Urteil des VG Düsseldorf vom 21.04.2010

VG Düsseldorf (versammlung, kläger, polizei, vorläufige festnahme, unmittelbare gefahr, aufzug, ausschluss, versammlungsfreiheit, freiheit der person, stpo)

Verwaltungsgericht Düsseldorf, 18 K 3033/09
Datum:
21.04.2010
Gericht:
Verwaltungsgericht Düsseldorf
Spruchkörper:
18. Kammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
18 K 3033/09
Schlagworte:
Versammlung Aufzug Ausschluss Polizeifestigkeit der Versammlung
strafprozessuale Maßnahmen
Normen:
VersG § 18 Abs 3 VersG § 19 Abs 4
Tenor:
Es wird festgestellt, dass die Einschließung der Kläger am 1. Mai 2008
gegen 15.40 Uhr bei der Demonstration zum 1. Mai im Bereich der G
Straße in X durch Einsatzkräfte der Polizei sowie die sich daran
anschließenden polizeilichen Ma߬nahmen gegen die Kläger (weiteres
Festhalten innerhalb der Ein¬schließung, Identitätsfeststellung,
Fertigung von Fotos, Verbringung zum Polizeipräsidium, Festhalten in
Bussen im Hof des Präsidiums, erneute Fertigung von Fotos im
Präsidium, weiteres Festhalten der Klägerin zu 2. im Präsidium) bis zur
jeweiligen Entlassung der Kläger aus dem Polizeigewahrsam
rechtswidrig waren.
Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des je-weils
beizutreibenden Betrages vorläufig vollstreckbar.
Die Berufung wird zugelassen.
Tatbestand:
1
Am 1. Mai 2008 fand in X wie in den Vorjahren unter dem Motto "Kein Staat wird uns
gerecht" eine unangemeldete Demonstration sog. "Autonomer" statt. Bemühungen der
Polizei um Kooperation waren zuvor ergebnislos geblieben. Dennoch sollte den
Teilnehmern sowohl die Auftaktkundgebung als auch der anschließende Aufzug
ermöglicht werden. Angesichts der Erfahrungen aus den Vorjahren und von Graffitis mit
der Parole "No Justice No Peace Fight the Police" rechnete die Polizei mit der
Begehung von Straftaten während der Demonstration.
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Die Kläger gehörten zu den Teilnehmern. Damals war die Klägerin zu 1. noch
minderjährig (17 Jahre); die Klägerin zu 2. war 23 Jahre alt; der Kläger zu 3., der sich in
Begleitung seines Vaters befand, war ebenfalls minderjährig (14 Jahre).
3
Nach den Feststellungen der Polizei hatten sich bis 14.00 Uhr ca. 350 Personen auf
dem Q versammelt. Bereits bei der Anreise hatte die Polizei mitgeführte Gegenstände
wie Luftmatratzen, ein Seil und diverse Transparente sichergestellt. Dennoch brachten
Teilnehmer insgesamt neun Luftmatratzen zum Versammlungsort; ferner wurde ein
fingerdickes Kunststoffseil mit Transparenten verbunden. Gegen 14.25 Uhr vermummte
sich eine Person; um 14.43 Uhr stellten Einsatzkräfte drei weitere vermummte Personen
fest. Trotz des Hinweises der Polizei über Lautsprecher, dass es sich um Straftaten
handele, wurde die Vermummung nicht abgelegt. Ferner wies die Polizei mittels
Lautsprecher darauf hin, dass Luftmatratzen und Seile als Schutzbewaffnung zu werten
seien, deren Mitführung ebenfalls einen Straftatbestand erfülle.
4
Nachdem die Auftaktkundgebung auf dem Q stattgefunden hatte, setzte sich gegen
15.00 Uhr der Aufzug in Bewegung. Um 15.13 Uhr wurde er von der Polizei in der G
Straße in Höhe Lweg gestoppt. Um Durchbruchsversuche zu verhindern, setzten
Einsatzkräfte Pfefferspray ein. Mit folgender Lautsprecherdurchsage teilte die Polizei
den Teilnehmern den Grund für das Anhalten mit:
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"Es erfolgt eine Durchsage der Polizei an die Versammlung in der G Straße. Die Polizei
hat ihre Versammlung, ihren Aufzug, hier angehalten, da es innerhalb ihrer
Versammlung zu Straftaten gekommen ist. Es wurden Polizeibeamte durch Schläge und
Tritte angegriffen. Es sind Flaschen auf Polizeibeamte und auf am Straßenrand
geparkte Fahrzeuge geworfen worden. Des Weiteren sind einige Personen innerhalb
ihrer Versammlung vermummt, das eine Straftat nach dem Versammlungsgesetz
darstellt, und es wird Schutzbewaffnung in Form von Luftmatratzen und Seilen mit sich
geführt. Aus diesem Grund hat die Polizei hier ihren Aufzug gestoppt. Ende der
Durchsage."
6
Anschließend war die Lage zunächst einige Zeit statisch. Um 15.37 Uhr geriet der
Aufzug wieder in Bewegung. Zuvor hatten sich einige Teilnehmer Taucherbrillen
aufgesetzt. Ausweislich des Einsatztagebuchs hatte die Polizei bereits um 15.22 Uhr
den Entschluss gefasst, den "harten Kern (ca. 20 Personen) aus dem Aufzug
herauszutrennen und zu separieren". Für 15.41 Uhr heißt es in dem Verlaufsbericht:
7
"Der vordere, gewalttätige Bereich der Versammlung wurde von dem Rest des Aufzuges
durch Polizeikräfte abgetrennt und eingeschlossen. Den friedlichen Teilnehmern wurde
die Möglichkeit gegeben sich über den rückwärtigen Bereich in Richtung I Str. zu
entfernen.
8
Die Abtrennung des Störerblocks erfolgte durch das zunächst seitliche Vorgehen der
Polizeikräfte ... entlang der Häuserfront und einem Einschwenken in der
entsprechenden Höhe. ... Die Versammlung reagierte lautstark auf die Maßnahme und
wendete sich ihr zu.
9
Im Rahmen dieser polizeilichen Maßnahme wurden 156 Personen (Zeitpunkt der
Berichtserfassung) zur Verhütung der Begehung weiterer Straftaten und Einleitung von
Strafermittlungsverfahren festgesetzt und sodann mit vier GTO der Gesa zugeführt.
10
Darunter befanden sich 33 qualifizierte, individuell festgestellte Straftäter."
11
Tatsächlich waren, wie sich später herausstellte, von der Einschließung insgesamt
12
194 Personen betroffen. In dieser Gruppe befanden sich die Kläger. Im Anschluss an die
Maßnahme tätigte die Polizei folgende Lautsprecherdurchsage:
"Die Polizei spricht noch einmal den Aufzug in der G Straße an. Personen im vorderen
Teil ihres Aufzuges haben Straftaten begangen [ ... wird ausgeführt ... ] Aus diesem
Grund wurde diese Personengruppe von ihrer Versammlung ausgeschlossen und von
Polizeibeamten von ihrem Aufzug abgetrennt. Den anderen Versammlungsteilnehmern,
die sich hier friedlich verhalten haben, will die Polizei eine weitere Durchführung des
Aufzuges ermöglichen. Ende der Durchsage."
13
Um 15.55 Uhr teilte die Polizei den eingeschlossenen Personen durch Lautsprecher mit,
dass sie "zur Verhütung weiterer Straftaten" in Gewahrsam genommen worden seien;
sie würden gleich einzeln von Polizeibeamten aus der Gruppe herausgeholt und der
Gefangenensammelstelle zugeführt. Mit einer weiteren Lautsprecherdurchsage bat die
Polizei u.a. Kinder und Jugendliche, sich bei den eingesetzten Beamten zu melden.
Nach dem Herausführen jeder einzelnen Person aus der Einschließung notierten
Polizeibeamte auf Laufzetteln deren Personalien; ferner fertigten sie Fotos. Der Kläger
zu 3., der keinen Personalausweis besaß, wurde über seinen Vater identifiziert.
Anschließend brachte man die Betroffenen mit Bussen zur im Präsidium eingerichteten
Gefangenensammelstelle, wo die Polizei erneut Fotos von ihnen fertigte und die
Personalien feststellte. Ausweislich eines polizeilichen Vermerks sollte außerdem
möglichst eine erkennungsdienstliche Behandlung und verantwortliche Vernehmung
erfolgen. Die Kläger betreffend wurden keine derartigen Maßnahmen durchgeführt.
Wegen der hohen Zahl von Festgenommenen kam es sowohl am Ort der Einschließung
als auch in den Bussen und in der Gefangenensammelstelle zu längeren Wartezeiten.
Nach den Aufzeichnungen der Polizei wurde die Klägerin zu 1. um 23.35 Uhr, die
Klägerin zu 2. um 01.20 Uhr und der Kläger zu 3. um 19.37 Uhr aus dem Gewahrsam
entlassen.
14
Die gegen die Kläger eingeleiteten Strafverfahren StA X, 50 Js 191/09 (Klägerin zu 1.),
50 Js 151/09 (Klägerin zu 2.) und 50 Js 7765/08 (Kläger zu 3.) wurden sämtlich mangels
hinreichenden Tatverdachts eingestellt.
15
Die Kläger haben am 2. Mai 2009 Klage erhoben, mit der sie die Rechtswidrigkeit ihrer
Einschließung und der weiteren sie betreffenden polizeilichen Maßnahmen während
und nach der Demonstration geltend machen. Zur Begründung tragen sie unter anderem
vor: Ein Ausschluss von einer Versammlung könne nur gegen einzelne Teilnehmer
gerichtet werden, nicht gegen einen Großteil der Versammlung insgesamt. Hier sei die
Versammlung schlicht geteilt worden. Auch nach dem Vorbringen des Beklagten hätten
im Zeitpunkt des Einschreitens keine Anhaltspunkte dafür bestanden, dass alle
betroffenen Teilnehmer Straftaten begangen hätten. In dem polizeilichen
Verlaufsprotokoll sei nur von 33 qualifizierten, individuell festgestellten Straftätern die
Rede. Zur weit überwiegenden Zahl der ausgeschlossenen Personen habe es demnach
keine individuellen Feststellungen gegeben. Daran ändere das von dem Beklagten
herangezogene Delikt des Landfriedensbruchs nichts; auch dieses werde durch die
bloße Anwesenheit einer Person nicht erfüllt. Tatsächlich sei der Ausschluss nach rein
polizeitaktischen Gesichtspunkten erfolgt; maßgebend sei gewesen, an welcher Stelle
für die Einsatzkräfte die Möglichkeit bestanden habe, aus einer Nebenstraße auf die G
Straße zu treten und den Aufzug zu spalten. Dass tatsächlich ein Ausschluss nicht
beabsichtigt gewesen sei, ergebe sich daraus, dass die Polizei seine Wirkungen
verhindert habe. Prinzipiell gelte, dass ein von einer Versammlung ausgeschlossener
16
Teilnehmer sich ohne Aufschub zu entfernen habe; die Polizei könne zu diesem Zweck
einen Platzverweis erteilen. Hier seien die polizeilichen Maßnahmen nicht auf ein
unverzügliches Entfernen vom Ort der Versammlung, sondern darauf gerichtet gewesen,
die betroffenen Versammlungsteilnehmer einzukesseln und vorläufig festzunehmen, um
weitere Maßnahmen gegen sie durchführen zu können. Da die Voraussetzungen eines
Ausschlusses der Kläger von der Versammlung nicht vorgelegen hätten, seien sie
weiter Teilnehmer einer nicht angemeldeten, jedoch auch nicht aufgelösten
Versammlung gewesen. Gegenüber Teilnehmern einer nicht aufgelösten Versammlung
seien polizeiliche Maßnahmen, wie sie hier nach der Einschließung durchgeführt
worden seien, mit Blick auf das Grundrecht der Versammlungsfreiheit unzulässig. Im
Übrigen habe, nachdem die Personalien bereits vor Ort festgestellt und Fotos gefertigt
worden seien, kein Grund mehr bestanden, die Kläger in Polizeibussen festzuhalten
und ins Präsidium zu bringen. Mit dieser Verfahrensweise habe der Beklagte gegen das
Übermaßverbot verstoßen.
Die Kläger beantragen:
17
1. Bezüglich aller drei Klägerinnen wird festgestellt, dass die Einkesselung der
Klägerinnen (vom Beklagten als Ausschluss aus einer Versammlung bezeichnet)
am 1. Mai 2008 gegen 15.40 Uhr im Bereich X, G Straße, rechtswidrig war.
18
2. Es wird festgestellt, dass das Festhalten innerhalb des Kessels der Klägerin
zu 1. bis ca. 20.30 Uhr, der Klägerin zu 2. bis ca. 16.30 Uhr und des Klägers zu 3.
bis ca. 16.30 Uhr rechtswidrig war.
19
3. Es wird festgestellt, dass die Feststellungen der Personalien sowie die
Herstellung eines Fotos vor dem Verbringen vom Kessel zum Polizeipräsidium
rechtswidrig war.
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4. Es wird festgestellt, dass das Verbringen zum Polizeipräsidium selbst
rechtswidrig war.
21
5. Es wird festgestellt, dass das Festhalten in Polizeibussen im Bereich des
Polizeipräsidiums - bei der Klägerin zu 1. zwischen 21.00 Uhr und 24.00 Uhr, bei
der Klägerin zu 2. zwischen 17.30 Uhr und 0.30 Uhr und bei dem Kläger zu 3. von
ca. 17.00 Uhr bis 19.15 Uhr - rechtswidrig war.
22
6. Es wird festgestellt, dass die erneute Fertigung von Fotografien im Anschluss
im Polizeipräsidium rechtswidrig war.
23
7. Es wird festgestellt, dass das weitere Festhalten der Klägerin zu 2. nach
Durchführung der erneuten Personalienfeststellung im Polizeipräsidium
rechtswidrig war.
24
Der Beklagte beantragt,
25
die Klage abzuweisen.
26
Zur Begründung führt er im Wesentlichen aus: Bei den betroffenen
Versammlungsteilnehmern habe der Verdacht des Landfriedensbruchs und von
27
Straftaten gegen das Versammlungsgesetz bestanden. Die unfriedlichen und
gewaltsamen Aktivitäten des vorderen Teils des Aufzugs hätten unmittelbar die
Durchführung der gesamten Versammlung gefährdet. Daher seien die tatverdächtigen
Personen von der Versammlung ausgeschlossen worden. Zum
entscheidungserheblichen Zeitpunkt habe sich diese Gruppe nicht mehr auf das
Grundrecht der Versammlungsfreiheit berufen können. Der Ausschluss als
"Minusmaßnahme" habe es ermöglicht, von einer Auflösung des gesamten Aufzuges
Abstand zu nehmen. Die Versammlung sei folglich mit den nicht ausgeschlossenen
Teilnehmern fortgeführt worden. Nach dem Ausschluss der unfriedlichen Teilnehmer
seien unmittelbar strafprozessuale Beweissicherungsmaßnahmen erfolgt. Die
Einschließung habe der Verhinderung einer unkontrollierten Abwanderung und Flucht
von Tatverdächtigen und somit der Gewährleistung dieser Maßnahmen gedient. Da die
Beweissicherung am Einsatzort nicht abschließend möglich gewesen sei, habe man die
tatverdächtigen Personen zur Gefangenensammelstelle im Polizeipräsidium bringen
müssen. Wegen der unerwartet hohen Anzahl an Tatverdächtigen sei es bei der
Zuführung zu den Transportbussen und bei der Zuführung aus den Bussen in die
Gefangenensammelstelle teilweise zu längeren Verweilzeiten gekommen. Vorgänge
unter Beteiligung von Kindern und Jugendlichen seien bevorzugt bearbeitet worden.
Kinder und Jugendliche seien mehrfach, sowohl am Einsatzort als auch unmittelbar
nach dem Eintreffen der Busse im Hof des Präsidiums, aufgefordert worden, sich zu
melden. Alle Personen hätten die Wartezeit am Einsatzort durch aktives Mitwirken
minimieren können. Die Klägerin zu 1. habe sich zu keinem Zeitpunkt als Jugendliche
zu erkennen gegeben; auch habe sie nicht die Möglichkeit genutzt, sich freiwillig an der
Absperrung zu melden. Die Klägerin zu 2. habe sich freiwillig aus der Einschließung
herausführen lassen und sei daher frühzeitig zur Gefangenensammelstelle gebracht
worden. Zum entscheidungserheblichen Zeitpunkt hätten den Einsatzkräften keine
Informationen zu den Klägern vorgelegen, die eine andere als die gewählte
Verfahrensweise erlaubt hätten. Die Klägerin zu 2. habe erst um 01.20 Uhr entlassen
werden können, weil zunächst Haftgründe hätten geprüft werden müssen; von einer
ergänzenden Vernehmung und erkennungsdienstlichen Behandlung habe man
abgesehen
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird ergänzend Bezug
genommen auf den sonstigen Inhalt der Gerichtsakten und der beigezogenen
Verwaltungsvorgänge des Beklagten, ferner auf den Inhalt der ebenfalls beigezogenen
Strafakten der StA X, 50 Js 7765/08, 50 Js 151/09 und 50 Js 191/09.
28
Entscheidungsgründe:
29
Die Klage ist zulässig und begründet.
30
A. Der Verwaltungsrechtsweg ist gemäß § 40 Abs. 1 Satz 1 VwGO eröffnet. Es handelt
sich um eine öffentlich-rechtliche Streitigkeit nichtverfassungsrechtlicher Art.
Ausweislich des polizeilichen Verlaufsberichtes erfolgte die Einschließung der
Versammlungsteilnehmer zur Verhütung der Begehung weiterer Straftaten und zur
Einleitung von Strafermittlungsverfahren (siehe Seite 18 oben des
Verwaltungsvorgangs). Bei einer derartigen doppelfunktionalen Maßnahme, die sich
von ihrer Zielrichtung her sowohl dem Recht der präventiven Gefahrenabwehr als auch
dem Gebiet der Strafverfolgung zuordnen lässt, kommt es für die Abgrenzung des
Rechtswegs darauf an, auf welcher Seite aus der Sicht des Betroffenen das
Schwergewicht des polizeilichen Handelns lag.
31
Vgl. VG Augsburg, Urteil vom 27. November 2008 - Au 5 K 08.547 -, .
32
Aus Sicht der Kläger handelte es sich bei der Einschließung in erster Linie um eine dem
öffentlichen Recht zuzuordnende Maßnahme der Gefahrenabwehr. Denn der Beklagte
bezeichnete die Einschließung gegenüber den Versammlungsteilnehmern mittels
Lautsprecherdurchsage ausdrücklich als Ausschluss aus der Versammlung, also als
Maßnahme auf der Grundlage des Versammlungsgesetzes (vgl. §§ 18 Abs. 3, 19 Abs. 4
VersG). Die anschließend getroffenen Folgemaßnahmen, für die ebenfalls sowohl
gefahrenabwehrrechtliche als auch strafverfahrensrechtliche Befugnisnormen in
Betracht kommen (vgl. etwa für die Identitätsfeststellung § 12 PolG NRW einerseits, §
163b StPO andererseits), teilen schwerpunktmäßig die öffentlich-rechtliche Rechtsnatur
des Ausschlusses. Dieser war von vornherein auf die Ermöglichung weiterer
polizeilicher Maßnahmen gerichtet. Auf Grund der übergreifenden "Klammer" des Art. 8
GG stehen die Folgemaßnahmen in einem derart engen tatsächlichen und rechtlichen
Zusammenhang mit dem zu Grunde liegenden Ausschluss, dass eine unterschiedliche
Rechtswegzuordnung auf die künstliche Aufspaltung eines einheitlichen
Lebenssachverhalts hinausliefe. Dies bedeutet nicht, dass Befugnisnormen der StPO
hier keine Rolle spielen. Hinsichtlich der strafverfahrensrechtlichen Komponente der
angegriffenen Maßnahmen greift vielmehr § 17 Abs. 2 Satz 1 GVG ein, wonach das
Gericht des zulässigen Rechtswegs den Rechtsstreit unter allen in Betracht kommenden
- also auch rechtswegfremden - rechtlichen Gesichtspunkten zu entscheiden hat.
33
Ob die Klage als Fortsetzungsfeststellungsklage (§ 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO) kombiniert
mit - soweit Realakte in Streit stehen - einer allgemeinen Feststellungsklage (§ 43
VwGO) statthaft ist, oder ob es sich insgesamt um eine allgemeine Feststellungsklage
handelt, weil sich alle angegriffenen Maßnahmen bereits vor Klageerhebung erledigt
hatten,
34
vgl. zur statthaften Klageart bei vorprozessual erledigtem Verwaltungsakt: BVerwG,
Urteil vom 14. Juli 1999 - 6 C 7/98 -, NVwZ 2000, 63 ff.,
35
kann dahinstehen. Denn die Zulässigkeitsvoraussetzungen beider Klagearten
unterscheiden sich nicht. In jedem Fall ist ein berechtigtes Feststellungsinteresse
erforderlich, das bei den Klägern wegen ihrer Grundrechtsbetroffenheit durch den
Eingriff in die Versammlungsfreiheit (Art. 8 GG) sowie die Freiheit der Person (Art. 2
Abs. 2 Satz 2 GG) und in Gestalt eines Rehabilitationsinteresses gegeben ist. Eine
Klagefrist ist weder bei der allgemeinen Feststellungsklage noch bei einer
Fortsetzungsfeststellungsklage gegen einen vorprozessual erledigten Verwaltungsakt
zu wahren.
36
Vgl. zu letzterem BVerwG, Urteil vom 14. Juli 1999 - 6 C 7/98 -, a.a.O.
37
B. Die Klage ist auch begründet. Sämtliche streitgegenständliche Maßnahmen des
Beklagten sind rechtswidrig.
38
I. Das gilt zunächst für die Einschließung. Diese stellt einen Eingriff in die grundrechtlich
geschützte Versammlungsfreiheit der Kläger dar, der nicht durch eine gesetzliche
Ermächtigungsnorm gedeckt ist.
39
Gemäß Art. 8 Abs. 1 GG haben alle Deutschen das Recht, sich ohne Anmeldung oder
40
Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu versammeln. Für Versammlungen unter freiem
Himmel kann dieses Recht durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes beschränkt
werden (Abs. 2 der Vorschrift).
1. Das Verhalten der Kläger fiel in den Schutzbereich des Art. 8 GG. Die Kläger haben
an einer Versammlung teilgenommen. Versammlung i.S. des Art. 8 GG ist eine örtliche
Zusammenkunft mehrerer Personen zur gemeinschaftlichen, auf Teilhabe an der
öffentlichen Meinungsbildung gerichteten Erörterung oder Kundgebung.
41
Vgl. BVerfG, Beschluss vom 26. Oktober 2004 - 1 BvR 1726/01 -, NVwZ 2005, 80 f.
42
Dass diese Voraussetzungen hier vorlagen, ist nicht zweifelhaft. Zwar war die
Versammlung entgegen § 14 VersG nicht angemeldet. Der Schutz des Art. 8 GG besteht
aber unabhängig von einem Verstoß gegen die gesetzliche Anmeldepflicht. Der Verstoß
hat lediglich zur Folge, dass gemäß § 15 Abs. 3 VersG die Auflösung der Versammlung
in Betracht kommt, nicht jedoch, dass es sich von vornherein um ein nicht in den
Schutzbereich des Art. 8 GG fallendes Verhalten handelt. Bis zu einer Auflösung besteht
der versammlungsrechtliche Schutz fort.
43
Vgl. BVerfG, Beschluss vom 26. Oktober 2004 - 1 BvR 1726/01 -, a.a.O.
44
Allerdings ist die Teilnahme an einer Versammlung nur geschützt, wenn sie friedlich
und ohne Waffen erfolgt. Insoweit ist bereits der Schutzbereich der Grundrechtsnorm
zurückgenommen. Friedlich ist eine Versammlung, die keinen gewalttätigen oder
aufrührerischen Verlauf nimmt. Unfriedlich ist eine Versammlung, wenn Handlungen
von einiger Gefährlichkeit wie etwa aggressive Ausschreitungen gegen Personen oder
Sachen oder sonstige Gewalttätigkeiten stattfinden oder ein gewalttätiger Verlauf
unmittelbar bevorsteht; eine Vermummung kann die Erwartung unfriedlichen Verhaltens
stützen.
45
Vgl. Jarass/Pieroth, Grundgesetz, 10. Aufl. 2009, Art. 8 GG Rz. 8 ff.
46
Bei der Beurteilung ist grundsätzlich auf den einzelnen Teilnehmer abzustellen, nicht
auf die Versammlung insgesamt. Für die friedlichen Teilnehmer muss der Schutz der
Versammlungsfreiheit auch dann erhalten bleiben, wenn einzelne andere
Demonstranten oder eine Minderheit Ausschreitungen begehen. Würde unfriedliches
Verhalten Einzelner für die gesamte Versammlung und nicht nur für die Täter zum
Fortfall des Grundrechtsschutzes führen, hätten diese es in der Hand, die Demonstration
"umzufunktionieren" und gegen den Willen der anderen Teilnehmer rechtswidrig
werden zu lassen.
47
Vgl. BVerfG, Beschluss vom 14. Mai 1985 - 1 BvR 233, 341/81 - (Brokdorf), BVerfGE 69,
315 ff. (361).
48
Grundsätzlich muss daher gegen die störende Minderheit vorgegangen werden. Nur
wenn dies keinen Erfolg verspricht, kann unter Beachtung der Verhältnismäßigkeit
gegen die Versammlung als solche eingeschritten und durch Auflösung auch den
friedlichen Teilnehmern der Schutz des Art. 8 GG genommen werden.
49
Vgl. Jarass/Pieroth, Grundgesetz, a.a.O., Rz. 10.
50
Ferner darf die Demonstrationsfreiheit nicht dadurch unterlaufen werden, dass an die
Bejahung der Teilnahme an Gewaltakten zu geringe Anforderungen gestellt werden.
Deshalb reicht es für die Annahme einer Mittäterschaft oder Beihilfe an solchen
Ausschreitungen nicht schon aus, dass der an ihnen nicht aktiv beteiligte Demonstrant
an Ort und Stelle verharrt, auch wenn er, wie es die Regel sein wird, von vornherein mit
Gewalttätigkeiten einzelner oder ganzer Gruppen rechnet und weiß, dass er allein
schon mit seiner Anwesenheit den Gewalttätern mindestens durch Gewährung von
Anonymität Förderung und Schutz geben kann. Für eine Teilnahme ist mehr
erforderlich, nämlich die Feststellung, dass Gewährung von Anonymität und Äußerung
von Sympathie darauf ausgerichtet und geeignet sind, Gewalttäter in ihren Entschlüssen
und Taten zu fördern und zu bestärken, etwa durch Anfeuerung oder ostentatives
Zugesellen zu einer Gruppe, aus der heraus Gewalt geübt wird. Eine Ausdehnung der
Strafbarkeit auf "passiv" bleibende Sympathisanten wäre verfassungswidrig, weil sie
das Gebrauchmachen von der Versammlungsfreiheit mit einem unkalkulierbaren Risiko
verbinden und so das Grundrecht faktisch unzulässig beschränken würde.
51
Vgl. BGH, Urteil vom 24. Januar 1984 VI ZR 37/82 -, BHGZ 89, 383 ff. (zur
zivilrechtlichen Haftung für Demonstrationsschäden).
52
Bezogen auf die Kläger folgt hieraus, dass ihre Teilnahme an der Versammlung nicht
von vornherein wegen Unfriedlichkeit aus dem Schutzbereich des Art. 8 GG herausfiel.
Zwar haben sich einzelne Versammlungsteilnehmer (vom Beklagten als "polizeilich
relevante Spitzengruppe" bezeichnet, vgl. den Verlaufsbericht, Seite 18 unten des
Verw.vorgangs) gewalttätig verhalten. Konkrete Anhaltspunkte dafür, dass die Kläger
über die bloße Anwesenheit hinaus aktiv an den Ausschreitungen beteiligt waren,
Unterstützung leisteten oder sich zumindest äußerlich erkennbar mit den Gewalttätern
solidarisierten, so dass ihnen deren Verhalten zuzurechnen wäre, sind aber weder von
dem Beklagten vorgetragen noch sonst ersichtlich. Im Schlussvermerk des Verfahrens
StA X, 50 Js 191/09 betreffend die Klägerin zu 1. heißt es, der Beschuldigten könne
keine Tathandlung konkret zugeordnet werden (Bl. 18 der Strafakte). Soweit sich in der
Akte (Bl. 8) ein Foto der Klägerin mit vor das Gesicht gezogenem Schal befindet,
handelt es sich offenbar um eines der Fotos, die von der Polizei unmittelbar nach dem
Verlassen der Einschließung zwecks Beweissicherung vor Verbringung der jeweiligen
Person zur Gefangenensammelstelle im Präsidium gemacht wurden; die Klägerin zu 1.
dürfte dabei von dem Fotografen gebeten worden sein, den Schal vor das Gesicht zu
ziehen, um bei einem Abgleich mit aufgenommenem Videomaterial ihre eventuelle
Täterschaft belegen zu können. Auch der Klägerin zu 2. ließ sich nach Auswertung des
Beweismaterials keine Tathandlung konkret zuordnen (siehe Bl. 19 der Strafakte
50 Js 151/09). Hinsichtlich des Klägers zu 3. heißt es im Schlussvermerk zu dem
Verfahren 50 Js 7765/08, auf den gefertigten Videoaufnahmen sei er nicht zu
identifizieren; es hätten sich auch sonst keine konkreten Hinweise ergeben, dass er sich
in irgendeiner Form aktiv an Aktionen aus dem Aufzug beteiligt habe; bei seiner
Einlieferung seien keine beweisrelevanten Gegenstände gefunden worden (Bl. 21 der
Strafakte).
53
2. Die Einschließung griff in den Schutzbereich des Art. 8 GG ein. Die Kläger wurden
durch sie daran gehindert, weiter an der Versammlung teilzunehmen.
54
a) Dieser Eingriff ist nicht auf der Grundlage des Versammlungsgesetzes gerechtfertigt.
55
aa) Gemäß § 15 Abs. 3 VersG kann eine Versammlung aufgelöst werden, und zwar
56
(u.a.) dann, wenn sie - wie hier nicht angemeldet ist oder wenn die Voraussetzungen für
ein Verbot gegeben sind, etwa weil eine nicht anders abwendbare unmittelbare Gefahr
für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung besteht (§ 15 Abs. 1 VersG). Eine solche
gegen die gesamte Versammlung - also auch die friedlichen Teilnehmer - gerichtete
Maßnahme hat der Beklagte ausdrücklich nicht getroffen. Nach seinem eigenen
Vorbringen wollte er von einer Auflösung absehen, um den friedlichen Teilnehmern die
Fortführung des Aufzugs zu ermöglichen.
bb) Der Beklagte hat die Einschließung vielmehr auf §§ 18 Abs. 3, 19 Abs. 4, 17a Abs. 3
VersG gestützt. Nach diesen Vorschriften kann die Polizei Teilnehmer an einer
Versammlung unter freiem Himmel (§ 18 Abs. 3 VersG) und Teilnehmer an einem
Aufzug (§ 19 Abs. 4 VersG), welche die Ordnung gröblich stören, sowie Teilnehmer, die
gegen das Schutzwaffen- oder Vermummungsverbot des § 17a VersG verstoßen (§ 17a
Abs. 4 Satz 2 VersG), von der Veranstaltung ausschließen.
57
Die Einschließung der Kläger war jedoch von den o.g. Vorschriften nicht gedeckt. Diese
waren hier weder von den tatbestandlichen Voraussetzungen noch von der Rechtsfolge
her einschlägig:
58
(1) Es lässt sich nicht feststellen, dass die Kläger bei ihrer Teilnahme an der
Versammlung gröblich die Ordnung störten oder gegen das Schutzwaffen- oder
Vermummungsverbot verstießen.
59
Der Begriff der Ordnung i.S. der §§ 18 Abs. 3, 19 Abs. 4 VersG stellt auf die innere und
äußere Ordnung der Versammlung ab. Versammlungen sollen geordnet ablaufen, damit
sich alle Teilnehmer entfalten und das Grundrecht der Versammlungsfreiheit
verwirklichen können. Vor dem Hintergrund der Bedeutung des Versammlungsrechtes
ist eine unmittelbare Gefahr für die öffentliche Ordnung erforderlich. Nur erhebliche
Beeinträchtigungen der Schutzgüter erlauben einen so schwer wiegenden Eingriff in die
Versammlungsfreiheit wie den Ausschluss. Entgegen der Ansicht der Kläger sind dabei
sowohl Aktionen innerhalb der Versammlung als auch das Verhalten der Teilnehmer
nach außen, z.B. gegen Nichtteilnehmer oder Sachen gerichtete Handlungen, in den
Blick zu nehmen. Nach außen hin können z.B. Meinungskundgaben in beleidigender
Form oder mit verfassungsfeindlichem Inhalt, Sachbeschädigungen oder gar
Landfriedensbruch unmittelbare Gefährdungen der öffentlichen Ordnung sein. Adressat
des Ausschlusses ist stets der konkrete Teilnehmer, der durch sein Verhalten die
Ordnung gröblich stört.
60
Vgl. zu alledem Kay/Böcking, Versammlungsrecht, 1994, Rz. 266 ff.
61
Zwar kam es hier im Verlauf des Aufzuges zu nicht unerheblichen gewalttätigen
Ausschreitungen, die wohl einen Ausschluss der jeweiligen Täter rechtfertigten. Es lässt
sich aber nicht feststellen, dass die gröbliche Störung der Ordnung gerade (auch) von
dem Verhalten der Kläger ausging. Konkrete Anhaltspunkte dafür, dass diese sich an
den Übergriffen gegen Polizeibeamte etc. beteiligten, bestehen nicht; auch liegen keine
Erkenntnisse vor, dass sie gegen die Verbote des § 17a Abs. 1 oder 2 VersG
verstießen. Die Ausschreitungen anderer Versammlungsteilnehmer müssen sie sich
nicht zurechnen lassen. Es liegt auf der Hand, dass hierfür die bloße Teilnahme an der
Versammlung nicht ausreicht. Sonstige Gründe für eine Zurechnung, etwa wegen einer
nach außen wahrnehmbaren Solidarisierung mit den Gewalttätern oder sonstiger
Unterstützungsleistungen, sind nicht erkennbar und werden auch von dem Beklagten
62
nicht geltend gemacht.
(2) Als Rechtsfolge des Ausschlusses sieht das Gesetz vor, dass die betroffene Person
die Versammlung sofort zu verlassen hat (vgl. §§ 18 Abs. 1, 11 Abs. 2 VersG). Damit
stimmte die Zielrichtung der vom Beklagten vorgenommenen Einschließung nicht
überein. Der Beklagte wollte mit dieser Maßnahme nicht erreichen, dass die Kläger sich
entfernten; im Gegenteil ging es ihm darum, sie am Ort festzuhalten, damit sie zwecks
Aufnahme der Personalien sowie Fertigung von Fotos zur Gefangenensammelstelle im
Präsidium gebracht werden konnten; dort sollten sie (bei freien Kapazitäten)
erkennungsdienstlich behandelt und vernommen werden. Die Pflichten
ausgeschlossener Versammlungsteilnehmer stehen jedoch nicht zur Disposition der
Polizei. Diese darf das Instrument des Ausschlusses sofern die tatbestandlichen
Voraussetzungen erfüllt sind - nur mit der vom Gesetz vorgegebenen Zielrichtung
(Verlassen der Versammlung), also zu versammlungsrechtlichen Zwecken anwenden,
nicht jedoch in den Dienst der Strafverfolgung stellen. Ist - wie hier - letzteres der Fall,
liegt eine Zweckentfremdung des Ausschlusses vor. Der Beklagte bezeichnete die
Einschließung nur verbal als Ausschluss; der Sache nach handelte es sich um eine
Ingewahrsamnahme zwecks Durchführung weiterer polizeilicher Maßnahmen.
63
b) Mit einer Ermächtigungsnorm außerhalb des Versammlungsgesetzes, etwa nach
allgemeinem Polizeirecht oder Strafprozessrecht, lässt sich der durch die Einschließung
erfolgte Eingriff in den Schutzbereich des Art. 8 GG ebenfalls nicht rechtfertigen.
64
aa) Der Beklagte hat die Einschließung ausdrücklich als Ausschluss bezeichnet und sie
als solche gegenüber den Teilnehmern mittels Lautsprecherdurchsage bekannt
gegeben. Daran muss er sich festhalten lassen. Ein Auswechseln der
Ermächtigungsgrundlage durch das Gericht kommt bei Ermessensentscheidungen (um
eine solche handelt es sich hier) nicht in Betracht.
65
bb) Abgesehen davon schließt das Versammlungsgesetz als lex specialis für
versammlungsbezogene Eingriffe die subsidiäre Anwendung allgemeiner
polizeirechtlicher Ermächtigungsnormen aus. In den durch Art. 8 GG "polizeifest"
geschützten Rechtsstatus der Versammlungsteilnehmer kann zum Zwecke der
Gefahrenabwehr ausschließlich nach Maßgabe des Versammlungsgesetzes
eingegriffen werden.
66
Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 2. März 2001 - 5 B 273/01 -, DVBl 2001, 839 ff.; ferner
VG Hamburg, Urteil vom 30. Oktober 1986 12 VG 2442/Sb -, NVwZ 1987, 829 ff.
67
cc) Ein repressives polizeiliches Tätigwerden gegenüber Teilnehmern an einer nicht
aufgelösten Versammlung kommt mit Blick auf die verfassungsrechtlich geschützte
Versammlungsfreiheit und den rechtsstaatlichen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nur
in besonders gelagerten Ausnahmefällen in Betracht.
68
Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 2. März 2001 - 5 B 273/01 -, , Rz. 23.
69
Dafür, dass ein solcher hier vorliegt, ist nichts ersichtlich. Ungeachtet dessen scheiden
Vorschriften der StPO als Ermächtigungsgrundlage für die Einschließung jedoch auch
deshalb aus, weil ihre rechtlichen Voraussetzungen nicht erfüllt sind. In Betracht
kommen lediglich die Festhaltung zum Zwecke der Identitätsfeststellung (§ 163b Abs. 1
Satz 2 StPO) und die vorläufige Festnahme (§ 127 StPO).
70
(1) Gemäß § 163b Abs. 1 Satz 1 StPO können die Staatsanwaltschaft und die Beamten
des Polizeidienstes die zur Feststellung der Identität erforderlichen Maßnahmen treffen,
wenn jemand einer Straftat verdächtig ist. Der Verdächtige darf festgehalten werden,
wenn die Identität sonst nicht oder nur unter erheblichen Schwierigkeiten festgestellt
werden kann (Satz 2 der Vorschrift). Ein Verdacht im Sinne dieser Vorschrift besteht,
wenn der Schluss auf die Begehung einer Straftat gerechtfertigt ist und Anhaltspunkte
vorliegen, die die Täterschaft als möglich erscheinen lassen.
71
Vgl. Meyer-Goßner, StPO, 52. Aufl. 2009, § 163b Rz. 4.
72
Solche Anhaltspunkte sind indessen nicht schon dann gegeben, wenn jemand an einer
Versammlung teilnimmt, aus der heraus durch einzelne andere oder eine Minderheit
Gewalttaten begangen werden. Auch insoweit kommt es vielmehr auf den konkreten
Versammlungsteilnehmer an; der Tatverdacht muss individuell bestehen. Auf die oben
(unter I.1.) wiedergegebenen Ausführungen des Bundesgerichtshofs
73
- Urteil vom 24. Januar 1984 - VI ZR 37/82 -, BHGZ 89, 383 ff. -
74
zur Mittäterschaft oder Beihilfe "passiv" bleibender Versammlungsteilnehmer wird
verwiesen. Da sich Gewalttätigkeiten kaum jemals ganz ausschließen lassen, liefe
sonst nahezu jeder Versammlungsteilnehmer Gefahr, allein wegen des
Gebrauchmachens vom Grundrecht des Art. 8 GG mit Strafverfolgungsmaßnahmen
überzogen zu werden. Im Fall der Kläger lagen, wie dargelegt, im Zeitpunkt des
Einschreitens keine Anhaltspunkte dafür vor, dass sie über ihre bloße Anwesenheit
hinaus aktiv an den Ausschreitungen beteiligt waren, Unterstützung leisteten oder sich
zumindest äußerlich erkennbar mit den Gewalttätern solidarisierten. Insbesondere
gehörten sie nicht zu den 33 "qualifizierten" Straftätern, die bereits während des Aufzugs
individuell von der Polizei (wohl durch Videoüberwachung) in den Blick genommen
worden waren und letztlich den Anlass für die Einschließung gegeben hatten.
75
Dass die Polizei im Zeitpunkt des Einschreitens selbst nicht jeden einzelnen im
vorderen Bereich des Aufzugs aufhältigen und dann eingeschlossenen Teilnehmer für
tatverdächtig hielt, geht in aller Deutlichkeit aus dem Einsatztagebuch hervor. In dem
Eintrag für 15.22 Uhr (Bl. 144 des Verw.vorgangs) heißt es:
76
"Ein Zug der 9. BPH wird herangeführt, um den harten Kern (ca. 20 Personen) aus dem
Aufzug herauszutrennen und zu separieren".
77
Der Eintrag für 15.42 Uhr (Bl. 148 des Verw.vorgangs) lautet:
78
"Die VT, die aus dem Aufzug separiert werden sollen, haben sich weiter in die Mitte
begeben, da sie zuvor mit Pfefferspray bedacht worden waren. Es ist beabsichtigt, diese
dort herauszutrennen, und die übrigen VT in den ursprünglichen Aufzugsweg zu
drängen, um ihnen nach wenigen Metern eine Alternativstrecke anzubieten."
79
Demnach war ein Einschreiten nur gegen den harten Kern, bestehend aus ca. 20
Personen, beabsichtigt. Diese sollten von den anderen Versammlungsteilnehmern
separiert werden. Aus welchem Grund die Polizei dann ihr Vorhaben so nicht
durchführte, sondern pauschal Zugriff auf 194 Personen (über die Hälfte aller
Versammlungsteilnehmer) nahm, ist nach Aktenlage unklar. Auf eine kurzfristige
80
Änderung des Lagebildes mit der Folge eines plötzlich festgestellten individuellen
Tatverdachts gegen jede einzelne im vorderen Bereich aufhältige Person dürfte die
spontane Ausweitung der Maßnahme jedenfalls nicht zurückzuführen sein. Dagegen
spricht zum einen der zuletzt zitierte Eintrag in Einsatztagebuch, der die Situation
unmittelbar vor Durchführung der Maßnahme wiedergibt, und zum anderen der
polizeiliche Vermerk vom 3. August 2008, in dem auf Seite 3 (Bl. 66 der Gerichtsakte)
ausgeführt ist:
"Letztlich fand, noch bevor die Personen innerhalb des Demonstrationszuges getrennt
werden konnten, teilweise eine Vermengung der einzelnen Gruppen statt, d.h.
Personen, die zuvor noch in der 1. Reihe waren, gingen dann in den hinteren Teil des
Demonstrationszuges und umgekehrt".
81
Angesichts dieser Vermischung hing es offensichtlich nicht von einem individuellen
Tatverdacht, sondern mehr oder weniger vom Zufall ab, ob ein
Versammlungsteilnehmer zu der eingeschlossenen Gruppe gehörte oder nicht. Nahe
liegend erscheint es daher, dass taktische Erwägungen und faktische Gegebenheiten -
etwa die örtliche Möglichkeit eines "Einschnitts" in den Aufzug - zu der Ausweitung des
polizeilichen Zugriffs führten, und dass sich die Maßnahme anschließend zum
"Selbstläufer" entwickelte.
82
(2) Allerdings kann gemäß § 163b Abs. 2 StPO auch eine solche Person zur
Feststellung der Identität festgehalten werden, die einer Straftat nicht verdächtig ist,
wenn und soweit dies zur Aufklärung einer Straftat geboten ist und nicht außer
Verhältnis zur Bedeutung der Sache steht. Eine solche Maßnahme hat der Beklagte
indessen nicht getroffen. Die Kläger wurden nicht als Zeugen festgehalten, sondern als
potenzielle Beschuldigte. Nach dem Vorbringen des Beklagten bestand gegen alle
eingeschlossenen Personen der dringende Verdacht, Täter oder Teilnehmer eines
Landfriedensbruchs zu sein.
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Vgl. den Bericht der Bereitschaftspolizei vom 3. Juni 2009 zur Fertigung der
Klageerwiderung (Bl. 6 des Verw.vorgangs).
84
Demgemäß sind Strafverfahren gegen sie eingeleitet worden.
85
(3) Die vorläufige Festnahme setzt gemäß § 127 Satz 1 StPO voraus, dass jemand auf
frischer Tat betroffen oder verfolgt wird und der Flucht verdächtig ist oder seine Identität
nicht sofort festgestellt werden kann. Wie sich aus obigen Ausführungen ergibt, lagen
auch die Voraussetzungen dieser Vorschrift im Zeitpunkt des Einschreitens nicht vor.
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II. Die Folgemaßnahmen (weiteres Festhalten der Kläger innerhalb der Einschließung,
Identitätsfeststellung, Fertigung von Fotos, Verbringung zum Polizeipräsidium,
Festhalten in Bussen im Hof des Präsidiums, erneute Fertigung von Fotos im Präsidium,
weiteres Festhalten der Klägerin zu 2. im Präsidium) teilen die rechtliche Bewertung der
Einschließung, sind also ebenfalls rechtswidrig. Sämtlichen Folgemaßnahmen stand
entgegen, dass die Kläger als nicht rechtmäßig ausgeschlossene Teilnehmer an einer
Versammlung unter dem Schutz des Art. 8 GG standen und in strafprozessualer Hinsicht
kein individueller Tatverdacht gegen sie bestand.
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1. Gefahrenabwehrrechtlich gilt auch hinsichtlich der Folgemaßnahmen die
"Polizeifestigkeit" der Versammlungsfreiheit. Eine Aufspaltung dahingehend, dass die
88
Einschließung als Eingriff in den Schutzbereich des Art. 8 GG rechtswidrig war, die zwar
später getroffenen, aber an die Einschließung anknüpfenden, durch sie erst
ermöglichten Maßnahmen dagegen nicht mehr an Art. 8 GG zu messen sind, würde der
Bedeutung des Grundrechts nicht gerecht. Die Versammlungsfreiheit schützt das freie
Zusammenkommen, die eigentliche Versammlung und das freie Auseinandergehen der
Teilnehmer gleichermaßen.
Vgl. VG Hamburg, Urteil vom 30. Oktober 1986 12 VG 2442/Sb -, NVwZ 1987, 829 ff.
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Ohne Gewährleistung des freien Zu- und Abgangs bestünde die Möglichkeit, die
Ausübung des Freiheitsrechts systemwidrig mittels dafür nicht vorgesehener
allgemeiner polizeirechtlicher Eingriffsermächtigungen zu beeinträchtigen und faktisch
auszuschließen. Wer damit rechnen muss, dass er nach seiner Teilnahme an einer nicht
verbotenen und auch nicht aufgelösten Versammlung einer Identitätsfeststellung
unterzogen, fotografiert und zum Polizeipräsidium gebracht wird, dürfte es sich genau
überlegen, ob er tatsächlich von seinem Grundrecht auf Versammlungsfreiheit Gebrauch
machen will.
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2. Einem repressiven Vorgehen auf Grundlage der StPO stand auch hinsichtlich der
Folgemaßnahmen das Fehlen eines individuell gegen die Kläger gerichteten
Tatverdachts entgegen. Ob darüber hinaus das Verbringen zum Polizeipräsidium und
die dort folgenden Maßnahmen gegen das Übermaßverbot verstießen, nachdem bereits
am Ort der Versammlung die Personalien der Kläger aufgenommen und Fotos gefertigt
worden waren, kann nach alledem aus sich beruhen.
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Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
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Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 709 ZPO.
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Die Kammer hat gemäß §§ 124a Abs. 1 Satz 1, 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO die Berufung
zugelassen, weil die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat.
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