Urteil des VG Düsseldorf vom 16.11.2009

VG Düsseldorf (treu und glauben, dyskalkulie, prüfung, verhältnis zu, mathematik, leistung, oberstufe, berechtigung, bewertung, klasse)

Verwaltungsgericht Düsseldorf, 18 L 1654/09
Datum:
16.11.2009
Gericht:
Verwaltungsgericht Düsseldorf
Spruchkörper:
18. Kammer
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
18 L 1654/09
Schlagworte:
Gesamtschule gymnasiale Oberstufe zentrale Prüfung in Klasse 10
fehlerhafte Notenvergabe
Leitsätze:
Berechtigung zum Besuch der gymnasialen Oberstufe an Gesamtschule
Tenor:
Der Antrag wird abgelehnt.
Die Antragstellerin trägt die Kosten des Verfahrens.
Der Streitwert wird auf 5.000,00 Euro festgesetzt.
Gründe:
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Der Antrag,
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die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten,
der Antragstellerin vorläufig, bis zum rechtskräftigen Abschluss des
Klageverfahrens (VG Düsseldorf, 18 K 6210/09) die Berechtigung zum
Besuch der gymnasialen Oberstufe zu erteilen,
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ist nicht begründet.
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Gemäß § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO kann das Gericht eine einstweilige Anordnung zur
Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis
erlassen, wenn diese Regelung, vor allem bei dauernden Rechtsverhältnissen, um
wesentliche Nachteile abzuwenden oder drohende Gewalt zu verhindern oder aus
anderen Gründen nötig erscheint. Der geltend gemachte materielle Anspruch
(Anordnungsanspruch) und die Notwendigkeit der einstweiligen Regelung
(Anordnungsgrund) sind von dem Antragsteller glaubhaft zu machen (§ 123 Abs. 3
VwGO i.V.m. §§ 920 Abs. 2, 294 ZPO). Dabei darf die Hauptsache grundsätzlich nicht
vorweggenommen werden. Eine Ausnahme von diesem Grundsatz gilt wegen der aus
Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG folgenden Rechtsschutzgarantie nur dann, wenn dies zur
Gewährung effektiven Rechtsschutzes schlechterdings notwendig ist und ein hoher
Grad der Wahrscheinlichkeit für den Erfolg im Hauptsacheverfahren spricht. Dies ist hier
nicht der Fall.
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Die Antragstellerin hat nicht glaubhaft gemacht, dass ihr ein Anspruch auf Erteilung der
Berechtigung zum Besuch der gymnasialen Oberstufe zusteht. Ausgehend von den im
Abschlusszeugnis erteilten Noten erfüllt sie nicht die Voraussetzungen des hier gemäß
§ 44 Abs. 3 APO-S I maßgeblichen § 32 Abs. 3 Satz 1 AO-S I vom 21. Oktober 1998 für
die erstrebte Berechtigung. Denn sie hat im Grundkurs Mathematik als Endnote lediglich
ein "ausreichend" erzielt. Diese Leistung kann nicht durch eine bessere Note in einem
anderen Fach der Fächergruppe ausgeglichen werden, weil die für den Grundkurs
geforderte Leistung (die Note "gut") um mehr als eine Notenstufe unterschritten wurde
(vgl. § 32 Abs. 3 Satz 3 AO-S I). Der Antrag hätte mithin nur Erfolg, wenn mit der für eine
Vorwegnahme der Hauptsache erforderlichen hohen Wahrscheinlichkeit davon
auszugehen wäre, dass die Benotung im Fach Mathematik rechtsfehlerhaft erfolgt ist.
Dafür ist hier indessen nichts ersichtlich.
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Bei der Überprüfung schulischer Noten ist zu beachten, dass dem Gericht eine
inhaltliche Kontrolle der Notenfindung grundsätzlich nicht zukommt. Die Einschätzung
und Bewertung schulischer Leistungen sind nämlich wegen des den Lehrkräften
zustehenden Bewertungsvorrechts gerichtlich nur daraufhin überprüfbar, ob wesentliche
Verfahrensvorschriften verletzt sind, der Lehrer von unzutreffenden Tatsachen
ausgegangen ist oder allgemein anerkannte Bewertungsmaßstäbe missachtet hat oder
sich von sachfremden Erwägungen hat leiten lassen.
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Zwar beschränkt sich dieser Beurteilungsspielraum nach der Rechtsprechung des
Bundesverfassungsgerichts bei Prüfungen, die den Zugang zu Berufen eröffnen, auf
prüfungsspezifische Wertungen und erstreckt sich nicht auf alle fachlichen Fragen, die
den Gegenstand der Prüfung bilden.
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Vgl. BVerfG, Beschluss vom 17. April 1991 - 1 BvR 419/81, 213/83 -, NJW 1991, 2005
(2007).
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Selbst bei Übertragung dieser für den Bereich von berufsbezogenen Prüfungen
entwickelten Grundsätze auf die gerichtliche Kontrolle schulischer Leistungen
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- in diesem Sinne BVerwG, Urteil vom 9. August 1996 - 6 C 3.95 -, DVBl. 1996, 1381
(1382) jedenfalls für die gerichtliche Nachprüfung von Prüfungsaufgaben in einer
Abiturarbeit -
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verbleibt aber den Lehrern bei Leistungsbeurteilungen ein fachspezifisches
Bewertungsvorrecht. Mit diesen Grundsätzen wäre es nicht vereinbar, wenn das Gericht
Leistungen eines Schülers selbst bewerten und festsetzen oder die Schule auf Grund
einer solchen Bewertung verpflichten würde, eine dem Schüler erteilte Note
heraufzusetzen. Die Bewertung von schulischen Leistungen beruht nämlich auf
Erfahrungen und persönlichen Einschätzungen, die die Lehrkräfte im Laufe ihrer
Tätigkeit gewonnen haben und die den Leistungsstand eines Schülers gerade auch im
Verhältnis zu seinen Mitschülern berücksichtigen.
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Vgl. etwa OVG NRW, Beschluss vom 13. Februar 2002 - 19 B 1601/01 -, juris, Rz.
28 ff.
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Hinsichtlich der Folgen etwaiger Rechtsfehler im Rahmen einer Leistungsüberprüfung
ist danach zu unterscheiden, ob diese Fehler die Bewertung der erbrachten Leistung
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betreffen oder die Erbringung der Leistung beeinträchtigt haben. Liegen
Bewertungsfehler vor, hat grundsätzlich (nur) eine Neubewertung der erbrachten
Leistung stattzufinden. Da den Prüfling die Darlegungs- und Beweislast für derartige
Fehler trifft,
vgl. BVerwG, Urteil vom 18. Dezember 1987 - 7 C 49.87 -, BVerwGE 78, 367 ff.,
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ist erforderlich, dass substanziiert vorgetragen und belegt wird, aus welchem Grund die
Bewertung nach Auffassung des Schülers fehlerhaft ist. Liegen Fehler im Vorfeld der
Leistungserbringung oder bei deren Durchführung vor, kommt dagegen allein eine
Wiederholung der Leistung in Betracht, da es der aus Art. 3 Abs. 1 GG folgende
Grundsatz der Chancengleichheit ausschließt, zu Gunsten des Schülers den
Bewertungsmaßstab zu ändern, um damit einen Fehler bei der Leistungserbringung
auszugleichen.
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Vgl. BVerwG, Beschluss vom 16. April 1980 - 7 B 58.80 -, NJW 1980, 2208 und Urteil
vom 22. Juni 1994 - 6 C 37.92 -, BVerwGE 96, 126 ff.
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In Anwendung dieser Grundsätze hat die Antragstellerin nicht glaubhaft gemacht, dass
ihr ein Anspruch auf Neubewertung ihrer im zweiten Halbjahr des Schuljahres
2008/2009 im Fach Mathematik erbrachten Leistungen oder auf Wiederholung eines
Leistungsteils und damit auf die begehrte vorläufige Berechtigung zustünde. Ihrem
Vorbringen ist in tatsächlicher Hinsicht nichts zu entnehmen, was auf eine fehlerhafte
Notenfestsetzung hindeutet.
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Dies gilt zunächst für die Behauptung, die Schulleiterin habe im Anschluss an das
Halbjahreszeugnis mitgeteilt, die Antragstellerin werde auf Grund der "guten"
(tatsächlich im Fach Mathematik nur befriedigenden) Vornoten die Qualifikation für die
gymnasiale Oberstufe voraussichtlich erreichen. Aus dem Umstand, dass diese
Prognose sich nicht erfüllte, die Antragstellerin also hinter den erwarteten Leistungen
zurückblieb, lässt sich offensichtlich kein Verfahrens- oder Bewertungsfehler ableiten.
Es mag sein, dass die Antragstellerin, wie sie vorträgt, die Qualifikation "eigentlich"
hätte schaffen müssen. Tatsache ist jedoch, dass sie sie wegen unzureichender
Leistungen im Grundkurs Mathematik im zweiten Halbjahr nicht geschafft hat. Ob der
nicht näher substanziierte - Einwand, in den Vorjahren sei die Mathematikklausur in der
zentralen Prüfung einfacher gewesen, zutrifft, kann dahinstehen. Denn er ist
unerheblich. Eine Fehlerhaftigkeit der Notenfestsetzung wäre unter diesem
Gesichtspunkt allenfalls denkbar, wenn die in der zentralen Prüfung im Schuljahr
2008/2009 gestellten Mathematikaufgaben unangemessen schwierig, da erheblich über
dem Niveau eines Grundkurses der Klasse 10 liegend gewesen wären. Dafür fehlt hier
jeglicher Anhaltspunkt. Woher die Antragstellerin ihr Wissen bezieht, dass die Arbeiten
in der zentralen Prüfung im Fach Mathematik im Schuljahr 2008/2009 bei allen Schülern
im Vergleich zum Vorjahr durchschnittlich um mindestens eine Note schlechter
ausgefallen sind, erschließt sich nicht; diese Behauptung dürfte "ins Blaue hinein"
aufgestellt sein. Es sei daher lediglich angemerkt, dass eine derartige Verschiebung der
Durchschnittsnote, wenn sie tatsächlich festzustellen wäre, ihre Ursache auch darin
haben könnte, dass der Schwierigkeitsgrad der Klausur im Vorjahr zu niedrig war.
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Das weitere Vorbringen der Antragstellerin, bei ihr bestehe eine mittelschwere
Dyskalkulie, das Versagen bei der zentralen Prüfung im Fach Mathematik sei "somit
nachweisbar" auf ihre ungewöhnliche Prüfungsangst in diesem Fach zurückzuführen,
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rechtfertigt den Erlass der begehrten einstweiligen Anordnung schon deshalb nicht, weil
das Vorliegen einer Dyskalkulie nicht glaubhaft gemacht ist. Die als Beleg übersandten
Unterlagen aus dem Jahr 2003 sind wegen ihres Alters hierfür erkennbar ungeeignet.
Ob die ausweislich des Behandlungs-/Kostenplans aus Juli 2003 damals offenbar
beabsichtigt gewesene Therapie angetreten, gegebenenfalls, mit welchem Erfolg sie
durchgeführt wurde, ist offen. Die Notwendigkeit, hierzu konkrete Angaben zu machen
und diese mit aktuellen Nachweisen zu belegen, musste sich der Antragstellerin
aufdrängen, zumal der von ihr hervorgehobene Umstand, dass die Note "ungenügend"
in der Mathematikklausur ein einmaliger Ausreißer ist, gegen das Vorliegen einer
Dyskalkulie spricht. Doch selbst wenn man zu ihren Gunsten hypothetisch unterstellt,
dass das Ergebnis der Untersuchung durch den Schulpsychologischen Dienst aus
September 2003 ("mittelschwere Dyskalkulie bei normaler Intelligenz") auch heute noch
zutrifft, ergibt sich daraus für die Antragstellerin nichts Günstigeres. Denn es ist nicht
erkennbar, inwiefern die Dyskalkulie zu einem Verfahrens- oder Bewertungsfehler in der
zentralen Prüfung geführt haben könnte. Falls das diesbezügliche Vorbringen dahin zu
verstehen sein sollte, dass wegen einer Angststörung ("ungewöhnliche Prüfungsangst")
eine Prüfungsunfähigkeit vorlag, hätte es der Antragstellerin oblegen, schon während
der Klausur auf ihren Zustand hinzuweisen bzw. diesen zumindest unverzüglich
nachträglich geltend zu machen, ein ärztliches Attest beizubringen und den Rücktritt von
der Prüfung zu erklären. Jedenfalls von einer Schülerin im Alter der Antragstellerin ist zu
verlangen, dass sie sich darüber Klarheit verschafft, ob ihre Leistungsfähigkeit durch
Krankheit oder sonstige körperliche oder psychische Einschränkungen erheblich
beeinträchtigt ist. Bejahendenfalls muss sie daraus unverzüglich die prüfungsrechtlich
gebotenen Konsequenzen ziehen. Es verstößt gegen den auch im Prüfungsrecht
geltenden Grundsatz von Treu und Glauben, zunächst das Ergebnis der Klausur
abzuwarten und sich sodann, wenn die Note nicht den eigenen Wünschen entspricht,
auf eine Prüfungsunfähigkeit zu berufen.
Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 20. November 2008 - 14 E 1417/08 -, juris.
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Falls es der Antragstellerin nicht um die nachträgliche Geltendmachung einer
Prüfungsunfähigkeit, sondern darum geht, dass die behauptete Dyskalkulie bei der
Leistungsbeurteilung berücksichtigt wird, stünde dem der Grundsatz der
Chancengleichheit im Prüfungsverfahren entgegen. Dieser gebietet es, dass bei allen
Prüflingen die gleichen Bewertungsmaßstäbe zugrunde gelegt werden. Ein irgendwie
gearteter Nachteilsausgleich wegen Dyskalkulie ist im Rahmen der zentralen Prüfungen
nicht vorgesehen. Insbesondere gibt es - anders als bei Schülern, bei denen eine Lese-
/Rechtschreibschwäche besteht
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vgl. den Runderlass des Kultusministeriums vom 19. Juli 1991 (GABl. NW I S. 174)
zur Förderung von Schülerinnen und Schülern bei besonderen Schwierigkeiten im
Erlernen des Lesens und Rechtschreibens (LRS) -
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keinen ministeriellen Erlass, der die Berücksichtigung einer Dyskalkulie bei der
Leistungsfeststellung und -beurteilung vorsieht. Die Antragstellerin kann daher nicht -
erst recht nicht nachträglich - verlangen, dass ihre Mathematikklausur großzügiger
bewertet wird als die Klausuren ihrer Mitschüler.
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Soweit die Antragstellerin sich schließlich auf die Versetzungspraxis an Gymnasien -
die darauf abzielt, Schülern der 9. Klasse eine Wiederholung möglichst zu ersparen -
beruft, kann sie daraus schon deshalb nichts für sich herleiten, weil sie Schülerin einer
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Gesamtschule war. Tragender Grund für die von ihr unter Bezugnahme auf einen
Zeitungsartikel geschilderte Versetzungspraxis an Gymnasien ist der Umstand, dass die
dortigen Schüler der Klasse 9 zu dem letzten Jahrgang gehörten, der das Abitur nach
13 Jahren macht. Die besondere Problematik, die sich für nicht versetzte Schüler ergibt,
wenn sie bei einer Wiederholung der Klasse auf Schüler treffen, die nach inhaltlich
abweichend ausgestalteten Lehrplänen unterrichtet wurden, stellt sich an
Gesamtschulen nicht, weil an ihnen das Abitur weiterhin erst nach 13 Jahren absolviert
wird.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
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Die Festsetzung des Streitwertes beruht auf §§ 53 Abs. 2 Nr. 1, 52 Abs. 2 GKG. Eine
Minderung des gesetzlichen Auffangwertes kam nicht in Betracht, weil das
Antragsbegehren auf eine Vorwegnahme der Hauptsache gerichtet ist.
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