Urteil des VG Düsseldorf vom 01.06.2006
VG Düsseldorf: reaktive depression, bundesamt für migration, örtliche zuständigkeit, gefahr, wahrscheinlichkeit, blutrache, aufenthalt, anerkennung, abschiebung, bezirk
Verwaltungsgericht Düsseldorf, 4 K 2445/06.A
Datum:
01.06.2006
Gericht:
Verwaltungsgericht Düsseldorf
Spruchkörper:
4. Kammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
4 K 2445/06.A
Tenor:
Soweit die Klage zurückgenommen wurde, wird das Verfahren
eingestellt.
Die Klage im übrigen wird abgewiesen; hinsichtlich des Klägers zu 3.
wird sie als offensichtlich unbegründet abgewiesen.
Die Kläger tragen die Kosten des Verfahrens, für das Gerichtskosten
nicht erhoben werden.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Kläger
dürfen die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110%
des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagte vorher
Sicherheit in derselben Höhe leistet.
Tatbestand:
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Die am 0.0.1973 und 00.0.1982 in Z/N3 geborenen Kläger zu 1. und 2., Eheleute, sind
Staatsangehörige der Türkei arabischer Volkszugehörigkeit. Sie stellten am 2. Oktober
2002 erstmals in Deutschland Asylantrag. Hierzu wurden sie beim Bundesamt für die
Anerkennung ausländischer Flüchtlinge (heute: Bundesamt für Migration und
Flüchtlinge; im folgenden: Bundesamt) am 8. Oktober 2002 angehört. Sie gaben im
wesentlichen an, sie hätten am 00.0.2002 in Z geheiratet. Der Vater der Klägerin zu 2.,
T, der Dorfschützer sei, habe diese aber zuvor bereits einem anderen, älteren Mann
versprochen. Der Kläger zu 1. habe die Klägerin zu 2. „entführen" müssen, um sie zu
heiraten. Der zuvor für sie ausersehene Ehemann habe dem gleichen großen Stamm
(Razdeni) angehört wie sie; es sei üblich, nur innerhalb des Stammes zu heiraten. Der
Kläger zu 1. sei nicht Mitglied des Stammes. Seitdem verfolge der T sie, die Kläger zu 1.
und 2., und fahnde mit einem Hauptmann der Armee nach ihnen. Er oder
Stammesangehörige würden beide Kläger töten lassen. Sie hätten sich 3-4 Monate in
Gaziantep aufgehalten und gehofft, daß die Sache sich erledige; das sei aber nicht der
Fall gewesen. Mangels Lebenssicherheit in der Türkei seien sie nach Damaskus
(Syrien) geflohen. Auch dort hätten sie sich aber nicht auf Dauer aufhalten können, da
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ihr Aufenthalt illegal gewesen sei. Am 21. September 2002 seien sie von Damaskus
nach Frankfurt (Main) geflogen.
Mit Bescheid vom 28. März 2003 lehnte das Bundesamt den Asylantrag ab. Es verneinte
das Vorliegen der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG und von
Abschiebungshindernissen nach § 53 AuslG; die Abschiebung wurde angedroht.
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Am 7. April 2003 haben die Kläger zu 1. und 2. beim Verwaltungsgericht Aachen Klage
erhoben.
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Der Kläger zu 3. ist der am 0.0.2004 in H geborene Sohn der Kläger zu 1. und 2. Er
stellte mit Schreiben vom 27. Mai 2004 Asylantrag; diesen lehnte das Bundesamt mit
Bescheid vom 14. Juni 2004 ab.
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Am 28. Juni 2004 hat der Kläger zu 3. beim Verwaltungsgericht Aachen Klage erhoben.
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Mit Beschluß des Verwaltungsgerichts Düsseldorf vom 1. Juni 2006 sind das Verfahren
der Eltern und das des Kindes - 17 K 2466/06.A - zu gemeinsamer Verhandlung und
Entscheidung verbunden worden; die Beteiligten haben hinsichtlich des Klägers zu 3.
auf die Einhaltung von Ladungsfristen verzichtet.
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Die Kläger haben die Klage in der mündlichen Verhandlung zurückgenommen, soweit
sie sich auf ihre Anerkennung als Asylberechtigte und die Feststellung der
Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG richtete. Sie begehren noch die
Feststellung zu § 60 Abs. 7 AufenthG. Dafür berufen sie sich außer auf das beim
Bundesamt vorgetragene und unter anderem mit Antritt eines Zeugenbeweises
untermauerte Schicksal auf ärztliche Atteste der Frau N4, die dem Kläger zu 1. eine
schwere reaktive Depression bescheinigen.
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Die Kläger beantragen,
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die Beklagte unter entsprechender Aufhebung der Bescheide des Bundesamtes für die
Anerkennung ausländischer Flüchtlinge vom 28. März 2003 und vom 14. Juni 2004 zu
verpflichten, festzustellen, daß Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 7 AufenthG
bestehen.
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Die Beklagte beantragt schriftsätzlich,
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die Klage abzuweisen.
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Wegen des weiteren Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakten und die
beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten sowie der Ausländerbehörde Bezug
genommen.
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Entscheidungsgründe:
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Das Verwaltungsgericht Düsseldorf ist mit Wirkung vom 1. April 2006 für das Verfahren
zuständig geworden. Die örtliche Zuständigkeit ergibt sich aus § 52 Nr. 2 S. 3 VwGO.
Die Kläger haben ihren Aufenthalt im Bezirk des Verwaltungsgerichts Düsseldorf zu
nehmen. Sie sind durch Zuweisungsbescheide vom 18. Oktober 2002 (Kläger zu 1. und
2.) und 6. Juli 2004 (Kläger zu 3.) der Stadt H, Kreis I zugewiesen. Seit dem 1. April
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2006 erstreckt sich der Bezirk des Verwaltungsgerichts Düsseldorf in Streitigkeiten nach
dem AsylVfG einschließlich derjenigen Streitigkeiten betreffend Entscheidungen nach
dem AuslG oder dem AufenthG, zu denen das Bundesamt nach dem AsylVfG berufen
ist, unter anderem auf den Kreis Heinsberg (§ 1b Nr. 3 AG VwGO NRW).
Soweit die Klage zurückgenommen wurde, war das Verfahren einzustellen (§ 92 Abs. 3
VwGO). Die Klage im übrigen ist zulässig, aber nicht begründet. Die Bescheide des
Bundesamtes vom 28. März 2003 und vom 14. Juni 2004 sind, soweit sie noch mit der
Klage angegriffen werden, rechtmäßig. Die Kläger haben gegen die Beklagte keinen
Anspruch auf Feststellung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 AufenthG (= ehemals §
53 Abs. 6 AuslG), § 113 Abs. 5 S. 1 VwGO. Sie haben keinen Sachverhalt glaubhaft
gemacht, der auf ein solches Abschiebungsverbot führen könnte. Für die Begründung
wird zunächst auf den ablehnenden Beschluß des Verwaltungsgerichts Aachen über
die Gewährung von Prozeßkostenhilfe vom 10. Oktober 2003 verwiesen. In dem
maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 S. 1 AsylVfG) hat
sich die Sach- und Rechtslage nicht entscheidungserheblich geändert.
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1. § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG setzt - wie vormals § 53 Abs. 6 S. 1 AuslG - eine erhebliche
konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit des Ausländers voraus. Eine drohende
Gesundheitsgefahr ist im Sinne der Vorschrift „erheblich", wenn eine
Gesundheitsbeeinträchtigung von besonderer Intensität zu erwarten ist. Das ist der Fall,
wenn sich der Gesundheitszustand des Ausländers wesentlich oder sogar
lebensbedrohlich verschlechtern würde. „Konkret" ist die Gefahr, wenn diese
Verschlechterung „alsbald" nach der Rückkehr des Ausländers in den Heimatstaat
einträte, weil er dort etwa auf unzureichende Möglichkeiten zur Behandlung seiner
Leiden angewiesen ist und anderswo wirksame Hilfe nicht in Anspruch nehmen könnte,
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vgl. (zu § 53 Abs. 6 S. 1 AuslG) BVerwG, Urteile vom 25. November 1997 - 9 C 58.96 -,
BVerwGE 105, 383; vom 27. April 1998 - 9 C 13.97 -, NVwZ 1998, 973; OVG NRW,
Beschluß vom 25. Juli 2003 - 21 A 1315/01.A -.
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Erforderlich ist dabei, daß eine Prognose eine beachtliche Wahrscheinlichkeit für das
Eintreten der Gefahr ergibt. Eine beachtliche Wahrscheinlichkeit in diesem Sinne ist
gegeben, wenn die für den Eintritt der Gefahr sprechenden Umstände ein größeres
Gewicht besitzen und deswegen gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen
überwiegen. Diese Anforderungen an den Grad der Wahrscheinlichkeit entsprechen
dem Maßstab, den die Rechtsprechung bei der Beurteilung der Gefahr politischer
Verfolgung aufstellt,
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vgl. BVerwG, Urteile vom 23. Februar 1988 - 9 C 32.87 -, BVerwGE 79, 143, 150 f., und
vom 5. November 1991 - 9 C 118.90 -, BVerwGE 89, 162, 169 f.
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Für die Beurteilung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG gilt derselbe
Maßstab,
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vgl. (§ 53 Abs. 6 S. 1 AuslG) BVerwG, Beschlüsse vom 28. März 2001 - 1 B 83.01 - und
vom 18. Juli 2001 - 1 B 71.01 - m.w.Nachw.
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Zusammengefaßt müßte also den Klägern mit einer im bezeichneten Sinne
beachtlichen Wahrscheinlichkeit alsbald nach einer Rückkehr in die Türkei eine
gesundheitliche Beeinträchtigung von besonderer Intensität drohen.
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Nicht zu berücksichtigen sind dabei Gefahren, die ihnen durch die Abschiebung selbst
drohen. Derartige inlandsbezogene Vollstreckungshindernisse, wie etwa fehlende
Reisefähigkeit, hat die Ausländerbehörde zu prüfen,
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vgl. BVerfG, Beschluß vom 16. April 2002 - 2 BvR 553/02 -, NVwZ-Beil. I 2002, 91;
BVerwG, Urteil vom 21. September 1999 - 9 C 12.99 -, NVwZ 2000, 25; zur
posttraumatischen Belastungsstörung in diesem Zusammenhang: VGH Mannheim,
Beschluß vom 7. Mai 2001 - 11 S 389/01 -, NVwZ-Beil. I 2001, 107.
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2. Ein danach in diesem Verfahren allein relevantes zielstaatsbezogenes
Abschiebungshindernis in dem vorbezeichneten Sinne kann nicht festgestellt werden.
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2.1. Die Befürchtung der Blutrache reicht hierfür nicht aus, selbst wenn die tatsächlichen
Angaben der Kläger und damit die Blutrachegefahr unterstellt werden. Es ist den
Klägern zuzumuten, in eine andere Region in der Türkei zu ziehen und zugleich
Desinformationen über ihren wahren Aufenthalt ausgeben zu lassen, um sich so vor
dem Zugriff des Vaters der Klägerin zu 2. zu verbergen. Dieser Schritt, den die Kläger in
ihrem Heimatland tun können und müssen, entzieht sie dem Zugriff mindestens ebenso
wirksam wie ein weiterer Aufenthalt in Deutschland. Hinzu kommt, daß die
Abschreckung durch eine drastische Strafandrohung (Tötung aus dem Motiv der
Blutrache wurde gemäß dem Türkischen StGB Art. 450 Nr. 10 bis vor kurzem mit der
Todesstrafe und wird seit der kürzlich erfolgten Strafrechtsreform mit lebenslanger Haft
geahndet) und der Zeitablauf ihre Wirkung tun werden. Das geringe Restrisiko,
irgendwann einmal doch entdeckt und angegriffen zu werden, müssen die Kläger als
einen mit ihrem Kulturkreis untrennbar verbundenen Lebensumstand tragen.
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Vgl. Beschluß der Kammer vom 26. August 2005 - 4 L 1642/05.A -; Urteile vom 23.
Februar 2006 - 4 K 22/06.A und 28/06.A -.
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Eine gegenüber anderen Fällen der Blutrachegefahr erhöhte Gefährdung der Kläger
ergibt sich auch nicht daraus, daß nach ihrer - in der mündlichen Verhandlung
wiederholter und vertiefter - Behauptung der Vater der Klägerin zu 2. Kontakte zu den
Sicherheitskräften haben soll. Zwar mag nachvollziehbar sein, daß ein in der
Heimatregion gestellter Antrag der Kläger auf polizeilichen Schutz unter diesen
Umständen ohne Erfolg bleibt. Dafür aber, daß der Einfluß des Vaters der Klägerin zu 2.
so weit reicht, daß die Kläger auch in der übrigen Türkei keinen wirksamen Schutz vor
seiner Blutrachedrohung erreichen können, fehlen weiterhin alle greifbaren
Anhaltspunkte.
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Der in der mündlichen Verhandlung gestellte Beweisantrag - Einvernahme des
präsenten Zeugen D - war unter diesen Umständen abzulehnen. Er war in der gestellten
Form schon deshalb unzulässig, da sich die Behauptung einer konkreten Gefahr bei
Rückkehr als solcher dem Zeugenbeweis entzieht. Es handelt sich dabei um eine
Bewertung, während ein Zeuge Tatsachen bekunden soll (vgl. § 373 ZPO, § 173
VwGO). Davon abgesehen ergibt sich aber auch aus den schriftsätzlich in das Wissen
des Zeugen gestellten Tatsachen nicht, daß den Klägern landesweit die Gefahr der
Blutrache drohte. Mit Schriftsatz vom 21. Januar 2004 haben die Kläger vorgetragen, der
Zeuge sei etwa im Mai 2003 während eines Türkeiaufenthalts zu der Familie des
Klägers gereist und habe sich um Vermittlung bemüht. Der Vater des Klägers zu 1. habe
ihm jedoch bedeutet, daß derartige Bemühungen aussichtslos seien. Diese Angaben
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führen in diesem Zusammenhang nicht weiter. Insbesondere sind sie nicht geeignet,
einen türkeiweiten Einfluß des Vaters der Klägerin zu 2. auf Polizei und Militär zu
belegen.
2.2. Es kann nicht angenommen werden, daß sich die dem Kläger zu 1. mit ärztlichen
Attesten der Frau N4 vom 5. Oktober 2004, 13. Mai 2005 und 30. Januar 2006
bescheinigten psychischen Beeinträchtigungen (schwere reaktive Depression) - ihr
Vorhandensein unterstellt - bei Rückkehr in die Türkei im Sinne einer dem § 60 Abs. 7
S. 1 AufenthG unterfallenden Gesundheitsgefahr entwickeln werden. Auch psychische
Krankheiten sind in der Türkei behandelbar. Die in den Attesten für möglich gehaltene
krisenhafte Verschlechterung bei Rückkehr in das Heimatland ist nicht weiter
konkretisiert. Weder ist aus den Attesten ersichtlich, welche Ausmaße eine solche Krise
annehmen könnte noch mit welcher Wahrscheinlichkeit und in welcher Zeit mit ihr
gerechnet werden könnte.
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2.3. Das Erfordernis der Betreuung des heute zweijährigen Klägers zu 3. führt nicht auf
die Annahme des § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG. Zwar kann unter besonderen Umständen
ein zielstaatsbezogenes Abschiebungshindernis bestehen, wenn eine Betreuung
erforderlich und im Zielstaat nicht erreichbar ist,
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vgl. Urteil des BVerwG vom 29. Oktober 2002 - 1 C 1.02 -, DVBl. 2003, 463, 464;
Beschluß des OVG NRW vom 15. September 2003 - 13 A 2597/03.A -.
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Es ist indessen davon auszugehen, daß eine Abschiebung des Klägers zu 3. in die
Türkei ohne seine Eltern, die Kläger zu 1. und 2., nicht erfolgen wird.
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3. Die unter Ziff. 4 der angefochtenen Bescheide ergangene und auf §§ 34, 38 AsylVfG
gestützte Ordnungsverfügung ist vor diesem Hintergrund ebenfalls nicht zu
beanstanden.
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4. Hinsichtlich des Klägers zu 3. wird die unbegründete Klage als offensichtlich
unbegründet abgewiesen. Daß dieses zweijährige Kind bei einer Rückkehr in die Türkei
Gefahren wegen der Blutrache oder aus anderen Gründen ausgesetzt sein könnte,
behaupten auch die Kläger nicht.
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Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 1, 155 Abs. 2 VwGO, § 83 b AsylVfG.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. §§
708 Nr. 11, 711 ZPO.
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