Urteil des VG Düsseldorf vom 08.05.2003

VG Düsseldorf: vorläufiger rechtsschutz, staatsprüfung, form, chancengleichheit, computer, erfahrung, auflage, prüfungsbehörde, verfügung, auskunft

Verwaltungsgericht Düsseldorf, 15 L 1418/03
Datum:
08.05.2003
Gericht:
Verwaltungsgericht Düsseldorf
Spruchkörper:
15. Kammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
15 L 1418/03
Tenor:
Der Antrag wird abgelehnt.
Die Antragstellerin trägt die Kosten des Verfahrens.
Der Streitwert wird auf 2.000,- Euro festgesetzt.
Gründe:
1
Der am 28. April 2003 sinngemäß gestellte Antrag,
2
den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten,
der Antragstellerin für jede der in der Zeit vom 15. bis 27. Mai 2003 in der
zweiten juristischen Staatsprüfung anzufertigenden Aufsichtsarbeiten eine
Schreibzeitverlängerung von einer Stunde zu gewähren,
3
hat keinen Erfolg. Er ist zulässig, aber unbegründet.
4
Dabei geht die Kammer bei der im vorliegenden Verfahren des einstweiligen
Rechtsschutzes allein möglichen summarischen Prüfung davon aus, dass § 44a VwGO
der Zulässigkeit des Antrags nicht entgegensteht und das Begehren auf
Schreibzeitverlängerung der isolierten Rechtsverfolgung zugänglich ist. Die Möglichkeit
der Geltendmachung eines solchen Anspruchs im Rahmen des § 123 Abs. 1 Satz 2
VwGO ist im Hinblick auf die Gewährung effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG)
erforderlich und vor dem Hintergrund gerechtfertigt, dass die Entscheidung über eine
Schreibzeitverlängerung in § 35 Abs. 1 S. 3 der Verordnung zur Durchführung des
Gesetzes über die juristischen Staatsprüfungen und den juristischen
Vorbereitungsdienst (Juristenausbildungsordnung JAO ) in der Fassung der
Bekanntmachung vom 8. November 1993 (GV NRW S. 932), zuletzt geändert durch
Gesetz vom 20. April 1999 (GV NRW S. 148) - JAO - eine eigenständige normative
Ausgestaltung erfahren hat,
5
vgl. auch VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 26. August 1993 - 9 S
2023/93 -, NVwZ 1994, S. 598 (599); BayVGH, Beschluss vom 11. April 1994 - 3
CE 94/1140 -, BayVBl 1994, 568; Zimmerling/Brehm, Vorläufiger Rechtsschutz im
Prüfungsrecht, DVBl 2001, S. 27 (33); s.a. Beschluss der Kammer vom 15. August
6
Prüfungsrecht, DVBl 2001, S. 27 (33); s.a. Beschluss der Kammer vom 15. August
2002 - 15 L 3167/02-; a.A. noch VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 7.
Dezember 1983 9 S 2106/83 , Justiz 1984, S. 316.
Der Antrag ist auch nicht deshalb unzulässig, weil die Antragstellerin bisher einen
Widerspruch gegen den eine Schreibzeitverlängerung ablehnenden Bescheid des
Antragsgegners vom 25. April 2003 nicht eingelegt hat. Denn die
Widerspruchserhebung ist nicht Zulässigkeitsvoraussetzung eines Antrags nach § 123
VwGO. Die im Übrigen erforderliche Anfechtbarkeit des angegriffenen Bescheides liegt
vor.
7
Gemäß § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO kann das Gericht auf Antrag eine einstweilige
Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes treffen, wenn eine solche
Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Dabei hat der
Antragsteller sowohl einen Anordnungsgrund als auch einen Anordnungsanspruch
glaubhaft zu machen (§§ 123 Abs. 3 VwGO, 920 Abs. 2, 294 ZPO).
8
Diese Voraussetzungen sind nicht erfüllt. Die Antragstellerin hat bereits einen
Anordnungsanspruch nicht glaubhaft gemacht.
9
Gemäß § 35 Abs. 1 S. 3 i.V.m. S. 2 JAO kann körperbehinderten Prüflingen die für jede
Aufsichtsarbeit zur Verfügung stehende Zeit von fünf Stunden auf Antrag bis zu zwei
Stunden verlängert werden. Voraussetzung ist das Vorliegen einer Behinderung, die
über eine Störung des Allgemeinbefindens hinaus geht und negative Auswirkungen auf
die Schreibfähigkeit hat,
10
vgl. BVerwG, Urteil vom 30. August 1977, Buchholz 421.0 Nr. 85, S. 72 (S. 74 f.).
11
Liegen diese tatbestandlichen Voraussetzungen vor, steht dem Prüfling ein Anspruch
auf angemessene Kompensation der Beeinträchtigung zu. Dabei handelt es sich bei der
von der Prüfungsbehörde zu treffenden Entscheidung über entsprechende
Ausgleichsmaßnahmen trotz des insofern irreführenden Wortlauts des § 35 Abs. 1 S. 3
JAO um eine gerichtlich voll überprüfbare, rechtlich gebundene
Verwaltungsentscheidung. Das ergibt sich aus den verfassungsrechtlichen
Anforderungen, die der Grundsatz der Chancengleichheit (Art. 3 Abs. 1 GG) und die
Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG) an das Prüfungsrecht stellen,
12
für den Fall des Ausgleichs von Lärmbelästigungen: BVerfG, Beschluss vom
21. Dezember 1992 - 1 BvR 1295/90 -, NJW 1993, 917; für die mit § 35 Abs. 1 S. 3
JAO vergleichbare Norm des § 12 Abs. 1 S. 2 JAPrO BW 1993: VGH Baden-
Württemberg, Beschluss vom 26. August 1993 - 9 S 2023/93 -, NVwZ 1994, 598
(599).
13
Gemessen daran hält die vom Antragsgegner getroffene Entscheidung, der
Antragstellerin zu gestatten, für die Anfertigung der Aufsichtsarbeiten eine von ihr zu
stellende Schreibkraft (Rechtsanwaltsfachangestellte) mit Personal Computer (PC)
hinzuzuziehen, die darüber hinaus begehrte Verlängerung der Bearbeitungszeit um
jeweils eine Stunde jedoch abzulehnen, einer Rechtskontrolle im Verfahren des
einstweiligen Rechtsschutzes stand.
14
Der Antragsgegner ist zu Recht davon ausgegangen, dass es sich bei der
Beeinträchtigung der Antragstellerin um eine Schreibbehinderung i.S.d § 35 Abs. 1 S. 3
15
JAO handelt.
Im Rahmen des § 35 Abs. 1 S. 3 JAO sind solche Körperbehinderungen zu
berücksichtigen, die den Prüfling bei der Anfertigung der Aufsichtsarbeiten ernstlich
benachteiligen. Dabei ist nicht erforderlich, dass eine Schwerbehinderung i.S.d. § 2
Abs. 2 SGB IX vorliegt. In Abgrenzung zu lediglich zum Rücktritt berechtigenden
allgemeinen Störungen des Leistungsvermögens muss es sich jedoch um eine
Beeinträchtigung der rein mechanischen Darstellungsfähigkeit handeln,
16
vgl. Niehues, Schul- und Prüfungsrecht, Band 2 Prüfungsrecht, 3. Auflage 1994,
Rn. 156.
17
Die bei der Klägerin amtsärztlich festgestellten Krankheitsbilder einer chronischen
Tendovaginitis und einer Epicondylopathia radikalis humeri mit Myegelosen der
rechtsseitigen Streckmuskulatur stellen eine solche Beeinträchtigung der rein
mechanischen Darstellungsfähigkeit dar. Denn sie führen zu einer schmerzhaften
Bewegungseinschränkung und Schwäche der rechten Hand, insbesondere beim Halten
eines Kugelschreibers oder Bedienen einer Tastatur über einen längeren Zeitraum,
18
amtsärztliches Untersuchungsergebnis des T, Bl. 37 f. der Verwaltungsvorgänge
des Beklagten.
19
Die vom Antragsgegner für diese Schreibbehinderung der Antragstellerin in Ansatz
gebrachte Ausgleichsmaßnahme in Form der Zurverfügungstellung einer Schreibkraft
mit PC stellt eine angemessene Kompensation i.S.d. § 35 Abs. 1 S. 3 JAO dar.
20
Bei der Entscheidung über den Ausgleich einer Schreibbehinderung ist insbesondere
dem das Prüfungsrecht beherrschenden Grundsatz der Chancengleichheit Genüge zu
tun. Daher muss sich die Prüfungsbehörde an den Prüfungsbedingungen orientieren,
die für nicht schreibbehinderte Prüflinge gelten. Eine Ausgleichsmaßnahme die nicht
zwingend aus einer Schreibverlängerung bestehen muss -,
21
vgl. Rehborn/Schulz/Tettinger, Die Juristenausbildung in Nordrhein-Westfalen,
Kommentar, 7. Auflage 1994, § 17 JAO Rn. 6 sowie § 37 JAO Rn. 3,
22
darf daher weder die Benachteiligung des schreibbehinderten Prüflings aufrechterhalten
(Unterkompensation) noch zu einer Begünstigung des schreibbehinderten Prüflings
gegenüber nicht schreibbehinderten Prüflingen führen (Überkompensation).
23
Gemessen daran begegnet die vom Antragsgegner gewährte Ausgleichsmaßnahme
keinen rechtlichen Bedenken. Insbesondere ist nicht ersichtlich, dass die zugesagte
Kompensation die Antragstellerin - wie von ihr behauptet - weiterhin gegenüber nicht
schreibbehinderten Prüflingen benachteiligt. Die Hinzuziehung einer
Rechtsanwaltsfachangestellten als Schreibkraft, die das Diktat der Antragstellerin
unmittelbar in einen PC eingibt, ist nach der Überzeugung der Kammer geeignet, die
Beeinträchtigungen der Schreibfähigkeit der Antragstellerin vollständig auszugleichen.
Denn die Zeit, die ein nicht schreibbehinderter Prüfling für die handschriftliche
Niederschrift einer im Kopf vorhandenen und bereits schriftlich skizzierten Lösung
benötigt, entspricht aller Voraussicht nach der Zeit, die die Antragstellerin aufwenden
muss, um eine ebenfalls durchdachte und skizzierte Lösung der von ihr gewählten
Schreibkraft zu diktieren und auszudrucken.
24
Das ergibt sich aus folgenden Überlegungen: Die Antragstellerin ist im Diktat geübt. Sie
hat ihre Klausuren im Rahmen des Vorbereitungsdienstes mit Hilfe eines Diktiergerätes
bewältigt und verfügt daher über entsprechende Erfahrung im mündlichen Verfassen
von Gedankengängen. Auch die Modifikation, dass die Antragstellerin einer Schreibkraft
diktiert, die das Diktierte unmittelbar in einen PC eingibt, führt nicht zu einer
Verzögerung, die eine Schreibzeitverlängerung erforderlich macht. Denn es kommt
insoweit nicht auf den Vergleich zu anderen Ausgleichsmaßnahmen an. Vielmehr muss
der erwartete Zeitaufwand der Antragstellerin in Verhältnis zu der Zeit gesetzt werden,
die ein handschriftlich arbeitender, nicht schreibbehinderter Prüfling benötigt. Danach ist
das unmittelbar in den PC eingegebene Diktat jedenfalls nicht zeitintensiver als eine
handschriftliche Niederlegung. Denn die der Antragstellerin zur Verfügung stehende
Schreibhilfe ist eine professionelle Schreibkraft, die beruflich u.a. damit befasst ist,
Diktate vom Band abzuschreiben,
25
s. eidesstattliche Versicherung der Frau C, Bl. 12 f. der Gerichtsakten.
26
Darüber hinaus ist die Schreibkraft Rechtsanwaltsfachangestellte und als solche mit der
Rechtssprache vertraut. Die von der Antragstellerin als erhebliche Zeitverzögerung
geltend gemachten, eventuellen Nachfragen durch die Schreibkraft sind daher allenfalls
warginal und führen daher ebenfalls nicht zur Notwendigkeit, eine
Schreibzeitverlängerung zu gewähren. Soweit es in diesem Zusammenhang tatsächlich
zu Verzögerungen kommen sollte, gleichen diese vielmehr den zeitlichen Vorteil aus,
der der Antragstellerin durch die gewährte Arbeitsweise entsteht. Denn ein reines Diktat
verursacht offensichtlich einen geringeren Zeitaufwand als eine handschriftliche
Niederlegung. Nicht nachvollziehbar ist in diesem Zusammenhang deshalb der Vortrag
der Antragstellerin, dass derjenige, der eigene Gedanken mit der Hand aufschreibt,
schneller ist als derjenige, der den Gedanken erst fertig formulieren und dann per Diktat
übermitteln muss. Entgegen der Auffassung der Antragstellerin ist auch bei der
handschriftlichen Niederschrift zwingend erforderlich, dass die entsprechende
Überlegung abgeschlossen ist, bevor sie zu Papier gebracht wird. Was in Gedanken
noch nicht existiert, kann auch nicht schriftlich niedergelegt werden. Das bedarf einer
näheren Darlegung nicht.
27
Ist bereits danach eine Schreibzeitverlängerung nicht angezeigt, sind auch noch weitere
Vorteile zu bedenken, die der Antragstellerin durch das PC-Diktat entstehen. Sie hat
zum einen den Vorteil, auf dem Monitor einen wesentlichen größeren Textabschnitt auf
einen Blick zu erfassen als das bei einer handschriftlichen Abfassung möglich ist. Zum
anderen ermöglicht die Bearbeitung auf dem Computer wesentlich bessere
Korrekturmöglichkeiten.
28
Eine Schreibzeitverlängerung ist auch unter Berücksichtigung des Umstandes, dass die
Antragstellerin zur Vorbereitung des Diktats eine Lösungsskizze in Form einer
Gliederung fertigen muss, nicht erforderlich. Dies geht einerseits aus der Empfehlung
des Amtsarztes Dr. T hervor, der eine Schreibzeitverlängerung im Hinblick auf
handschriftliche Notizen nicht für erforderlich hält,
29
Vermerk des Beklagten über eine entsprechende telefonische Auskunft vom
23. April 2003, Blatt 39 der Verwaltungsvorgänge des Beklagten.
30
Eine derartige Orientierung an amtsärztlichen Einschätzungen ist grundsätzlich
31
zulässig,
vgl. VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 26. August 1993 - 9 S 2023/93 -,
NVwZ 1994, 598 (599).
32
Umstände, die im vorliegenden Fall ausnahmsweise zu einer abweichenden
Beurteilung führen, sind nicht ersichtlich. Vielmehr kommt es bei der Anfertigung einer
Lösungsskizze bzw. Gliederung für eine Aufsichtsarbeit in der juristischen Staatsprüfung
auch nach der Erfahrung des Gerichts nicht zu einer übermäßigen Belastung der
rechten Hand. Vielmehr steht in diesem Stadium das Denken im Vordergrund. Lediglich
einzelne Denkergebnisse werden dann stichpunktartig niedergeschrieben.
33
Schließlich ist der vom Antragsgegner gewährte Nachteilsausgleich auch unter
Vertrauensschutzgesichtspunkten nicht unverhältnismäßig. Der Antragsgegner war
weder gehalten, die gleiche Kompensationsmaßnahme zu wählen, die der
Antragstellerin vom Justizprüfungsamt bei dem Oberlandesgericht Köln in der ersten
juristischen Staatsprüfung gewährt wurde (Diktat mit handschriftlicher Schreibkraft und
einstündiger Schreibzeitverlängerung), noch war er an die Praxis gebunden, die sich auf
Veranlassung des Oberlandesgerichts Düsseldorf während des Vorbereitungsdienstes
herausgebildet hatte (Besprechen eines Diktiergerätes). Eine Bindung an bestimmte
Praktiken scheidet bereits auf Grund des Charakters der Entscheidung nach § 35 Abs. 1
S. 3 JAO aus. Weil bei Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen ein Anspruch auf
einen angemessenen Ausgleich besteht (s. dazu bereits oben), muss sich die damit
rechtlich gebundene Entscheidung ausschließlich an den Erfordernissen für eine
Kompensation der im Einzelfall bestehenden Beeinträchtigung orientieren. Darüber
hinaus war der Antragstellerin hinlänglich bekannt, dass der Antragsgegner -
vorausgesetzt, die Beeinträchtigung der Antragstellerin stellt sich kurz vor den
Aufsichtsarbeiten wie bisher dar - einen Ausgleich in der nunmehr gewährten Form
vornehmen würde. Dass eine Schreibzeitverlängerung nicht in Betracht kommen würde,
ist der Antragstellerin u.a. durch die Schreiben des Präsidenten des Landgerichts
Mönchengladbach vom 4. Dezember 2001 (Bl. 21 der Gerichtsakten) und vom
28. Januar 2002 (Bl. 19 f. der Gerichtsakten) zur Kenntnis gelangt. Spätestens seit dem
Schreiben des Antragsgegners vom 14. Oktober 2002 wusste die Antragstellerin
darüber hinaus, dass im Falle der Zuziehung einer Schreibkraft diese mit dem PC
arbeiten würde, so dass ausreichend Gelegenheit bestand, sich durch entsprechende
Übungen auf diese Art von Nachteilsausgleich einzustellen.
34
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
35
Die Streitwertfestsetzung ergibt sich aus §§ 13 Abs. 1, 20 Abs. 3 GKG. Die Kammer hat
dabei den Streitwert im Hinblick darauf, dass es sich um ein Verfahren des vorläufigen
Rechtsschutzes handelt, halbiert.
36