Urteil des VG Düsseldorf vom 09.10.2006

VG Düsseldorf: politische verfolgung, persönliche freiheit, bundesamt für migration, auskunft, organisation, unmittelbare gefahr, ausländer, folter, anhörung, untätigkeitsklage

Verwaltungsgericht Düsseldorf, 4 K 2900/05.A
Datum:
09.10.2006
Gericht:
Verwaltungsgericht Düsseldorf
Spruchkörper:
4. Kammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
4 K 2900/05.A
Tenor:
Ziffern 1, 2 und 4 des Bescheides des Bundesamtes für Migration und
Flüchtlinge vom 1. Februar 2006 werden aufgehoben.
Die Beklagte wird verpflichtet, den Kläger als Asylberechtigten
anzuerkennen und festzustellen, daß hinsichtlich der Türkei die
Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG vorliegen.
Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens, für das Gerichtskosten
nicht erhoben werden.
Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die
Beklagte darf die Vollstreckung gegen Sicherheitsleistung in Höhe von
110% des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der Kläger
vorher Sicherheit in derselben Höhe leistet.
Tatbestand:
1
Der Kläger ist nach eigenen Angaben der am 00.0.1965 in Pasacik Köyü geborene C,
Staatsangehöriger der Türkei kurdischer Volkszugehörigkeit. Er beantragte am 21. Juli
2004 erstmals in Deutschland Asyl. Mit anwaltlichem Schreiben vom 8. Juli 2004 ließ er
vortragen: Er sei 1994 festgenommen und gefoltert worden; er sei als THKP-C-Mitglied
angeklagt worden; bis 2002 sei er in Haft gewesen. Zwischenzeitlich habe er eine
weitere Haftstrafe von einem Jahr wegen Veröffentlichung der Werke von Mahir Cayan
erhalten. Er sei nach Art. 399 tStPO entlassen worden, der dem § 455 StPO
nachgebildet sei. Er sei zur Überprüfung vorgeladen worden; da er eine erneute
Inhaftierung gefürchtet habe, sei er nach Deutschland geflohen. Mit dem Schreiben legte
der Kläger einen Haftverschonungsbeschluß der Staatsanwaltschaft vom 15. August
2003 sowie drei ärztliche Unterlagen vor.
2
Der Kläger wurde am 21. Juli 2004 beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge
(damals noch: Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge, im folgenden:
Bundesamt) zu dem Asylantrag angehört. Er gab dabei im wesentlichen an: Er sei ein
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politischer Mensch, ein Revolutionär. Wegen seiner Tätigkeit für die Dev Yol sei er
mehrmals in Haft gewesen. Zwischen 1985 und 1987 habe er seinen Militärdienst
geleistet. 1992 sei er aus der Haft entlassen worden. Er habe dann wieder mit seinen
politischen Tätigkeiten begonnen. 1994 habe es eine breit angelegte Operation gegen
die Dev Yol gegeben. An einem Nachmittag sei er bei Rückkehr in seine Wohnung in
Istanbul von Polizisten festgenommen worden. Insgesamt seien 14 Personen
festgenommen worden, darunter auch zwei weitere Bewohner seiner Wohnung. Er sei
17 Tage lang auf der Wache festgehalten und dabei oft gefoltert worden. Trotz der Folter
habe er der Polizei keine Informationen über die Dev Yol gegeben und abgestritten, daß
er Angehöriger der Organisation sei. Jedoch habe er schließlich, wie von ihm verlangt,
Schriftstücke unterschrieben, denen zufolge er an bewaffneten Überfällen beteiligt
gewesen sei. Die Schriftstücke habe er vorher nicht lesen können und ihren Inhalt erst
nachträglich erfahren. Am 7. Tag seien sie dem Staatssicherheitsgericht vorgeführt
worden. Dieses habe die Sache zuerst an das 2. Strafgericht weitergeleitet. Dort sei die
Sache verhandelt und der politische Bezug festgestellt worden. Letztlich habe doch das
Staatssicherheitsgericht entschieden und ihn zu 36 Jahren Haft verurteilt. 1996 sei er
erneut verurteilt worden. Dies sei wegen der Neuveröffentlichung von Schriften des
Gründers der THKP-C, Mahir Cayan, gewesen. Zwischen 1994 und 2002 sei er in
verschiedenen Gefängnissen sowohl innerhalb als auch außerhalb Istanbuls inhaftiert
gewesen. Von seiten der Gefängnisleitung sei psychischer Terror ausgeübt worden. Die
politischen Gefangenen hätten sich aber zu wehren gewußt, vor allem mit dem Mittel
des Hungerstreiks. Er selbst habe an zahlreichen Hungerstreiks teilgenommen, zuletzt
61 Tage zwischen Januar und März 2001. Das habe er in ein Todesfasten
umgewandelt. Ab dem 15. Tag sei alles für ihn verschwommen gewesen. Am 61. Tag
sei dann eingegriffen worden. Die fastenden Häftlinge seien von einer Delegation von
Ärzten untersucht worden. Er sei für eine Woche in ein Krankenhaus gebracht worden.
Nach weiterem Gefängnisaufenthalt sei schließlich die Inhaftierung aus medizinischen
Gründen für sechs Monate aufgehoben worden. In einer Spezialklinik sei bei ihm das
Wernicke-Korsakov- Syndrom festgestellt worden. Der Haftantritt sei wiederum um ein
Jahr verschoben worden. Nach der Entlassung habe er in Istanbul gewohnt. Ende 2003
sei ihm von Genossen und den Ärzten bedeutet worden, die Regierung verfolge
nunmehr eine neue Politik, nach der sie alle Freigelassenen wieder inhaftieren wolle.
Daraufhin habe er beschlossen, die Türkei zu verlassen. Hätte er sich nicht dazu
entschlossen, hätte er noch mindestens 13 Jahre Haft vor sich gehabt. Er sei nach
Deutschland mit dem gefälschten Paß eines Bekannten gekommen, der als Beamter
einen sogenannten grünen Paß habe. Er sei mit dem Flugzeug ausgereist. Gestartet sei
er in Izmir am 5. Juni 2004, gelandet in Düsseldorf.
In der Folge reichte der Kläger durch seinen Prozeßbevollmächtigten weitere
Unterlagen ein, allerdings nicht, wie bei der Anhörung erbeten, Urteil und Anklageschrift
zu der Festnahme im Jahre 1994. Das Bundesamt entschied über den Antrag zunächst
nicht.
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Am 30. Juni 2005 hat der Kläger Untätigkeitsklage erhoben.
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Mit Bescheid vom 1. Februar 2006 lehnte das Bundesamt den Asylantrag des Klägers
als offensichtlich unbegründet ab; es stellte fest, daß Abschiebungsverbote nach § 60
Abs. 1 AufenthG offensichtlich nicht vorlägen und nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG
ebenfalls nicht vorlägen. Die Abschiebung wurde angedroht. Zur Begründung bezog
sich das Bundesamt auf eine von ihm in Auftrag gegebene physikalisch-technische
Urkundenprüfung vom 27. Januar 2006, nach der die von dem Kläger vorgelegten
6
Ausweispapiere Fälschungen seien. Insbesondere sei bei dem vom ihm vorgelegten -
ursprünglich echten - Nüfus auf den Namen C das Lichtbild ausgetauscht worden. Der
Kläger sei in Wahrheit also jemand anderes. Dies erkläre auch, warum er entgegen
seiner Ankündigung bei der Anhörung die Unterlagen zu der Verurteilung von 1994
nicht habe vorlegen können.
Der darauf gestellte Antrag des Klägers auf vorläufigen Rechtsschutz hatte Erfolg
(Beschluß vom 22. Februar 2006 - 4 L 273/06.A -).
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Der Kläger beantragt,
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die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides des Bundesamtes für Migration und
Flüchtlinge vom 1. Februar 2006 zu verpflichten,
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ihn als Asylberechtigten anzuerkennen und festzustellen, daß die Voraussetzungen des
§ 60 Abs. 1 AufenthG vorliegen,
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hilfsweise, festzustellen, daß Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG
bestehen.
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Die Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Sie rückt von ihrer Einschätzung, der Kläger sei in Wahrheit nicht C, ab. Gleichwohl hält
sie an ihrer Ablehnung des Asylantrages als offensichtlich unbegründet fest. Bei dem
Kläger sei der Terrorismusvorbehalt (§ 60 Abs. 8 AufenthG) einschlägig. Er erfülle Satz
2 der Vorschrift in der 2. und 3. Alternative. Eine Wiederholungsgefahr sei für § 60 Abs.
8 Satz 2 AufenthG anders als für Satz 1 nicht zu fordern.
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In der mündlichen Verhandlung ist der Kläger mit Hilfe einer Dolmetscherin für die
türkische und kurdische Sprache zu seinen Asylgründen gehört worden. Zudem hat das
Gericht Beweis erhoben durch Vernehmung der Zeugen C1 und C2, V und C3. Für die
Einzelheiten wird auf die Sitzungsniederschriften verwiesen. Das Gericht hat ferner mit
Schreiben vom 7. März 2006 eine Auskunft des Auswärtigen Amtes eingeholt, die unter
dem 1. Juni 2006 erstattet wurde; für die Fragen und Antworten wird auf das gerichtliche
Schreiben und die Auskunft Bezug genommen. Wegen des weiteren Sach- und
Streitstandes wird auf die Gerichtsakten und die beigezogenen Verwaltungsvorgänge
der Beklagten sowie der Ausländerbehörde und des Sozialamtes, auf die zum
Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemachten Auskünfte und Erkenntnisse, auf
die die Beteiligten hingewiesen worden sind, sowie die vom Kläger vorgelegten
Urteilsauszüge und weiteren Schriftstücke Bezug genommen.
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Entscheidungsgründe:
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Die Klage hat Erfolg.
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I. Sie ist zulässig. Insbesondere durfte sie gemäß § 75 VwGO als Untätigkeitsklage
erhoben werden.
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Diese Vorschrift ist auch im Asylklageverfahren anwendbar. Durch die hier geltenden
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besonderen Regelungen (§§ 74 ff. AsylVfG) ist dies nicht ausgeschlossen. § 75 VwGO
gilt sogar sinngemäß auch für Klagen außerhalb der VwGO.
Vgl. Kopp/Schenke, VwGO, 14. Aufl. 2005, § 75 Rdnr. 2.
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Auch der in § 75 Satz 1 VwGO enthaltene Verweis auf § 68 VwGO hindert die
Anwendung der Vorschrift nicht. Dieser Verweis zwingt nicht zu der Schlußfolgerung,
daß § 75 VwGO nur dann greift, wenn ein Vorverfahren vorgeschrieben ist.
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So aber VG Oldenburg (Oldenburg), Beschluß vom 22. Mai 2003 - 12 A 4013/02 -.
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Dem steht schon entgegen, daß § 75 Satz 1 VwGO auch in den Fällen die
Untätigkeitsklage eröffnet, in denen nicht erst über den Widerspruch, sondern schon
„über einen Antrag auf Vornahme eines Verwaltungsakts" nicht entschieden wurde. Zu
diesen Fällen gehört auch das Ausbleiben einer Entscheidung des Bundesamts über
einen Asylantrag.
23
Im Ergebnis ebenso: OVG NRW, Beschluß vom 21. Oktober 1985 - 19 B 20781/85 -;
VGH Mannheim, Beschluß vom 30. Mai 2000 - A 6 S 281/00 -, AuAS 2000, 201; VG
Freiburg (Breisgau), Urteil vom 20. März 1997 - A 2 K 13182/95 -; VG Augsburg, Urteil
vom 5. Februar 2001 - Au 7 K 00.30495 -; VG Ansbach, Beschluß vom 22. Februar 2002
- AN 4 K 01.32222 -.
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Die Voraussetzungen des § 75 VwGO lagen hier vor. Zum Zeitpunkt der Klageerhebung
- 30. Juni 2005 - hatte das Bundesamt über den Asylantrag des Klägers vom 21. Juli
2004 nicht entschieden, obwohl seit der Antragstellung nahezu ein Jahr vergangen war.
Damit war die Frist nach § 75 Satz 2 VwGO deutlich überschritten. Ein zureichender
Grund dafür, daß über den Asylantrag noch nicht entschieden war, bestand nicht.
Insbesondere war das Bundesamt nicht dadurch an der Entscheidung gehindert, daß
der Kläger bestimmte Unterlagen entgegen der Aufforderung in der Anhörung noch nicht
vorgelegt hatte. Die Nichtvorlage der Unterlagen kann unter Umständen als Verletzung
der nach § 15 AsylVfG bestehenden Mitwirkungspflichten zu Lasten des Asylbewerbers
gewertet werden, ist aber kein Grund für das Bundesamt, fast ein Jahr lang mit der
Entscheidung zuzuwarten.
25
Nach Erlaß des Bescheides vom 1. Februar 2006 ist die Untätigkeitsklage ohne
weiteres in eine gewöhnliche Asylklage übergegangen, ohne daß sich an der
Zulässigkeit etwas geändert hätte.
26
II. Die Klage ist auch begründet. Der Bescheid des Bundesamtes vom 1. Februar 2006
verletzt den Kläger in seinen Rechten, § 113 Abs. 5 Satz 1, Abs. 1 Satz 1 VwGO. Der
Kläger hat Anspruch auf Anerkennung als Asylberechtigter und Feststellung der
Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 Aufenthaltsgesetz (AufenthG), Ziff. 1 und 2 des
Bescheides.
27
1. Sowohl für einen Asylanspruch nach Art. 16 a Abs. 1 GG als auch für das
Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 1 AufenthG gilt folgendes:
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Asylrelevante Verfolgungsmaßnahmen sind stets solche, die eine unmittelbare Gefahr
für Leib, Leben oder die persönliche Freiheit beinhalten. Beeinträchtigungen anderer
Rechtspositionen bilden nur dann einen Verfolgungstatbestand, wenn sie nach
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Intensität und Schwere die Menschenwürde verletzen und über das hinausgehen, was
die Bewohner des Heimatstaates auf Grund des dort herrschenden Systems allgemein
hinzunehmen haben, die sie also nach ihrer Intensität von der übergreifenden
Friedensordnung der staatlichen Einheit ausgrenzen.
Vgl. BVerfG, Beschluß vom 10. Juli 1989 - 2 BvR 502, 1000, 961/86 -, BVerfGE 80, 315
(zu § 51 Abs. 1 AuslG).
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In Anlehnung an das durch den Zufluchtgedanken geprägte normative Leitbild des
Asylgrundrechts gelten auch für die Beurteilung, ob ein Asylsuchender politisch
Verfolgter im Sinne des § 60 Abs. 1 AufenthG ist, unterschiedliche Maßstäbe, je
nachdem, ob er seinen Heimatstaat auf der Flucht vor eingetretener oder unmittelbar
drohender politischer Verfolgung verlassen hat oder ob er unverfolgt in die
Bundesrepublik Deutschland gekommen ist. Im erstgenannten Fall ist
Abschiebungsschutz zu gewähren, wenn der Ausländer vor erneuter Verfolgung nicht
hinreichend sicher sein kann (sog. herabgestufter Prognosemaßstab). Hat der
Ausländer sein Heimatland jedoch unverfolgt verlassen, so kann sein
Feststellungsbegehren nach § 60 Abs. 1 AufenthG nur Erfolg haben, wenn ihm auf
Grund von beachtlichen Nachfluchttatbeständen politische Verfolgung droht (sog.
gewöhnlicher Prognosemaßstab).
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Vgl. BVerfG, Beschluß vom 2. Juli 1980 - 1 BvR 147/80 u.a. -, BVerfGE 54, 341, 361 (zu
§ 51 Abs. 1 AuslG).
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2. Bei dem Kläger ist der herabgestufte Prognosemaßstab anzuwenden, denn er hat
sein Heimatland Türkei am 5. Juni 2004 auf der Flucht vor eingetretener und unmittelbar
drohender politischer Verfolgung verlassen und ist somit als politisch Verfolgter aus der
Türkei ausgereist.
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2.1. Die Identität des Klägers ist geklärt. Bereits die in der mündlichen Verhandlung vom
23. Februar 2006 einvernommenen Zeugen haben übereinstimmend bestätigt, daß der
damals im Gerichtssaal anwesende Kläger tatsächlich, wie von ihm behauptet, der C
sei. Die drei Zeugen C1, C2 und C3 gaben an, den Kläger aufgrund ihrer
Verwandtschaft als Cousin seit langem zu kennen. Der Zeuge V bekundete, er habe
den Kläger bei einer in mehreren Gefängnissen der Türkei gemeinsam verbüßten Haft
kennengelernt und ihn durch Zufall in L wieder getroffen. Es gibt keinen Anlaß, an der
Richtigkeit dieser Aussagen zu zweifeln. Die Angaben der drei Zeugen mit dem
Nachnamen C stimmten zu den verwandtschaftlichen Verhältnissen untereinander
überein; sie waren auch im übrigen frei von Widersprüchen. Der Zeuge V hat
ausweislich der beigezogenen ihn betreffenden Verwaltungsvorgänge der Beklagten
bereits in seinem Asylverfahren einen glaubwürdigen Eindruck gemacht (Beiakte H. 4,
Bescheid vom 12. August 2003). Seine Aussagen in der mündlichen Verhandlung
waren ebenfalls glaubhaft. Er wußte von der gemeinsam verbüßten Haft flüssig zu
erzählen und konnte spontan Einzelheiten - etwa zu der politischen Betätigung des
Klägers in den Gefängnissen - schildern, wie es einem tatsächlich erlebten Geschehen
entspricht. Vor allem aber werden die Identität des Klägers und damit insoweit auch die
Bekundungen der Zeugen bestätigt durch die Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 1.
Juni 2006. Danach ist der dem Auswärtigen Amt in Kopie vorgelegte Personalausweis
derjenige des C; auf dem in dem Ausweis angebrachten Foto des Klägers haben zwei
Rechtsanwälte der Anwaltskammer Istanbul, die C kennen, diesen zweifelsfrei
wiedererkannt. Auch die Beklagte geht entgegen dem angefochtenen Bescheid nicht
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mehr davon aus, daß der Kläger über seine Identität getäuscht hat.
2.2. Der Kläger war in der Türkei von politischer Verfolgung betroffen. Dies ergibt sich
schon aus der Verurteilung wegen der Neuveröffentlichung der Schriften des Mahir
Cayan.
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Daß diese von dem Kläger geltend gemachte Verurteilung tatsächlich erfolgt ist, steht
fest. Sie ist in dem von dem durch das Auswärtige Amt übermittelten Auszug aus dem
Strafregister aufgeführt (Auskunft an das Bundesamt vom 30. Mai 2006, zu Frage 3).
Das betreffende Urteil Nr. 0000/000 des 0. Staatssicherheitsgerichts Istanbul vom 0.00.
1997 liegt mit auszugsweiser Übersetzung vor (Verwaltungsvorgänge Bl. 48 und 62).
Der Kläger wurde danach zu 12 Monaten Zuchthaus verurteilt; eine Aussetzung zur
Bewährung wurde abgelehnt, da die Strafe nach Auffassung des Gerichts in diesem Fall
nicht in ausreichendem Maße abschreckende Wirkung gehabt hätte.
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Eine Verurteilung wegen der Neuherausgabe von Schriften des Mahir Cayan muß
allerdings nicht notwendig eine politische Verfolgung darstellen. Cayan als
Mitbegründer der Volksbefreiungsfront der Türkei (THKP-C oder THKC) hat mit seiner
Organisation den bewaffneten Kampf gegen den türkischen Staat unterstützt. Dabei
wurden auch „militärische Aktionen" durchgeführt. Dies geht außer aus der
Auskunftslage
37
- vgl. insoweit Bundesamt, Erkenntnisse vom 19. Mai 1998 - TUR00023506 -
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auch aus dem Buch mit den Schriften Cayans hervor, dessen Herausgabe dem Kläger
zur Last gelegt worden ist. In dessen Anhang II ist die Erklärung Nr. 1 der THKC
abgedruckt, deren in die mündliche Verhandlung eingeführte deutsche Übersetzung
(Gerichtsakte Bl. 239) der Kläger auf Vorhalt in den relevanten Passagen als inhaltlich
zutreffend bestätigt hat. In diesen Passagen bejaht die THKP-C sowohl den
bewaffneten Kampf als auch „militärische Aktionen" und Terrorangriffe gegen Banken
und ausländische Konsulate in der Türkei. Eine derart gewaltbereite, militante
Organisation durfte der türkische Staat bekämpfen, und zwar auch durch das Verbot der
einschlägigen Schriften und die Bestrafung ihrer Herausgabe.
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Gleichwohl ist in dem konkreten Fall die Verurteilung des Klägers als politische
Verfolgung anzusehen. Dies liegt daran, daß die türkischen Stellen den Kläger als
Vertreter (ehemals) der Dev Yol und (nunmehr) der DHKP-C angeklagt und verurteilt
haben und dafür die schon erwähnten Auszüge aus den Schriften des Mahir Cayan
herangezogen haben, die zu diesen beiden Organisationen in Wahrheit keinen Bezug
aufweisen. In der Anklageschrift vom 3. Mai 1996 ist dem Kläger „Betreiben von
Propaganda für die illegale, bewaffnete Organisation DHKP/C mittels
Druckerzeugnissen" vorgeworfen worden; zur Begründung wurde auf die Seiten 361
und 364 und damit auf die Anhänge II und III des Buches (Gerichtsakte Bl. 233 und 235)
Bezug genommen. Dem ist das 0. Staatssicherheitsgericht Istanbul in dem Urteil vom
0.00.1997 gefolgt. Nach der Auskunft des Auswärtigen Amtes erfolgte die Verurteilung
mit Bezug auf die DHKP-C; in der Übersetzung des Urteils sind unter der Angabe
„Straftat" THKP-C und DHKP-C gleichrangig nebeneinander genannt. In der
Begründung macht das Urteil zwischen beiden Organisationen keinen Unterschied,
sondern schreibt die Zitate aus dem Manifest der THKP-C ohne weiteres der DHKP-C
zu (Verwaltungsvorgänge Bl. 49). Die DHKP-C bestand indessen bei Gründung der
THKP-C und Herausgabe der Erklärung Nr. 1 im Jahre 1971 noch nicht; sie ist erst 1994
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aus der Dev Sol hervorgegangen; diese ist ihrerseits ebenso wie die Dev Yol eine
Abspaltung aus der von Mahir Cayan mitbegründeten THKP-C.
Vgl. die in das Verfahren eingeführten Erkenntnisse des Bundesamtes vom 19. Mai
1998 - TUR00023506 -.
41
Aus allem ergibt sich, daß der türkische Staat den Kläger gerade in seinem aktuellen
Engagement für die DHKP-C treffen wollte und nicht davor zurückgeschreckt ist, zur
Untermauerung des Terrorismusvorwurfs gegen diese Organisation ihr Zitate in die
Schuhe zu schieben, die aus einer Zeit stammen, als diese Organisation noch gar nicht
bestand. Ein solches Vorgehen gegen einen mißliebigen politischen Gegner ist
unzulässig. Führt es zur Verhängung einer Freiheitsstrafe, so ist nicht nur die
Meinungsäußerungsfreiheit, sondern auch die persönliche Freiheit des betroffenen
Angeklagten verletzt. Jedenfalls damit ist eine asylerhebliche Maßnahme gegeben.
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Der tatsächliche Beitrag des Klägers an der Neuherausgabe der Schriften ist dabei nicht
von ausschlaggebender Bedeutung. Der Kläger selbst will den Text im Gefängnis mit
der Hand abgeschrieben haben, konnte allerdings auch auf Nachfrage nicht erklären,
warum diese Abschreibearbeit erforderlich war, nachdem die Schriften schon einmal
gedruckt vorlagen. Es mag dahinstehen, ob dies urheberrechtliche Gründe gehabt
haben kann oder eine Überarbeitung des Textes beabsichtigt war, die dann aber - nach
Darstellung des Klägers - mit Ausnahme einiger ganz weniger Stellen ausgeblieben ist.
Selbst wenn der Kläger entgegen seinen Angaben die Schriften nicht mit der Hand
abgeschrieben haben sollte, würde dies nichts daran ändern, daß er von den
Strafverfolgungsbehörden für ihre Neuherausgabe der Schriften verantwortlich gemacht
worden ist; der Verlagsbesitzer ist infolgedessen offenbar ohne Strafe davongekommen
oder die einmal verhängte Strafe wurde ihm wieder erlassen (Beschluß des 0
Staatssicherheitsgerichts Istanbul vom 00.00.2000, Verwaltungsvorgänge Bl. 52 mit
Übersetzung Bl. 72).
43
2.3. Unter diesen Umständen kann offenbleiben, ob sich eine Vorverfolgung zusätzlich
aus dem von dem Kläger im übrigen geltend gemachten Verfolgungsschicksal ergibt.
Insoweit spricht allerdings ebenfalls Überwiegendes dafür, daß die Darstellung des
Klägers zutrifft.
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Er gibt an, daß die türkischen Sicherheitskräfte im Jahre 1994 einen Schlag gegen die
ihnen mißliebige Dev Yol geführt und dabei alle Führungspersönlichkeiten der
Organisation ins Visier genommen haben. Zu diesen Personen will auch der Kläger
gehört haben. Er soll unter Folter dazu gebracht worden sein, eine Reihe von Straftaten
zuzugeben. Dieses Geständnis sei dann in Gerichtsverfahren gegen ihn verwendet
worden mit der Folge der Verurteilung zu der Freiheitsstrafe von insgesamt 36 Jahren.
Diese Darstellung ist jedenfalls plausibel, wenn auch letzte Sicherheit angesichts des
Zeitablaufs nicht mehr gewonnen werden kann (Auskunft des Auswärtigen Amtes an
das Bundesamt vom 30. Mai 2006, zu Frage 4). Die von dem Kläger vorgelegten
Dokumente haben sich als echt erwiesen; sie sind durch den vorliegenden
Strafregisterauszug bestätigt. Der in einem der Schriftstücke in Bezug genommene
Beschluß (des 0. Staatssicherheitsgerichts Istanbul) vom 00.00.1998 - 0000/000 -
existiert; dort wurde eine Gesamtstrafe von 36 Jahren Haft gebildet (Auskunft des
Auswärtigen Amtes an das Bundesamt vom 30. Mai 2006, zu Frage 2). Auch die
Angaben des Klägers zu dem Überfall der Sicherheitskräfte am 19. Dezember 2000 auf
das Gefängnis in Gebze, in dem er zu dieser Zeit inhaftiert gewesen sein will, treffen zu
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(Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 1. Juni 2006, zu Frage 2). Nach dem gesamten
Eindruck der mündlichen Verhandlung ist es zudem offensichtlich, daß der Kläger ein
politischer Intellektueller ist, der mit dem von der Dev Yol und später der DHKP-C
vertretenen Gedankengut bis in die Einzelheiten hinein vertraut ist und auch im übrigen
die Geschichte der in der Türkei bestehenden politischen Oppositionsbewegung kennt.
Der Kläger wußte ohne Schwierigkeiten etwa von der Gründung der Dev Genc, den aus
ihr hervorgegangenen Gruppierungen, dem Putsch in den achtziger Jahren, der
Amnestie zur Zeit des Staatspräsidenten Özal, den verschiedenen Zeitschriften der Dev
Yol und der DHKP- C, den Diskussionen um die Gründung einer legalen
Oppositionspartei, den damals bestehenden Strömungen innerhalb der Opposition und
den von ihr veranstalteten Demonstrationen zu berichten. Es ist ohne weiteres denkbar
und liegt sogar nahe, daß diese Kenntnisse auf eine langjährige Tätigkeit in der Dev Yol
an herausgehobener Stelle zurückgehen. Aus den der Kammer vorliegenden und in das
Verfahren eingeführten Erkenntnisquellen ergibt sich, daß die Dev Yol jedenfalls in der
Vergangenheit Ziel von Aktionen staatlicher Organe der Türkei gewesen ist.
Vgl. Bundesamt, Erkenntnisse vom 19. Mai 1998 - TUR00023506 -; Oberdiek,
Gutachten vom 2. August 2002 - TUR24056003 -.
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Das Vorgehen der türkischen Strafverfolgungsbehörden, dem Kläger die
Neuherausgabe der Schriften des Mahir Cayan auch unter Verdrehung von Zitaten in
der Weise zur Last zu legen, daß gerade seine gegenwärtige politische Einstellung
getroffen wurde (oben 2.2.), gibt der Behauptung des Klägers, er sei wegen seiner
politischen Ausrichtung von den Sicherheitsbehörden drangsaliert worden, Gewicht.
Unter diesen Umständen hat die Annahme, der Kläger sei - wie von ihm behauptet -
gefoltert und zur Abgabe umfangreicher Geständnisse gezwungen worden, vieles für
sich. Die ebenfalls bestehende Möglichkeit, daß der Kläger die ihm zur Last gelegten
Straftaten, wegen derer er verurteilt worden ist, tatsächlich begangen hat, ist auch
angesichts des gesamten Eindrucks, den der Einzelrichter in der mündlichen
Verhandlung von dem Kläger gewonnen hat, wenn auch nicht ausgeschlossen, so aber
doch wenig wahrscheinlich. Der Kläger hatte weder Hemmungen noch Schwierigkeiten,
über die in Rede stehenden Geschehnisse zu berichten. Seine Schilderungen waren
flüssig und in sich stimmig. Sie standen im Einklang mit den Angaben, die er bei der
Anhörung beim Bundesamt gemacht hatte. Nachfragen wußte der Kläger spontan und
nachvollziehbar zu beantworten, etwa dazu, inwieweit er Gelegenheit hatte, die
Schriftstücke mit den ihm untergeschobenen Straftaten vor seiner Unterschrift zu lesen.
Auch für ihn ungünstige Sachverhaltsmomente gab er offen zu; dies betrifft den Überfall
im Jahre 1988 ebenso wie den Umstand, daß die gegen ihn gerichtete Verfolgung nach
der Haftentlassung im Jahre 2002 nicht sehr stark war. Der Eindruck einer konstruierten
Geschichte ist zu keiner Zeit entstanden, zumal die politische Ausrichtung des Klägers -
wie dargestellt - durch umfangreiche einschlägige Kenntnisse unter Beweis gestellt ist.
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2.4. Die nach allem bestehende Vorverfolgung des Klägers hielt noch an, als er im Juni
2004 aus der Türkei ausreiste. Die Gefängnisstrafe, zu der er verurteilt worden ist, war
noch nicht verbüßt. Ihre Vollstreckung war lediglich wegen seines Wernicke-Korsakov-
Syndroms, das er sich bei der Teilnahme an verschiedenen Hungerstreiks zugezogen
hatte, ausgesetzt worden. Die Einzelheiten ergeben sich aus dem Untersuchungsbericht
der Gerichtsmedizin Istanbul vom 0.00. 2002 und dem Beschluß der
Generalstaatsanwaltschaft L1 vom 00.0. 2003. Das Auswärtige Amt hat die Echtheit
dieser Dokumente bestätigt und bekräftigt, daß der Strafvollzug gegen den Kläger aus
gesundheitlichen Gründen zunächst für sechs Monate und dann für ein Jahre
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ausgesetzt worden ist; die Haftaussetzungsfrist lief am 00.0.2004 ab (Auskunft an das
Bundesamt vom 30. Mai 2006, zu Fragen 6 und 7). Die Haftentlassung beruhte auf der
einschlägigen Vorschrift des Art. 399 tStPO und ist nicht auf eine Begnadigung durch
Staatspräsident Sezer zurückzuführen (Schreiben der Botschaft Ankara vom 27. Juli
2006). Vor diesem Hintergrund mußte der Kläger jederzeit damit rechnen, seine Haft
wieder antreten zu müssen, wenn sein gesundheitlicher Zustand dies nach Auffassung
der türkischen Stellen wieder zuließ. Die politische Verfolgung hatte angesichts dessen
ihren Abschluß noch nicht gefunden.
3. Die bei Anwendung des herabgestuften Prognosemaßstabes maßgebenden
Voraussetzungen für die Asylanerkennung und die Feststellung nach § 60 Abs. 1
AufenthG sind erfüllt. Der Kläger ist vor erneuter Verfolgung in der Türkei nicht
hinreichend sicher.
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3.1. Anzuerkennen ist allerdings, daß sich die Lage in der Türkei in den letzten Jahren
erheblich gewandelt hat. Die AKP-Regierung hat ihr Ziel, Beitrittsverhandlungen mit der
Europäischen Union aufzunehmen, beharrlich verfolgt und schlußendlich auch erreicht.
Im Zuge dieses Bestrebens hat sie sich dazu verstanden, Menschenrechtsverletzungen
offen zu diskutieren und zu beheben. Auch der türkischen Strafjustiz ist insgesamt eine
positive und hoffnungsvolle Entwicklung zu bescheinigen.
Menschenrechtsorganisationen können in der Türkei inzwischen weitgehend
ungehindert arbeiten. Mit mehreren - nach üblicher Zählung acht - sogenannten
Reformpaketen sind rechtsstaatliche Verbesserungen erreicht und Rechte des
kurdischen Bevölkerungsteils anerkannt worden.
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Vgl. den Bericht des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante
Lage in der Türkei vom 11. November 2005 (Stand: Anfang November 2005), S. 7 f.
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3.2. Diese Veränderungen führen allerdings nicht dazu, daß in den Fällen vorverfolgter
Asylbewerber aus der Türkei nunmehr generell eine hinreichende Verfolgungssicherheit
bestünde. Zum einen ist die Entwicklung, die die Türkei zuletzt genommen hat, nicht
unumkehrbar. Die Überzeugung von der Notwendigkeit, die Menschenrechte auch und
gerade in der Auseinandersetzung mit dem politischen Gegner zu achten, ist noch nicht
dauerhaft im Bewußtsein der Menschen verwurzelt. Die Menschenrechtsorganisationen
gehen von einer erheblichen Dunkelziffer aus. Die Menschenrechtspraxis bleibt nach
wie vor hinter den - wesentlich verbesserten - rechtlichen Rahmenbedingungen zurück.
52
Vgl. OVG NRW, Urteil vom 19. April 2005 - 8 A 273/04.A -, S. 56.
53
Zum anderen hat die Entwicklung - auch wenn unterstellt wird, daß die insoweit
möglichen Rückschläge ausbleiben - aber auch noch nicht einen Stand erreicht, der
eine erneute Verfolgung jedenfalls vorverfolgter Kurden ausschlösse. Noch immer wird
in der Türkei Folter praktiziert; insbesondere Kurden werden weiterhin Opfer von
Verfolgungsmaßnahmen asylerheblicher Intensität. Es ist der Regierung bisher nicht
gelungen, Folter und Mißhandlung vollständig zu unterbinden.
54
Vgl. den Bericht des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante
Lage in der Türkei vom 27. Juli 2006 (Stand: Juni 2006), S. 35.
55
Die Bewertung des OVG NRW, daß verfolgt ausgereiste Kurden - wie der Kläger - vor
erneuter Verfolgung noch immer nicht hinreichend sicher sind,
56
vgl. OVG NRW, a.a.O., S. 21,
57
hat unter diesen Umständen nach Einschätzung des Einzelrichters weiterhin Bestand.
58
3.3. Im Falle des Klägers kommt hinzu, daß dieser sich bei einer Rückkehr in die Türkei
nicht unauffällig verhalten und politisch zurückhalten würde. Er tritt weiterhin für die von
ihm für richtig gehaltene sozialistische Ideologie ein, hat allerdings nach seinen
Bekundungen in der mündlichen Verhandlung von einer gewaltsamen
Auseinandersetzung Abstand genommen. Mit Blick auf die Äußerungen in dem Manifest
von Mahir Cayan legte er dar, daß er zwar dessen Ideologie unterstütze, nicht aber den
bewaffneten Kampf. Mit Gewalt komme man nicht weiter; sie sei nicht der richtige Weg.
Diese Bekundungen sind glaubhaft. Die verfügbaren Tatsachen sprechen für sie.
Abgesehen von dem von ihm selbst eingeräumten Überfall im Jahre 1988, von dem er
sich inzwischen distanziert, hat der Kläger offenbar keine Gewalttaten begangen;
insbesondere ist nicht davon auszugehen, daß er die Taten, wegen derer er ab 1994
verurteilt wurde, tatsächlich verübt hat (oben 2.3.). Er ist nach seiner Freilassung
ausweislich der beigezogenen Ausländerakte und der Auskunft des Auswärtigen Amtes
nicht mehr durch Anwendung von Gewalt oder Unterstützung gewalttätiger
Auseinandersetzungen aufgefallen. Dagegen hat er Nachweise über die Wahl in den
Rat der ÖDP Deutschland vorgelegt (Gerichtsakte Bl. 48 und 60), die sein
fortbestehendes politisches Engagement dokumentieren.
59
Das politische Engagement des Klägers kann bei der Verfolgungsprognose nicht außer
acht gelassen werden. Dem Asylbewerber darf nicht vorgehalten werden, daß er ohne
seine politische Betätigung keiner staatlichen Verfolgung ausgesetzt wäre. Dies liefe
dem Zweck des Asylrechts zuwider, das vor politischer Verfolgung schützen und damit
politische Betätigung gerade ermöglichen will.
60
Vgl. schon Kimminich, in: Bonner Komm. z. GG, Art. 16 (Drittbearb. 1984) Rdnr. 258.
61
Aufgrund seines Eintretens für die ÖDP müßte der vorverfolgt ausgereiste Kläger in
besonderem Maße mit asylrelevanten Maßnahmen rechnen. Die in den letzten Jahren
in der Türkei erreichten Fortschritte betreffen zwar auch die Meinungsfreiheit.
Gleichwohl bestehen aber insoweit noch immer Gesetzesvorbehalte. Eingeschränkt ist
die Meinungsfreiheit insbesondere dort, wo staatliche Stellen die „Einheit des Staates"
gefährdet sehen.
62
Vgl. den Bericht des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante
Lage in der Türkei vom 11. November 2005 (Stand: Anfang November 2005), S. 11.
63
Dies ist der internationalen Öffentlichkeit etwa bei der Anklage gegen den bekannten
Schriftsteller Orhan Pamuk vor Augen geführt worden.
64
Vgl. zu diesen - allgemeinkundigen - Vorgängen F.A.Z. Nr. 293 vom 16. Dezember
2005, S. 5 „EU warnt Türkei" und Nr. 294 vom 17. Dezember 2005, S. 33 „Pamuks
Richter".
65
Die Unterstützung der ÖDP, die als legale Nachfolgeorganisation der Dev Yol von den
türkischen staatlichen Stellen jedenfalls mit Mißtrauen gesehen wird, würde den Kläger
bei einer Rückkehr in die Türkei noch zusätzlich zu den für ihn als vorverfolgt
66
Ausgereistem bestehenden Gefahren in die Gefahr einer erneuten politischen
Verfolgung bringen.
4. Die Anerkennung als Asylberechtigter ist nicht nach Art. 16a Abs. 2 GG, § 26a
AsylVfG wegen Einreise aus einem sicheren Drittstaat ausgeschlossen. Der Kläger hat
bereits beim Bundesamt Unterlagen vorgelegt, die seine Angaben über die Einreise mit
dem Flugzeug ohne Kontakt zu einem sicheren Drittstaat belegen. Dabei handelt es
sich um ein auf den Namen U ausgestelltes Flugticket mit zugehöriger Bordkarte
(Verwaltungsvorgänge Bl. 176). Ausweislich dieses Flugtickets nahm der unter diesem
Namen reisende Fluggast einen Direktflug von Izmir nach Düsseldorf am 5. Juni 2004.
Die Botschaft in Ankara hat bestätigt, daß für U eine Ausreise am 5. Juni 2004 registriert
ist (Verwaltungsvorgänge Bl. 186). Daß es der Kläger war, der unter diesem Namen
gereist ist, hat er durch Vorlage von verfälschten Ausweispapieren glaubhaft gemacht,
die auf diesen Namen ausgestellt und mit dem Lichtbild des Klägers versehen sind
(Verwaltungsvorgänge Bl. 174 und 175).
67
5. Die Asylanerkennung scheitert auch nicht an dem sogenannten
Terrorismusvorbehalt, der den Schutzbereich des Asylgrundrechts begrenzt. Der
Terrorismusvorbehalt setzt voraus, daß der Asylsuchende von deutschem Boden aus
die Umsetzung politischer Ziele mit terroristischen Mitteln betreibt. Dafür gibt es beim
Kläger keine Anhaltspunkte. Die ÖDP, deren Mitglied er ist, ist eine legale Organisation.
68
6. Ebensowenig ist der Anspruch des Klägers auf Feststellung der Voraussetzungen
des § 60 Abs. 1 AufenthG nach § 60 Abs. 8 AufenthG, der mit dem Inkrafttreten des
Zuwanderungsgesetzes an die Stelle des § 51 Abs. 3 AuslG getreten ist,
ausgeschlossen. Die Vorschrift erlaubt die Abschiebung in den Verfolgerstaat nur, wenn
der Ausländer aus schwerwiegenden Gründen eine Gefahr darstellt, und zwar für die
innere oder äußere Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland oder für die
Allgemeinheit. Die Voraussetzung, daß von dem Ausländer weiterhin Gefahren
ausgehen müssen, gilt - insoweit über den Wortlaut hinaus - auch für Satz 2 des § 60
Abs. 8 AufenthG,
69
vgl. OVG NRW, Beschluß vom 7. August 2006 - 15 A 2940/06.A - unter Bezug auf den
Beschluß vom 21. Juli 2005 - 15 A 1212/04.A -; OVG Rheinland-Pfalz, Urteile vom 6.
Dezember 2002 - 10 A 10089/02 - und vom 10. März 2006 - 10 A 10665/05 -; Urteil des
Einzelrichters vom 19. Januar 2006 - 4 K 1407/03.A -.
70
Die genannte qualifizierte Gefahr setzt eine - eigenständig durch das
Verwaltungsgericht anzustellende - Prognose dahin voraus, daß der Ausländer künftig
Taten wie die in § 60 Abs. 8 AufenthG genannten begehen wird.
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Vgl. (noch zu § 51 Abs. 3 AuslG): BVerwG, Urteil vom 16. November 2000 - 9 C 6.00 -,
BVerwGE 112, 185.
72
Bei dem Kläger ist schon fraglich, ob er die geschriebenen Voraussetzungen des § 60
Abs. 8 AufenthG erfüllt. Für einen Fall des Satzes 1 bestehen keinerlei Anhaltspunkte.
Ob aus schwerwiegenden Gründen die Annahme gerechtfertigt ist, daß er eine der in
den drei Alternativen des § 60 Abs. 8 Satz 2 AufenthG genannten Handlungen
begangen hat, ist zweifelhaft. Da für die übrigen dem Kläger zur Last gelegten Straftaten
keine genügenden Anhaltspunkte bestehen (oben 2.3.), würde dies voraussetzen, daß
der von ihm eingeräumte im Jahre 1988 begangene Raubüberfall hierunter fällt, weil er
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etwa als schweres nichtpolitisches Verbrechen anzusehen ist. Selbst wenn dies der Fall
sein sollte, besteht eine für § 60 Abs. 8 AufenthG beachtliche Wiederholungsgefahr
nicht. Die Tat aus dem Jahre 1988 liegt 18 Jahre zurück. Nach seiner Entlassung aus
der 8jährigen Haft im Jahre 2002 hat sich der Kläger weder (nachweislich)
Gewaltdelikte zuschulden kommen lassen noch werden ihm solche vorgeworfen. Seine
Beteuerungen, für die kurdische Sache nicht mehr mit Gewalt, sondern nur noch durch
Worte einzutreten, sind zur Überzeugung des Gerichts glaubhaft (oben 3.3.).
Anhaltspunkte dafür, daß er wieder rückfällig werden könnte im Sinne einer erneuten
Hinwendung zu gewaltsamen Aktionen, bestehen nicht.
7. Mit der Anerkennung des Klägers als Asylberechtigter verliert die in Ziffer 4 des
Bescheides ausgesprochene Abschiebungsandrohung ihre Grundlage. Gemäß § 34
Abs. 1 AsylVfG erläßt das Bundesamt nach den §§ 59 und 60 Abs. 10 AufenthG (nur
dann) die Abschiebungsandrohung, wenn der Ausländer nicht als Asylberechtigter
anerkannt wird und keinen Aufenthaltstitel besitzt.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylVfG. Die
Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708
Nr. 11, 711 ZPO.
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