
Kammer nicht ersichtlich.
61
Hat der Kläger nach alledem Anspruch auf Erstattung der für L2 und L3, nicht aber der
für L1 getätigten Jugendhilfeaufwendungen, ergibt sich aufgrund der vom Kläger
vorgelegten Kostenaufstellungen für den Zeitraum vom 1. Juli 2001 bis 30. April 2003
ein Kostenerstattungsbetrag von 6842,95 Euro. Dieser folgt aus der Differenz zwischen
der begehrten Zahlung (21.393,22 EUR) und den für L1 in dem genannten Zeitraum
erbrachten Leistungen (14.550,27 EUR). Für die Zeit vom 1. Mai 2003 bis 31. Mai 2005
beläuft sich der Kostenerstattungsanspruch auf 14.747,37 EUR. Die für L3 in dem
genannten Zeitraum gewährten Leistungen betrugen 15.141,46 EUR; von diesem
Betrag war der für diesen Zeitraum vom Kindesvater vereinnahmte Unterhalt (788,19
EUR) nur zur Hälfte (349,09 EUR) abzusetzen, weil der Unterhalt gemäß Bescheid der
Bundesanstalt für Arbeit vom 12. März 2003, Bl. 30 Beiakte Heft 6, ausdrücklich für L1
und L3 bestimmt war.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1 VwGO; die Entscheidung zur
vorläufigen Vollstreckbarkeit folgt aus §§ 167 VwGO, 709 ZPO.
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