Urteil des VG Düsseldorf vom 01.12.2005

VG Düsseldorf: bundesamt für migration, gefahr, abschiebung, humanitäre hilfe, ausländer, afghanistan, leib, eltern, wahrscheinlichkeit, freiheit

Verwaltungsgericht Düsseldorf, 6 K 4160/05.A
Datum:
01.12.2005
Gericht:
Verwaltungsgericht Düsseldorf
Spruchkörper:
6. Kammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
6 K 4160/05.A
Tenor:
Die Klage wird auf Kosten der Klägerin abgewiesen.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar; die Klägerin darf
die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe
des beizutreibenden Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagte vor
der Vollstreckung in gleicher Höhe Sicherheit leistet.
Tatbestand:
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Die am 0.00.2003 in E geborene Klägerin ist afghanische Staatsangehörige
tadschikischer Volkszugehörigkeit. Sie ist die Tochter der Kläger zu 1. und 2. des
rechtskräftig abgeschlossenen Verfahrens 6 K 8197/03.A. Nach einer Mitteilung der
Ausländerbehörde der Stadt E vom 12. Juli 2005 mit der Bitte um Prüfung, ob ein
Asylverfahren für die Klägerin durchgeführt werde, sah das Bundesamt für Migration und
Flüchtlinge (Bundesamt) den Asylantrag der Klägerin als mit dem 12. Juli 2005 gestellt
an. Nach schriftlicher Anhörung der Eltern der Klägerin lehnte das Bundesamt mit
Bescheid vom 12. September 2005 den Antrag der Klägerin auf Anerkennung als
Asylberechtigte als offensichtlich unbegründet ab, stellte fest, dass die Voraussetzungen
des § 60 Abs. 1 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) offensichtlich und Abschiebungsverbote
nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG nicht vorliegen, forderte die Klägerin auf, das
Bundesgebiet zu verlassen, und drohte ihr die Abschiebung nach Afghanistan an.
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Hiergegen hat die Klägerin am 19. September 2005 Klage erhoben, mit der sie vorträgt,
sie sei im Fall einer Rückkehr nach Afghanistan gefährdet, weil heute an der Macht
befindliche Kommandanten ihr nach dem Leben trachteten wegen der politischen
Betätigung ihres Vaters als „Kommunist" und seiner Mitgliedschaft in der
Demokratischen Volkspartei Afghanistans (DVPA). Sie sei in ihrem Heimatland deshalb
der Blutrache ausgesetzt. Ihr Vater sei zudem als Polizeioffizier für das kommunistisch
verschrieene Regime tätig gewesen, so dass die gesamte Familie durch
Rachebestrebungen ehemaliger Mujahedin gefährdet sei.
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Die Klägerin beantragt,
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die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides des Bundesamtes vom 12. September
2005 zu verpflichten, sie als Asylberechtigte anzuerkennen und festzustellen, dass die
Voraussetzungen des § 60 Abs. 1, hilfsweise der Absätze 2 bis 7 AufenthG vorliegen.
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Die Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die
Gerichtsakten einschließlich der der Verfahren 6 L 1810/05.A und 6 K 8197/03.A sowie
die Verwaltungsvorgänge der Beklagten (3 Hefte) Bezug genommen.
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Entscheidungsgründe:
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Die Klage ist unbegründet.
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Es kann dahinstehen, ob § 14 a Asylverfahrensgesetz (AsylVfG) auch auf solche Kinder
Anwendung findet, die vor dem 1. Januar 2005 geboren worden sind.
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Vgl. dazu Urteil des erkennenden Gerichts vom 24. Oktober 2005 - 14 K 3358/05.A -.
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Das Asylverfahren betreffend die Klägerin ist zwar nach dieser Vorschrift eingeleitet
worden, jedoch hat die Klägerin, vertreten durch ihre Eltern und den von ihr beauftragten
Prozessbevollmächtigten, in der mündlichen Verhandlung den Antrag auf Anerkennung
als Asylberechtigte gestellt. Damit hat sie jedenfalls die vom Bundesamt angenommene
fiktive Antragstellung ausdrücklich bestätigt mit der Folge, dass über ihren Asylantrag
nach § 31, § 34 AsylVfG zu entscheiden ist.
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Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Anerkennung als Asylberechtigte oder
Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 AufenthG; insoweit wird - mit
Ausnahme der Offensichtlichkeitsfeststellung -
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vgl. dazu den Beschluss gleichen Rubrums des erkennenden Gerichts vom 26. Oktober
2005 - 6 L 1810/05.A -
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gemäß § 77 Abs. 2 AsylVfG auf den angefochtenen Bescheid verwiesen, dem das
erkennende Gericht folgt. Auch ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 1 Satz 4 Buchst.
b) AufenthG hinsichtlich Afghanistans liegt in der Person der Klägerin nicht vor. Für die
von ihr vorgetragene Gefahr einer Blutrache von Seiten solcher Personen, die sich für
Aktivitäten ihres Vaters zur Zeit des kommunistischen DVPA- Regimes revanchieren
wollen, ist die mangels Vorverfolgung der Klägerin erforderliche beachtliche
Wahrscheinlichkeit einer Verfolgungsgefahr durch Mujahedin nicht festzustellen. Die mit
Schriftsätzen vom 22. und 29. November 2005 geltend gemachten Gefährdungen
beziehen sich ausschließlich auf den Vater der Klägerin selbst oder auf Personen
seiner Generation; die behaupteten Tatsachen konnten deshalb im vorliegenden
Verfahren zu Gunsten der Klägerin als wahr unterstellt werden. Die Gefährdung wird
auch nicht für Kabul, sondern nur für die Heimatregion der Eltern der Klägerin
behauptet. Soweit Danesch in seinem schriftlichen Gutachten vom 21. November 2005
(S. 2) von einer „Gefährdung der Familienmitglieder, insbesondere des jüngsten, in
Deutschland geborenen Kindes, durch Blutrache und Sippenhaft" gesprochen wird,
erachtet der Einzelrichter dies als eine Gefälligkeit gegenüber dem Vater der Klägerin;
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Referenzfälle für eine derartige Gefährdung führt das Gutachten nicht an. Der
beantragten Beweisaufnahme oder sonstiger Sachaufklärung bedurfte es deshalb nicht.
Auch ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 7 AufenthG hinsichtlich Afghanistans ist
vorliegend nicht gegeben. Nach dieser Vorschrift soll von der Abschiebung eines
Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer
eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Gefahren in
diesem Staat, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer
angehört, allgemein ausgesetzt ist, werden bei Entscheidungen nach § 60 a Abs. 1 Satz
1 AufenthG berücksichtigt. Abgesehen von einer die Rechtsfolge betreffenden Änderung
(„soll" statt „kann"), die für die gemäß § 24 Abs. 2 AsylVfG weiterhin vom beklagten
Bundesamt zu treffende lediglich auf die Tatbestandsvoraussetzung der Vorschrift
bezogene Feststellung unerheblich ist, entspricht der Wortlaut des § 60 Abs. 7 AufenthG
dem des § 53 Abs. 6 Ausländergesetz (AuslG).
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Vgl. Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen (OVG NRW), Urteil vom
2. Februar 2005 - 8 A 59/04.A -, juris.
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Ebenso wie § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG setzt § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG voraus, dass für
den Ausländer in dem Zielstaat der Abschiebung eine erhebliche konkrete Gefahr für
Leib, Leben oder Freiheit besteht. Im Unterschied zum Asylrecht unterscheidet § 60 Abs.
7 AufenthG dabei nicht danach, von wem die Gefahr ausgeht oder wodurch sie
hervorgerufen wird. Für die Frage, wann eine Gefahr im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1
AufenthG vorliegt, ist im Ansatz auf den asylrechtlichen Prognosemaßstab der
„beachtlichen Wahrscheinlichkeit" zurückzugreifen.
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Vgl. OVG NRW, Urteil vom 2. Februar 2005, a.a.O.
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Abschiebungsschutz wegen einer beachtlich wahrscheinlichen, erheblichen konkreten
Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit kann nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG aber nur
gewährt werden, wenn diese landesweit droht. § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG erfasst nur
zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, das heißt nur solche Gefahren, die in
den spezifischen Verhältnissen des Abschiebezielstaates begründet sind.
Demgegenüber zählen Gefahren, die sich allein als Folge der Abschiebung oder im
Zusammenhang mit der Abschiebung als solche ergeben, nicht zu den vom Bundesamt
im Abschiebungsschutzverfahren nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu
berücksichtigenden Gefahren, sondern sind als inlandsbezogene
Vollstreckungshindernisse von der Ausländerbehörde bei Vollziehung der
Abschiebungsandrohung zu beachten.
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Vgl. OVG NRW, Urteil vom 2. Februar 2005, a.a.O.
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Gemäß § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG führen solche Gefahren nicht zur Feststellung
eines Abschiebungshindernisses nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG, denen die
Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein
ausgesetzt ist. Grundsätzlich wird in diesen Fällen Abschiebungsschutz ausschließlich
durch eine generelle Regelung der obersten Landesbehörden nach § 60 a AufenthG
gewährt. Mit dieser Regelung soll nach dem Willen des Gesetzgebers erreicht werden,
dass dann, wenn eine bestimmte Gefahr einer Bevölkerungsgruppe, das heißt einer
großen Zahl der im Abschiebezielstaat lebenden Personen gleichermaßen droht, über
deren Aufnahme oder Nichtaufnahme nicht im Einzelfall durch das Bundesamt und eine
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Ermessensentscheidung der Ausländerbehörde, sondern für die ganze Gruppe der
potenziell Betroffenen einheitlich durch eine politische Leitentscheidung des
Innenministeriums befunden wird. Trotz bestehender konkreter erheblicher Gefahr ist die
Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG im Verfahren eines einzelnen Ausländers
mithin gesperrt, wenn dieselbe Gefahr zugleich einer Vielzahl weiterer Personen im
Abschiebezielstaat droht. Bei in diesem Sinne allgemeinen Gefahren im
Abschiebezielstaat ist dabei eine Anwendung des § 60 Abs. 7 AufenthG in
verfassungskonformer Gesetzesauslegung jedoch dann geboten, wenn Gefahren für
Leib oder Leben in extremer Weise drohen, das heißt, wenn der einzelne Ausländer im
Fall seiner Abschiebung gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder
schwersten Verletzungen ausgeliefert würde. In diesem Fall gebieten es die
Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 Satz 1 Grundgesetz, dem einzelnen
Ausländer unabhängig von einer Ermessensentscheidung nach § 60 Abs. 7 Satz 2, § 60
a AufenthG Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu gewähren.
Vgl. zur früheren Rechtslage Bundesverwaltungsgericht (BVerwG), Urteil vom 8.
Dezember 1998 - 9 C 4.98 -, BVerwGE 108 S. 77 (80 f.); OVG NRW, Beschluss vom 21.
Juni 2005 - 20 A 3589/04.A -.
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Eine solche Situation ist im Falle einer Rückkehr der Klägerin nach Afghanistan
jedenfalls in Kabul, das allein als Zielort einer Abschiebung in Betracht kommt, nicht
gegeben. Nach den Lageberichten des Auswärtigen Amtes (AA) vom 3. November 2004
und 21. Juni 2005 hat sich die Versorgungslage in Kabul und zunehmend auch in den
anderen großen Städten zwar grundsätzlich verbessert. Wegen mangelnder Kaufkraft
profitieren jedoch längst nicht alle Bevölkerungsschichten von der verbesserten Lage.
Allerdings ist humanitäre Hilfe am Ort. Die Vereinten Nationen versorgen auch weiterhin
die Bedürftigen. Der UNHCR hat mit verschiedenen Nichtregierungsorganisationen eine
Vereinbarung über die Errichtung einer begrenzten fünfstelligen Zahl von Unterkünften
in den Provinzen und der zentralen Region um Kabul geschlossen. Eine Fortsetzung
der Hilfsoperation des UNHCR sind von neuen Unterstützungszusagen der Geber
abhängig. Die Situation ist zwar schwierig. Dennoch führt eine Abschiebung nach
Afghanistan nicht dazu, dass der Kläger gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod
oder schwersten Verletzungen ausgeliefert wird. Eine extreme Gefahrenlage liegt nicht
vor. Es ist weder vorgetragen noch ersichtlich, dass ein Rückkehrer in Kabul nicht das
zum Existenzminimum Notwendige haben würde oder gar eine Hungersnot droht.
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Infolge der Anwesenheit der internationalen Streitkräfte ist Kabul zudem für alle
Volksgruppen und Religionen relativ sicher (vgl. Lageberichte des AA vom 5. Mai 2003,
S. 3; vgl. auch den Bericht des Ländervertreters über die Tagung der Gruppe EURASIL
der Europäischen Union vom 24. und 25. April 2003, S. 13). Nach den Lageberichten
des Auswärtigen Amtes vom 22. April 2004 (S. 11), vom 03. November 2004 (S. 11) und
vom 21. Juni 2005 (S. 12) ist die Sicherheitslage im Raum Kabul zwar weiter fragil, aber
auf Grund der ISAF-Präsenz im regionalen Vergleich zufrieden stellend und für frühere
Bewohner Kabuls auch unter Inrechnungstellung der auf Grund der Gesamtlage in
Afghanistan erhöhten Gefahr, Opfer von Überfällen, Anschlägen oder ähnlichen
Übergriffen zu werden, zumindest in Teilen ausreichend sicher.
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Nachdem für die Klägerin nicht vorgetragen ist, dass sie an behandlungsbedürftigen
Krankheiten leidet, ist nicht zu erwarten, dass sie nach einer Rückkehr nach Kabul mit
beachtlicher Wahrscheinlichkeit in absehbarer Zeit an Leiben und Leben Schaden
erleiden wird, denn bei der Einschätzung der im Fall einer Rückkehr ins Heimatland
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sich ergebenden Gefahrenlage ist regelmäßig von einer gemeinsamen Rückkehr der in
Deutschland zusammen lebenden Familienangehörigen, hier also jedenfalls mit ihren
ausreisepflichtigen Eltern, auszugehen.
Vgl. BVerwG, Urteil vom 27. Juli 2000 - 9 C 9.00 -, InfAuslR 2001 S. 52 f.
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Somit hat die Klägerin keinen Anspruch auf die Feststellung der Voraussetzungen des §
60 Abs. 7 AufenthG. Auch die in dem angefochtenen Bescheid enthaltene
Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung begegnet keinen rechtlichen
Bedenken.
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Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO),
die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit aus § 167 VwGO, § 708 Nr. 11, §
711 Zivilprozessordnung (ZPO).
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Das Verfahren ist nach § 83 b Abs. 1 AsylVfG gerichtskostenfrei; wegen des Gegen-
standswertes wird auf § 30 Satz 1 Rechtsanwaltsvergütungsgesetz hingewiesen.
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