Urteil des VG Düsseldorf vom 05.11.2010

VG Düsseldorf (kläger, bundesamt für migration, politische tätigkeit, bundesrepublik deutschland, verfolgung, flüchtlingseigenschaft, begründung, syrien, botschaft, umstände)

Verwaltungsgericht Düsseldorf, 21 K 4308/10.A
Datum:
05.11.2010
Gericht:
Verwaltungsgericht Düsseldorf
Spruchkörper:
21. Kammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
21 K 4308/10.A
Tenor:
Die Beklagte wird unter teilweiser Aufhebung des Bescheides des
Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 17. Juni 2010 ver-
pflichtet, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 AsylVfG
i.V.m. § 60 Abs. 1 AufenthG zuzuerkennen.
Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens, für das Gerichtskosten
nicht erhoben werden.
Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der
Vollstreckungsschuldner darf die Vollstreckung gegen Sicherheits-
leistung oder Hinterlegung in Höhe des beizutreibenden Betrages
abwenden, wenn nicht der Vollstreckungsgläubiger zuvor Sicherheit in
gleicher Höhe leistet.
Der am 00.0.1988 geborene Kläger ist syrischer Staatsangehöriger kurdischer
Volkszugehörigkeit. Er reiste nach eigenen Angaben im Juli 2006 auf dem Landweg in
die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 3. August 2006 einen Asylantrag.
Zur Begründung trug er vor, er habe im März 2006 in B an einer Demonstration
teilgenommen. Am nächsten Tag hätten ihn Sicherheitskräfte zu Hause gesucht,
woraufhin er ausgereist sei. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge lehnte den
Asylantrag mit Bescheid vom 11. August 2006 ab. Zur Begründung führte es aus, die
Angaben des Klägers seien nicht glaubhaft. Die hiergegen erhobene Klage wies das
Verwaltungsgericht Meiningen mit Urteil vom 14. August 2008 ab (8 K 20198/06 Me).
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Der Kläger stellte am 4. Juni 2010 einen weiteren Asylantrag. Zur Begründung trug er
vor, als politisch engagierter Mensch besuche er regelmäßig einen Kulturverein in F. Er
sei Mitglied der Yekiti-Partei und nehme regelmäßig an politischen Veranstaltungen und
Demonstrationen teil, so etwa am 11. März 2010 vor der syrischen Botschaft in C.
Zudem habe er bei einem Telefonat erfahren, dass Geheimdienstmitarbeiter bei seinem
Onkel und bei seinem Großvater nach ihm gefragt hätten.
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Das Bundesamt lehnte mit
Bescheid vom 17. Juni 2010
eines weiteren Asylverfahrens ebenso wie den Antrag auf Abänderung der Feststellung
zu § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG ab. Zur Begründung führte es im Wesentlichen aus,
Gründe für ein Wiederaufgreifen des Verfahrens lägen nicht vor. Der Kläger habe nicht
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dargelegt, seit wann er politisch in welcher Weise tätig geworden sei. Eine niedrig
profilierte Tätigkeit für die Yekiti-Partei ziehe keine Repressalien nach sich. Der Inhalt
eines Telefonates falle in den Bereich nicht verwertbarer Spekulation. Schließlich seien
Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG weder vorgetragen noch sonst
ersichtlich.
Der Kläger hat
am 5. Juli 2010 die vorliegende Klage
2010 Anträge auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes gestellt.
Antrag im Verfahren 21 L 1316/10.A mit Beschluss vom 19. August 2010 stattgegeben.
Zur Begründung hat es im wesentlichen ausgeführt, die Kammer wolle vor dem
Hintergrund verschiedener Berichte zu Festnahmen und Inhaftierungen bei
Rückführungen nach Syrien nähere Informationen zur Situation zurückgeführter
Asylbewerber erhalten. Der Kläger legt zur Begründung seiner Klage eine
Bescheinigung der Europäischen Sektion der Kurdischen Yekiti-Partei in Syrien sowie
zwei Bescheinigungen vor, dass er am 11. März 2010 vor der syrischen Botschaft
demonstriert habe. Des Weiteren habe er vom 21. bis 23. Oktober 2010 an einer
Mahnwache vor der syrischen Botschaft in C teilgenommen.
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Der Kläger beantragt,
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die Beklagte unter teilweiser Aufhebung des Bescheides des Bundeamtes
für Migration und Flüchtlinge vom 17. Juni 2010 zu verpflichten, ihm die
Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 AsylVfG i.V.m. § 60 Abs. 1 AufenthG
zuzuerkennen,
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hilfsweise,
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festzustellen, dass in seiner Person Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2
bis 7 AufenthG hinsichtlich Syriens vorliegen.
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Die Beklagte beantragt unter Bezugnahme auf den angefochtenen Bescheid
schriftsätzlich,
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die Klage abzuweisen.
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Das Gericht hat den Kläger in der mündlichen Verhandlung angehört. Wegen der
Einzelheiten wird auf das Sitzungsprotokoll Bezug genommen.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der
Streitakte, der Gerichtsakten 21 L 1316/10.A und 21 L 1317/10.A, der beigezogenen
Verwaltungsvorgänge der Beklagten und der Ausländerbehörde des Landrates des
Kreises O sowie die Auskünfte und Erkenntnisse gemacht, auf die die
Prozessbevollmächtigte des Klägers mit der Ladung hingewiesen worden ist.
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Entscheidungsgründe:
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Das Gericht kann durch den Einzelrichter entscheiden, nachdem ihm der Rechtsstreit
durch Beschluss der Kammer vom 23. August 2010 zur Entscheidung übertragen
worden ist (§ 76 Abs. 1 AsylVfG).
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Die Klage hat Erfolg. Sie ist zulässig und begründet.
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Der angefochtene Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom
17. Juni 2010 ist – soweit er angefochten ist – rechtswidrig und verletzt den Kläger in
seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 und 5 VwGO). Dieser hat im maßgeblichen Zeitpunkt der
mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 AsylVfG) einen Anspruch auf
Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 AsylVfG i.V.m. § 60 Abs. 1
Aufenthaltsgesetz (AufenthG).
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Entgegen der Ansicht der Beklagten liegen zunächst die Voraussetzungen des § 71
Abs. 1 Satz 1 AsylVfG i.V.m. § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG für die Durchführung eines
weiteren Asylverfahren vor. Der Kläger hat fristgerecht einen Asylfolgeantrag gestellt
und eine Änderung der Sachlage durch seine politische Tätigkeit dargestellt.
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Bejaht das Gericht, anders als das Bundesamt, die Voraussetzungen für ein
Wiederaufgreifen des Asylverfahrens, kann es die Sache nicht an das Bundesamt zur
Durchführung eines weiteren Asylverfahrens "zurückverweisen", sondern muss über die
geltend gemachten Ansprüche selbst entscheiden.
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Vgl. zur Vorgängervorschrift des § 51 Abs. 1 AuslG: Bundesverwaltungsgericht
(BVerwG), Urteil vom 18. Februar 1992 - 9 C 59.91 -, DVBl. 1992, 843.
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Gemäß § 3 Abs. 1 AsylVfG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens über
die Rechtsstellung der Flüchtlinge, wenn er in dem Staat, dessen Staatsangehörigkeit er
besitzt oder in dem er als Staatenloser seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, den
Bedrohungen nach § 60 Abs. 1 AufenthG ausgesetzt ist. Nach § 60 Abs. 1 AufenthG darf
ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine
Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu
einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht
ist. Eine Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe
kann auch dann vorliegen, wenn die Bedrohung des Lebens, der körperlichen
Unversehrtheit oder der Freiheit allein an das Geschlecht anknüpft. Eine Verfolgung im
Sinne des Satzes 1 kann ausgehen von dem Staat (Buchstabe a), von Parteien oder
Organisationen, die den Staat oder wesentliche Teile des Staatsgebietes beherrschen
(Buchstabe b) oder von nichtstaatlichen Akteuren (Buchstabe c), sofern die unter den
Buchstaben a) und b) genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen
erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor der Verfolgung
zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht
vorhanden ist oder nicht; es sei denn, es besteht eine inländische Fluchtalternative. Für
die Feststellung, ob eine Verfolgung nach Satz 1 vorliegt, sind Art. 4 Abs. 4 sowie die
Art. 7 bis 10 der Qualifikationsrichtlinie (QLR),
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Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29.04.2004 über Mindestnormen für die
Anerkennung und den Status von Drittstaatsgehörigen oder Staatenlosen als
Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und
über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. EU Nr. L 304 S. 12),
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ergänzend anzuwenden.
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Anspruch auf Flüchtlingsschutz hat derjenige, dem dort wegen der oben angeführten
unveräußerlichen Merkmale Verfolgungsmaßnahmen mit Gefahr für Leib oder Leben
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oder schwerwiegende Beeinträchtigungen seiner persönlichen Freiheit drohen und dem
deshalb nicht zuzumuten ist, in seinem Land zu bleiben oder dorthin zurückzukehren,
weil die ihm drohenden Verfolgungsmaßnahmen an Intensität und Schwere über das
hinausgehen, was die Bewohner des Heimatstaates auf Grund des dort herrschenden
Systems allgemein hinzunehmen haben. Ob dem Betroffenen Verfolgung gerade in
Anknüpfung an ein asylerhebliches Merkmal droht, ist nach der erkennbaren objektiven
Gerichtetheit der befürchteten Maßnahme zu ermitteln, nicht nach den subjektiven
Gründen oder Vorstellungen, die den Verfolgenden dabei leiten.
Nach Maßgabe dieser Grundsätze und unter Würdigung der beigezogenen
Verfahrensakten, des Vortrags des Klägers in der mündlichen Verhandlung ist das
Gericht zu der Überzeugung gelangt, dass der Kläger die tatsächlichen und rechtlichen
Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft erfüllt, weil ihm im
Falle einer Rückkehr nach Syrien Verfolgung im Sinne von § 60 Abs. 1 AufenthG droht.
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Der Kläger hat gegenüber dem Gericht glaubhaft und überzeugend dargelegt, dass er
dauerhaft engagiert für die Yekiti-Partei tätig ist. Er konnte die Ziele der Partei sowie
deren Veranstaltungen und Arbeit eingehend darstellen. Er hat des weiteren unter
Vorlage von Bescheinigungen und durch Fotos glaubhaft dargelegt, dass er in diesem
Jahr bereits zwei Mal an Demonstrationen vor der syrischen Botschaft in C
teilgenommen hat. Er hat glaubhaft berichtet, dass die durchaus überschaubare Zahl
von Teilnehmern von Mitarbeitern der Botschaft mittels Filmaufnahmen festgehalten
wurden. Diese Praxis ist auch gerichtsbekannt.
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Die Kammer hat jüngst – im Zusammenhang mit der Prüfung von
Abschiebungsverboten – nach umfassender Auswertung aller vorliegenden
Erkenntnisse entschieden, dass im Falle des Hinzutretens besonderer
gefahrerhöhender Umstände, die geeignet sind, bei den syrischen Sicherheitskräften
den Verdacht zu begründen, dass der Betreffende sich in Syrien oder im Ausland gegen
das syrische Regime betätigt hat, die beachtliche Wahrscheinlichkeit besteht, einer
längerdauernden Befragung und Inhaftierung unterzogen zu werden, wobei die konkrete
Gefahr der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder
Bestrafung besteht. Die Anforderungen an die Annahme solcher gefahrerhöhender
Umstände seien nach der aktuellen Erkenntnislage abzusenken. Das Vorliegen solcher
gefahrerhöhender Umstände bedürfe dabei nach wie vor einer eingehenden
Überprüfung des Einzelfalles.
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Vgl. im Einzelnen Urteil der Kammer vom 24. September 2010 – 21 K 4217/09.A -,
www.nrwe.de.
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Das Gericht kommt nach sorgfältiger Prüfung des vorliegenden Einzelfalles zu dem
Ergebnis, dass dem Kläger im Falle einer Rückkehr nach Syrien Verfolgung im Sinne
von § 60 Abs. 1 AufenthG droht, weil in seiner Person gefahrerhöhende Umstände
begründet sind.
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Der Flüchtlingsanerkennung steht auch nicht die Vorschrift des § 28 Abs. 2 AsylVfG
entgegen. Danach gilt Folgendes: "Stellt der Ausländer nach Rücknahme oder
unanfechtbarer Ablehnung eines Asylantrags erneut einen Asylantrag und stützt diesen
auf Umstände, die er nach Rücknahme oder unanfechtbarer Ablehnung seines früheren
Antrags selbst geschaffen hat, kann in einem Folgeverfahren in der Regel die
Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt werden."
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Vgl. hierzu ausführlich BVerwG, Urteil vom 24. September 2009 – 10 C 25/08 -, juris.
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Die damit aus Sicht des Bundesverwaltungsgerichts verbundene Regelvermutung ist im
vorliegenden Einzelfall aus Sicht des Gerichts widerlegt. Dies ergibt sich aus folgenden
Erwägungen: Der Kläger war bei seiner Einreise erst etwa achtzehn Jahre und zum
Zeitpunkt des Abschlusses des Asylerstverfahren etwa zwanzig Jahre alt. Dies ist nur
geringfügig älter als die seitens des Bundesverwaltungsgerichts genannten
Altersgrenzen. Des weiteren ist die Person des Klägers zu würdigen, der nach
Auffassung des Gerichts erst nach Abschluss des Erstverfahrens die Möglichkeiten
einer freien politischen Betätigung entdeckt hat. Nicht zuletzt kam der Kläger bereits im
Heimatland in einen ersten Kontakt zu politischem Wirken zu Gunsten der Rechte der
Kurden. Damit kommt es auf die von Seiten des Bundesverwaltungsgerichts abgelehnte
Möglichkeit einer Anwendung des § 28 Abs. 1 Satz 2 AsylVfG für den Regelausschluss
nach § 28 Abs. 2 AsylVfG nicht mehr an.
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Schließlich gibt es keine Anhaltspunkte für das Vorliegen der Voraussetzungen eines
der die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ausschließenden Tatbestände des § 3
Abs. 2 und 3 AsylVfG oder des § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG. Dem Kläger ist daher nach
§ 3 Abs. 4 AsylVfG die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.
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Einer Entscheidung über den lediglich hilfsweise gestellten Antrag,
Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG festzustellen, bedarf es deshalb
nicht mehr.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Gerichtskostenfreiheit folgt
aus § 83 b AsylVfG.
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Dem Ausspruch zur vorläufigen Vollstreckbarkeit liegt § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11,
711 ZPO zugrunde.
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