Urteil des VG Düsseldorf vom 06.07.2004

VG Düsseldorf: aufschiebende wirkung, zahnarztpraxis, öffentliches interesse, vollziehung, genehmigung, behörde, mieter, nutzungsänderung, wiederaufbau, erlass

Verwaltungsgericht Düsseldorf, 4 L 1908/04
Datum:
06.07.2004
Gericht:
Verwaltungsgericht Düsseldorf
Spruchkörper:
4 Kammer
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
4 L 1908/04
Tenor:
Der Antrag wird abgelehnt.
Die Antragstellerin trägt die Kosten des Verfahrens.
Der Streitwert wird auf 7.200 Euro festgesetzt.
Gründe:
1
I.
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Die Antragstellerin ist Eigentümerin des mit einem Mehrfamilienhaus bebauten
Grundstücks Gemarkung G1 (Istraße 54) in E; mit Bauschein Nr. 8560/50 vom 7.
Oktober 1950 hatte der Oberstadtdirektor der Stadt E als Rechtsvorgänger des
Antragsgegners die Genehmigung zum Wiederaufbau des Wohnhauses mit neun
Wohnungen erteilt.
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Seit 1954 wurden die Wohnung im Erdgeschoss und die kleinere der beiden
Wohnungen im ersten Obergeschoss des Gebäudes als Räume für eine Zahnarztpraxis
genutzt. Mit nach Erlass des Widerspruchsbescheids bestandskräftig gewordener
Bauordnungsverfügung vom 4. März 2002 untersagte der Antragsgegner dem letzten
Mieter Dr. L die Nutzung dieser Räume als Arztpraxis und Büro. Der Mieter hat die
Nutzung als Zahnarztpraxis inzwischen aufgegeben.
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Eine unmittelbar an die Geschäftsführerin der Antragstellerin als vermeintlicher
Grundstückseigentümerin gerichtete Nutzungsuntersagungsverfügung vom 4. März
2002 hob der Antragsgegner im danach durch übereinstimmende
Hauptsachenerledigungserklärungen beendeten Klageverfahren 4 K 8147/02 auf.
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Die Antragstellerin beabsichtigt eine weitere Vermietung dieser Räume zum Betrieb
einer Zahnarztpraxis. Mit Ordnungsverfügung seines Bauaufsichtsamtes vom 27. April
2004 forderte der Antragsgegner die Antragstellerin unter Anordnung der sofortigen
Vollziehung auf, die Räumlichkeiten im Erdgeschoss und 1. Obergeschoss des
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Gebäudes Istraße 54 in E nicht erneut als Zahnarztpraxis zu nutzen, zur Verfügung zu
stellen oder zu vermieten, und drohte ihr für den Fall, sollte sie der Forderung nicht
sofort ab Zustellung dieses Bescheides nachkommen, ein Zwangsgeld in Höhe von
1.000 Euro an, mit der Begründung, die Nutzung der Räume als Arztpraxis sei formell
illegal. Hiergegen legte die Antragstellerin am 14. Mai 2004 mit Schreiben ihres
Prozessbevollmächtigten vom 11. Mai 2004 Widerspruch ein.
Zur Begründung ihres am 18. Juni 2004 gestellten Antrages auf Gewährung vorläufigen
Rechtsschutzes macht die Antragstellerin geltend, die Nutzung als Arzt- bzw.
Zahnarztpraxis genieße nach Maßgabe der im Jahr 1954, dem Jahr der
Nutzungsaufnahme geltenden Vorschriften des öffentlichen Baurechts Bestandsschutz.
Dem sofortigen Einschreiten stehe auch der Umstand entgegen, dass die Nutzung dem
Antragsgegner bekannt sei. Im Jahr 1991 habe er der Zahnärztin Dr. C als Vormieterin
der Räume die Genehmigung zum Betrieb eines Amalgamabscheiders erteilt.
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Der Prozessbevollmächtigte der Antragstellerin beantragt,
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die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs vom 11. Mai 2004 gegen die
Ordnungsverfügung des Antragsgegners vom 27. April 2004 wiederherzustellen.
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Der Antragsgegner beantragt,
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den Antrag abzulehnen,
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im Wesentlichen mit der Begründung, die Umnutzung genehmigten Wohnraums in eine
Arztpraxis stelle eine baugenehmigungspflichtige, aber ungenehmigte
Nutzungsänderung dar.
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Wegen des Sach- und Streitstandes im Übrigen wird Bezug genommen auf den Inhalt
der Gerichtsakte sowie der beigezogenen Hausakte Istraße 54 und des
Bauordnungsvorgangs des Antragsgegners.
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II.
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Der Antrag, der wegen der Bezugnahme auf den gesamten Inhalt des Bescheides auch
als Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs auszulegen
ist, soweit er sich damit auf die Zwangsgeldandrohung bezieht, ist zulässig, aber
unbegründet.
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Hat die Behörde nach § 80 Abs. 2 Nr. 4 VwGO im öffentlichen Interesse die sofortige
Vollziehung eines Verwaltungsaktes - wie hier der bauordnungsbehördlichen
Nutzungsuntersagungsverfügung - angeordnet, kann das Verwaltungsgericht gemäß §
80 Abs. 5 Satz 1 VwGO auf Antrag des Betroffenen die aufschiebende Wirkung des
Rechtsbehelfs wiederherstellen bzw. hinsichtlich der gesetzlich sofort vollziehbaren
Zwangsmittelandrohungen anordnen. Ein solcher Antrag hat jedoch nur dann Erfolg,
wenn der angegriffene Verwaltungsakt offensichtlich rechtswidrig ist und demnach ein
öffentliches Interesse an seiner sofortigen Vollziehung nicht bestehen kann oder wenn
ansonsten das private Interesse des Antragstellers, vorerst vor den Folgen einer
Vollziehung des angefochtenen Verwaltungsaktes bewahrt zu bleiben, das öffentliche
Interesse an der sofortigen Vollziehung des Verwaltungsaktes überwiegt.
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Der Antrag hat keinen Erfolg, weil der Widerspruch bzw. eine etwaige nachfolgende
Anfechtungsklage nach der hier nur möglichen summarischen Überprüfung des
Streitfalles voraussichtlich keinen Erfolg haben werden und deshalb die im Rahmen des
§ 80 Abs. 5 VwGO vorzunehmende Interessenabwägung insoweit zu Lasten der
Antragstellerin ausgeht. Die hier angegriffene zwangsgeldbewehrte
Nutzungsuntersagungsverfügung ist offensichtlich rechtmäßig.
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Die Nutzung der betreffenden Räume zum Betrieb einer Zahnarztpraxis ist ein nach § 63
Abs. 1 BauO NRW genehmigungspflichtiges Vorhaben. Dieses Vorhaben ist formell
illegal.
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Die mit Bauschein Nr. 8560/50 vom 7. Oktober 1950 erteilte Baugenehmigung erlaubte
nur den Wiederaufbau des Wohnhauses mit neun Wohnungen, deckt aber die Nutzung
der Wohnungen zu anderen wie etwa freiberuflichen Zwecken nicht ab.
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Maßgeblich für den Inhalt dessen, was genehmigt wird, ist in erster Linie die
Baugenehmigung selbst. Der Bauschein bestimmt insbesondere Art und Umfang des
genehmigten Vorhabens. Die - nach § 2 der damals geltenden Baupolizeiverordnung für
den Regierungsbezirk E vom 1. April 1939 nebst Nachträgen und nunmehr nach § 69
Abs. 1 Satz 1 BauO NRW - mit dem Bauantrag einzureichenden Bauvorlagen haben im
Verhältnis zum Bauschein in aller Regel eine konkretisierende und erläuternde
Funktion.
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Vgl. Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen - OVG NRW -, Bescheid
vom 25. März 1958 - VII A 182/57 -, OVGE 13, 247, 249, Urteile vom 6. Oktober 1982 -
11 A 1018/80 -, BRS 39 Nr. 152 und vom 26. Juli 1995 - 7 A 2179/93 - sowie Beschluss
vom 25. Februar 2003 - 7 B 2374/02 -, BauR 2003, 1006.
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Soweit sie von der Behörde mit einem Zugehörigkeitsvermerk versehen sind, werden
sie zum inhaltlichen Bestandteil der Baugenehmigung und haben Anteil an ihren
Rechtswirkungen.
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Vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 12. Januar 2001 - 10 B 1827/00, BauR 2001, 755, 756
und vom 7. Juni 2001 - 10 B 576/01 -.
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Wenn und soweit der Text des Bauscheins abschließende und erschöpfende
Regelungen trifft, hat es damit sein Bewenden.
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Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 25. Februar 2003 - 7 B 2374/02 -. BauR 2003, 1006,
1007.
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Nach dem Text des Bauscheins ist allein die „Wiedererrichtung eines Wohnhauses"
genehmigt worden; aus der mit Zugehörigkeitsvermerk versehenen konkretisierenden
Baubeschreibung ergibt sich, dass das Wohnhaus insgesamt neun „Wohnungen"
beinhalten sollte.
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Der Umstand, dass - wie die Antragstellerin vorträgt - die hier streitigen Räume bereits
seit 1954 als Zahnarztpraxis genutzt worden waren, steht der formellen Illegalität nicht
entgegen. Eine solche Nutzung kann insbesondere ungeachtet der Frage nach ihrer
bauplanungsrechtlichen Zulässigkeit gegebenenfalls nach Maßgabe eines
übergeleiteten Durchführungsplanes schon deshalb keinen Bestandsschutz genießen,
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weil selbst noch unter Geltung der Baupolizeiverordnung für den Regierungsbezirk E
vom 1. April 1939 nebst Nachträgen nach ihrem § 1 Satz 2 Buchstaben A. a) und d)
nicht nur die Herstellung, Erneuerung und Veränderung baulicher Anlagen, sondern
auch allein Veränderungen in der Benutzungsart baulicher Anlagen der
Baugenehmigung bedurften, soweit für die Räume in ihrer neuen Zweckbestimmung
besondere baupolizeiliche Vorschriften bestanden; dies galt namentlich für die
Einrichtung von Räumen zum dauernden Aufenthalt von Menschen, wozu nach § 26 Nr.
1 Satz 2 Buchstabe a) der Verordnung außer Wohn- und Schlafräumen auch Arbeits-
und Geschäftsräume, Werkstätten, Büros und dergleichen zählten. Ausweislich der
beigezogenen Hausakte ist ein Bauschein für die Nutzung der hier in Rede stehenden
Räume zum Betrieb einer Zahnarztpraxis niemals erteilt worden.
Es entspricht gefestigter Rechtsprechung im Lande Nordrhein-Westfalen, dass es nicht
die Aufgabe der Bauaufsichtsbehörden ist, die ungenehmigte bauliche Nutzungen
feststellen, vor Erlass eines Nutzungsverbotes gleichsam ungefragt in eine Prüfung der
materiellen Genehmigungsfähigkeit einzutreten. Wer „schwarz" eine
baugenehmigungspflichtige Nutzung aufnimmt, muss vielmehr stets damit rechnen,
dass diese illegale Nutzung, deren Legalisierung allein Sache des Bauherrn ist, sofort
unterbunden wird. Die sofort vollziehbare Untersagung einer formell illegalen Nutzung
scheidet regelmäßig nur aus, wenn der erforderliche Bauantrag gestellt, dieser auch
nach der Rechtsauffassung der Bauaufsichtsbehörde genehmigungsfähig ist und der
Erteilung der Baugenehmigung auch sonst nichts mehr im Wege steht.
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Vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 22. April 1996 - 7 B 315/96 - und vom 6. Januar 2003 -
7 B 2553/02 - mit weiteren Nachweisen.
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Diese Voraussetzungen liegen nach dem Vortrag der Antragstellerin und ausweislich
der beigezogenen Verwaltungsvorgänge schon in Ermangelung eines Bauantrages der
Antragstellerin auf Erteilung einer Baugenehmigung für eine entsprechende
Nutzungsänderung nicht vor.
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Schließlich lässt die langjährige Nutzung als Zahnarztpraxis auch nicht das für die
Anordnung der sofortigen Vollziehung erforderliche besondere öffentliche Interesse an
der sofortigen Durchsetzung der Nutzungsuntersagungsverfügung entfallen. Der
Umstand, dass einer Vormieterin der ungenehmigten Praxisräume nach dem Vortrag
der Antragstellerin eine Genehmigung für einen Amalgamabscheider erteilt worden ist,
ist insoweit unerheblich, weil eine längere, der Anordnung sofortiger Vollziehung
entgegenstehende Duldung die Kenntnis der jeweils zuständigen Behörde voraussetzt;
hier kommt es allein auf die Kenntnis des für die Bauaufsicht zuständigen Amtes von
dem baurechtlich illegalen Zustand an.
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Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 22. April 1996 - 7 B 315/96 -.
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Die Genehmigung zum Betrieb einer Amalgamabscheideanlage wurde nach dem
unwidersprochenen Vortrag des Antragsgegners indessen von der Unteren Wasser-
und Abfallwirtschaftsbehörde erteilt.
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Die Entscheidung über die Kosten folgt aus § 154 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
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Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 20 Abs. 3, 13 Abs. 1 Satz 1 des
Gerichtskostengesetzes - GKG - in der Fassung seiner Bekanntmachung vom 15.
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Dezember 1975, die im vorliegenden Rechtsstreit fortgilt. Dabei orientiert sich das für
die Streitwertfestsetzung maßgebliche Interesse der Antragstellerin an dem Nutzwert
der bislang zum Betrieb einer Zahnarztpraxis vermieteten Räume. Im
Hauptsacheverfahren auf Anfechtung der Nutzungsuntersagung wäre von einem
Streitwert in Höhe von 14.400 Euro auszugehen entsprechend dem Jahresnutzwert der
bislang als Zahnarztpraxis genutzten und - wie aus dem Verfahren 4 K 8147/02 bekannt
- bei einem Umfang von 120 bis 140 qm an Nutzfläche zu einem monatlichen Mietzins
von 2.400 DM bzw. 1.200 Euro vermieteten Räume. Dieser Betrag als Streitwert ist im
vorliegenden Verfahren wegen der Vorläufigkeit des Rechtsschutzzieles zu halbieren.
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