Urteil des VG Düsseldorf vom 30.11.2006
VG Düsseldorf: politische verfolgung, bundesamt für migration, folter, öffentliche meinung, verdacht, anerkennung, befragung, staat, gefahr, ausreise
Verwaltungsgericht Düsseldorf, 4 K 3870/06.A
Datum:
30.11.2006
Gericht:
Verwaltungsgericht Düsseldorf
Spruchkörper:
4. Kammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
4 K 3870/06.A
Tenor:
Die Klagen werden abgewiesen.
Die Kläger tragen die Kosten des Verfahrens als Gesamtschuldner.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Kläger
dürfen die Zwangsvollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von
110% des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagte
vorher Sicherheit in derselben Höhe leistet.
Tatbestand:
1
Der Kläger reiste am 21. März 1990 auf dem Landweg nach Deutschland ein, kurz nach
seiner Ehefrau, der Klägerin und dem damals noch minderjährigen Kind C1 (geboren
0000). Unter dem 28. März 1990 beantragten die Kläger, als Asylberechtigte anerkannt
zu werden. Bei der Anhörung durch das (damals noch:) Bundesamt für die Anerkennung
ausländischer Flüchtlinge vom 10. April 1990 behaupteten sie, in der Türkei politisch
verfolgt worden zu sein und trugen dazu vor: Der Kläger habe in und in der Nähe seines
Heimatdorfes PKK-Kämpfer unterstützt, die sich dort in den Bergen aufgehalten hätten.
Die PKK-Angehörigen hätten Lebensmittel erhalten, außerdem habe man sie mit der
Gegend vertraut gemacht. 1985 sei er deswegen inhaftiert, drei Monate lang
festgehalten und schwer misshandelt und gefoltert worden. Ein Jahr später sei er erneut
für einen Tag und eine Nacht verhaftet und gefoltert worden. Später sei er noch zwei Mal
festgenommen und nach ein oder zwei Tagen wieder frei gelassen worden. Zuletzt habe
man ihn vor die Wahl gestellt, entweder Dorfschützer zu werden oder aber ständig mit
Nachstellungen der Sicherheitskräfte rechnen zu müssen. Das habe er zum Anlass
genommen, zuerst unterzutauchen, die Familie in Sicherheit zu bringen und dann die
Türkei zu verlassen. Die Klägerin zu 2. habe die Peshmerga auch unterstützt; sie sei
von den Soldaten ständig nach dem Aufenthaltsort ihres Mannes gefragt und dabei auch
geschlagen worden.
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Das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge lehnte den
Anerkennungs-antrag zunächst mit Bescheid vom 20. April 1990 ab. Im Rahmen der
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daraufhin vor dem VG Gelsenkirchen erhobenen Klage (14 K 10946/90) beriefen sich
der Kläger auf Nach-fluchtaktivitäten des Klägers in der Form der Teilnahme an
verschiedenen politischen Veranstaltungen der deutschen kurdischen Exilszene.
Wegen der Einzelheiten wird auf das Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 14.
Januar 1991 verwiesen. Mit Urteil vom gleichen Tag gab das VG Gelsenkirchen der
Klage statt und verpflichtete das Bundesamt zur Anerkennung der Kläger (und ihres
Sohnes) als Asylberechtigte. Gestützt war das Urteil im Kern auf eine Verfolgungsgefahr
wegen der zum Teil öffentlichkeitswirksamen Aktivitäten des Klägers in Deutschland für
die Zielsetzung der PKK und ihrer Nebenorganisationen und des kurdischen
Separatismus. In den Schutz des Asyls, auch in der Form des Familienasyls, müsse die
Klägerin einbezogen werden. Das Urteil wurde in erster Instanz rechtskräftig. Wegen der
Urteilsbegründung im einzelnen wird Bezug genommen. Das Bundesamt erkannte die
Kläger mit Bescheid vom 9. April 1991 als Asylberechtigte an.
Unter dem 13. Oktober 2004 hörte das Bundesamt die Kläger zu einem möglichen
Widerruf der Asylanerkennung an.
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Mit Bescheiden vom 9. Juni 2006 widerrief das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge
die Anerkennung der Kläger als Asylberechtigte und stellte fest, dass weder die
Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG noch Abschiebungshindernisse gemäß §
60 Abs. 2 bis 7 AufenthG vorliegen. Die Bescheide wurden am 19. Juni 2006 zugestellt.
Die Kläger haben am 28. Juni 2006 Klage erhoben.
5
Sie beantragen,
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die Bescheide des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 9. Juni 2006
aufzuheben.
7
Die Beklagte beantragt,
8
die Klagen abzuweisen.
9
Der Einzelrichter hat Beweis erhoben durch Vernehmung der Zeugen U. Wegen des
Gegenstandes und des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf das Protokoll der
mündlichen Verhandlung vom 30. November 2006 Bezug genommen.
10
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die von der
Beklagten und der Ausländerbehörde vorgelegten Verwaltungsakten und den Inhalt der
Gerichtsakten Bezug genommen.
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Entscheidungsgründe:
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Die Klagen sind unbegründet.
13
1. Der Widerruf der Asylanerkennung ist rechtmäßig. Es besteht kein vernünftiger
Zweifel, dass die Kläger bei der Rückkehr in ihr Heimatland dort vor politischer
Verfolgung sicher sind.
14
1.1 Gemäß § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG ist die Anerkennung als Asylberechtigter
unverzüglich zu widerrufen, wenn die Anerkennungsvoraussetzungen nicht mehr
vorliegen. Die Voraussetzungen, unter denen das VG Gelsenkirchen mit Urteil vom 14.
15
Januar 1991 die Verpflichtung ausgesprochen hat, die Kläger als Asylberechtigte
anzuerkennen, sind durch eine nachträgliche Änderung der Sachlage entfallen. Die
tatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse in der Türkei haben sich zwischenzeitlich in
einer Weise geändert, die die seinerzeit angenommene Verfolgungsgefahr für die
Kläger heute ausschließt. Die Kläger müssen nicht mehr befürchten, wegen der
Nachfluchtaktivitäten des Klägers politisch verfolgt zu werden.
1.2 Was der Kläger zur Begründung seines Anerkennungsantrages seinerzeit
vorgetragen hatte, nämlich die Teilnahme an PKK- , ERNK- oder AGRK-
Veranstaltungen, an Demonstrationen und Versammlungen und die Bereitschaft, für die
PKK zu spenden, gehört zu den Aktivitäten „niedrigen Profils". Darunter fallen die mit
einer Vereinsmitgliedschaft verbundene regelmäßige Zahlung von Mitgliedsbeiträgen
sowie von Spenden, die schlichte Teilnahme an Demonstrationen, Hungerstreiks,
Autobahnblockaden, Informationsveranstaltungen oder Schulungsseminaren, die
Verteilung von Flugblättern und der Verkauf von Zeitschriften und die Platzierung von
namentlich gezeichneten Artikeln und Leserbriefen in türkischsprachigen Zeitschriften.
All das gehört zu den Tätigkeiten, die massenweise ausgeübt werden, so dass der
Beitrag des einzelnen entweder kaum sichtbar ist oder hinter den zahllosen
deckungsgleichen Beiträgen anderer Personen zurücktritt. Es handelt sich um ein
Massenphänomen, bei dem die Anwesenden ganz überwiegend nur die Kulisse
abgeben für die eigentlich agierenden Wortführer. Ebenfalls niedrig profiliert ist, was der
Kläger zu angeblich stattgefundenen Aktivitäten in neuerer Zeit vorträgt. Danach will er
weiterhin an exilkurdischen Veranstaltungen, wie Newroz-Feiern und Kulturfestivals und
an Versammlungen und Demonstrationen für die kurdische Sache teilgenommen
haben; der Kläger sei auf einem Pressefoto in der Özgür Politika vom 22. Dezember
2004 zu erkennen gewesen und habe im Fernsehsender Medya-TV einem Reporter auf
eine entsprechende Frage geantwortet, er, der Kläger, demonstriere für den Frieden in
Kurdistan. Exilpolitisch exponiert ist auch das Auftreten in Rundfunk- und
Fernsehsendungen nur, wenn der Inhalt des Redebeitrags darin nach türkischen
Strafrecht strafbar ist und geeignet sein kann, auf die öffentliche Meinung Einfluss zu
nehmen. Die durch Foto- oder Filmaufnahmen dokumentierte bloße Präsenz auf
kurdischen Veranstaltungen oder die Äußerung des Klägers in einer dann
ausgestrahlten Fernsehsendung, er nehme teil, weil er für den Frieden in Kurdistan
demonstriere, haben diese Qualität nicht.
16
1.3.Das Verwaltungsgericht Gelsenkirchen hat die Anwesenheit des Klägers auf
politischen Veranstaltungen der PKK oder von ihr gesteuerter Organisationen im Jahr
1990 als geeignet angesehen, ihm ein Strafverfahren auf der Grundlage von §§ 140,
141 des damaligen tStGB und damit politische Verfolgung einzutragen. Dieser für die
Zeit der damaligen mündlichen Verhandlung am 14. Januar 1991 festgestellte
Sachverhalt wird unter den heutigen Verhältnissen keine Gefahr einer politischen
Verfolgung auslösen. Das gleiche gilt für Nachteile außerhalb der strafrechtlichen
Verfolgung.
17
1.3.1 Durch die in der Türkei eingetretenen Änderungen der politischen Verhältnisse,
die Änderungen der strafrechtlichen und strafprozessualen Vorschriften und einen,
wenn auch langsameren, Wandel der Praxis der Strafverfolgungsbehörden besteht
gegenwärtig nicht mehr die Gefahr, dass der Kläger bei einer Rückkehr in sein
Heimatland strafrechtlich wegen der beschriebenen Aktivitäten verfolgt werden wird. Die
klassischen Gesinnungsdelikte des alten türkischen Strafgesetzbuches, auf die das
Urteil noch gestützt ist (Art. 140 tStGB, Verunglimpfung des türkischen Staates im
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Ausland, Art. 141 tStGB, illegale Vereinigung mit bestimmten Zielen, vgl. im einzelnen:
„Die asylrechtliche Relevanz der Art. 125 ff. des türkischen Strafgesetzbuches", Rumpf,
InfAuslR 1986, 250, 262, 264) sind schon im Jahre 1991 gestrichen worden (Rumpf,
Gutachten für das VG Gießen vom 4. August 1993, 7 E 11837/91).
1.3.2 Nach der aktuellen Erkenntnislage ist weiter davon auszugehen, dass türkische
Staatsangehörige bei der Rückkehr oder Abschiebung nur dann ernsthaft gefährdet
sind, längere Zeit festgehalten und unter Misshandlung bis hin zur Folter verhört zu
werden, wenn der Verdacht besteht, dass sie sich durch Aktivitäten im Ausland nach
türkischem Recht strafbar gemacht haben, etwa weil ihre Aktivitäten als Anstiftung zu
konkret separatistischen und terroristischen Aktionen in der Türkei oder als
Unterstützung illegaler Organisationen gewertet werden kann. Nur wer politische Ideen
und Strategien entwickelt oder zu deren Umsetzung mit Worten oder Taten von
Deutschland aus maßgeblichen Einfluss auf die türkische Innenpolitik und
insbesondere auf seine in Deutschland lebenden Landsleite zu nehmen versucht, ist
aus der maßgeblichen Sicht des türkischen Staates ein ernst zu nehmender Gegner,
den es zu bekämpfen gilt. Dem türkischen Staat kommt es weniger darauf an, jeder
einzelnen Personen habhaft zu werden, die Äußerungen abgibt oder Aktivitäten zeigt,
die nach türkischem Verständnis zu missbilligen sind, sondern es sollen diejenigen
beobachtet und bestraft werden, die zu solchen Äußerungen und entsprechenden
Aktivitäten anstiften und sie öffentlichkeitswirksam organisieren (OVG NW, Urteil vom
19. April 2005, 8 A 273/04.A, Seite 80). Zu diesem Personenkreis hervorstechender
Exilpolitiker gehört der Kläger nach seinem eigenen Vortrag nicht. Er ist ein Mitläufer. An
ihm hat der türkische Staat unter den nach 1991 erheblich veränderten Vorzeichen
heute nicht mehr das geringste Interesse. Bestätigt wird die Annahme fehlenden
Verfolgungsinteresses bei niedrig profilierten politischen Aktivitäten dadurch, dass es
aus jüngerer Zeit keine Berichte über Misshandlungen von Rückkehrern oder
Abgeschobenen gibt, die in Deutschland politische Aktivitäten entfaltet haben (OVG
NW, Urteil von 19. April 2005, Seite 87,mit weiteren Nachweisen).
19
1.3.3 Selbst wenn der Kläger durch seine exilpolitischen Betätigungen niedrigen Profils
aufgefallen und diese registriert worden sein sollten, ist es zwar möglich, dass er bei
einer Wiedereinreise in die Türkei verhört wird. Das Verhör kann mitunter auch einige
Stunden dauern. Mit darüber hinaus gehenden Maßnahmen, insbesondere
Misshandlungen, muss er aber nur bei dem Verdacht strafbarer Handlungen rechnen
(OVG NW, Urteil vom 19. April 2005, a.a.O.). Dafür ist aus dem Vortrag des Klägers, er
habe an allerhand Versammlungen, Aufzügen und Feiern teilgenommen, sei auf einem
Pressefoto zu erkennen gewesen und habe einem Fernsehreporter erklärt, er sei für
Frieden in Kurdistan, nichts zu erkennen. Einer Sachverhaltsaufklärung, ob der Kläger
wegen dieser Dinge tatsächlich in seiner Heimat registriert worden ist, bedarf es
deshalb nicht.
20
1.3.4 Die Beweisaufnahme in der mündlichen Verhandlung durch Vernehmung der
Zeugen U hat nichts ergeben, was das an Hand der objektiven Erkenntnislage
gefundene Ergebnis in Zweifel ziehen könnte.
21
1.3.4.1 Die Vernehmung der Zeugen hat die behaupteten Tatsachen nicht derart
überzeugend bewiesen, dass vernünftige Zweifel schweigen. Die Zeugenaussagen
sind unabhängig von ihrem Inhalt schon deshalb von nur eingeschränktem Beweiswert,
weil die Zeugen mit den Klägern verwandt und verschwägert sind, sie, wie die Zeugen
bekundet haben, in Deutschland in dauerndem Kontakt miteinander stehen und der
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Kläger der einzige Verwandte der Zeugin ist, der in Deutschland lebt. Die durch die
Umstände verstärkten Familienbande werden die Zeugen veranlassen, den Klägern
nach Möglichkeit zu helfen. Die Aussagen sind in der Darstellungsweise darüber hinaus
wenig ergiebig. Sie beschränken sich auf die Bekundung, bei insgesamt drei
Besuchsaufenthalten bei der Großmutter seien Militärpersonen erschienen, die danach
gefragt hätten, wo sich der Kläger aufhalte und was er in Deutschland mache. Irgend
welche weiter gehenden Informationen waren von den Zeugen, trotz Nachfragen, nicht
zu erlangen. Die Zeugin U hat ausdrücklich erklärt, sie wisse nicht mehr, als sie gesagt
habe. Sie konnte oder wollte nicht einmal angeben, wie oft ihre Großmutter von
vergleichbaren Besuchen heimgesucht worden war („ab und zu, Genaueres weiß ich
nicht") und aus welchem Grund die Soldaten wohl nach 15 Jahren immer noch Anlass
hatten, nach dem Aufenthaltsort des Klägers zu fragen. Der Zeuge U will die von seiner
Ehefrau für das Jahr 2002 bekundete vergleichbare Befragung und Hausdurchsuchung
nicht mitbekommen haben und auch nicht wissen, ob eine Befragungsaktion wie die
angebliche aus 2006 in 2005 ebenfalls stattgefunden hatte. Auch zu der von der Zeugin
bekundeten Bitte ihrer Tante, der Kläger möge nicht mehr im Fernsehen auftreten, will
der Zeuge nur gerade dies gehört haben, darüber sonst aber nicht das geringste wissen.
Diese Kenntnislücken sind merkwürdig. Es mag zwar sein, dass Soldaten keine
Auskunft über den Grund ihrer Maßnahmen geben. Es ist aber wenig einleuchtend, dass
die in den Alltag einschneidenden Erlebnisse nicht zwischen den Eheleuten, mit der
betroffenen Großmutter und bei den häufigen Kontakten mit dem Kläger im einzelnen
besprochen werden. Aus diesen Gesprächen hätte zum Beispiel der Zeuge U wissen
müssen, ob die Soldaten bei den Besuchen 2002 und 2005 ebenfalls erschienen waren.
Die Klägerin hätte durch die Erzählungen ihrer Großmutter und des Klägers gewusst,
wie häufig nach dem Kläger gefahndet wurde und warum. Die Aussagen der Zeugen
sind farblos. Sie erwecken den Eindruck einer Gefälligkeitsbekundung, die sich auf das
absolut Notwendige beschränkt, aber allen Details und Hintergründen ausweicht, um
Unstimmigkeiten zu vermeiden. Aussagen dieser Art sind nicht verlässlich.
1.3.4.2 Die inhaltlich kargen Aussagen der Zeugen belegen, wenn sie im Kern als wahr
unterstellt werden, nicht mehr, als dass der Kläger in irgend einer Form registriert
worden ist und sich, wenn er in sein Heimaltland zurück kehrt, einer Befragung wird
stellen müssen. Weiter gehende Gefahren lassen sich aus der angeblichen Nachfrage,
wo der Kläger sich aufhalte, was er in Deutschland mache und ob er in die Türkei
zurück kehre, nicht ableiten. Daraus ergibt sich keine Gefahr einer
menschenrechtswidrigen Behandlung aus politischen Gründen (siehe oben 1.3.3).
23
1.4 Eine aktualisierte Sachverhaltsaufklärung zu möglichen Gefahren für Personen, die
sich in Deutschland exilpolitisch niedrig profiliert betätigt haben, ist nicht angezeigt. Das
von dem Prozessbevollmächtigten der Kläger erwähnte Urteil des OVG Niedersachsen
vom 18. Juli 2006 (11 LB 75/06) betont, es bestehe Einigkeit in der obergerichtlichen
Rechtsprechung, dass niedrig profilierte Aktivitäten noch weniger als früher ein
beachtlich wahrscheinliches Verfolgungsrisiko begründen könnten. Daraus ergibt sich
zum einen die gegenüber der früheren Anerkennung der Kläger veränderte Situation.
Zum anderen belegt es, dass Personen wie der Kläger, die ohne eigenen, aktiven
Handlungsbeitrag an kurdischen Veranstaltungen im Publikum lediglich anwesend sind,
derzeit als vor politischer Verfolgung sicher angesehen werden müssen. Das Urteil ist
hinreichend zeitnah zur gegenwärtigen Entscheidung ergangen. Seither, also seit Juli
2006, hat es keine Ereignisse in der Türkei mehr gegeben, die eine Neubewertung und
eine ergänzende Sachverhaltsaufklärung erforderlich machen.
24
2. Die Asylanerkennung lässt sich nicht mit Erfolg auf Vorfluchtgründe stützen. An die
behaupteten Geschehnisse vor der Ausreise des Klägers zu 1., die in dem Urteil des VG
Gelsenkirchen vom 14. Januar 1991 seinerzeit weder rechtlich noch auf ihren
Wahrheitsgehalt hin überprüft worden sind, werden die türkischen Sicherheitskräfte
heute infolge der gewandelten politischen Umstände in der Türkei nicht mehr
anknüpfen. Die Kläger sind vor politischer Verfolgung sicher.
25
2.1 Als seinerzeit fluchtauslösenden Grund hatte der Kläger angegeben, man habe von
ihm verlangt Dorfschützer zu werden oder aber er werde auch zukünftig nicht mehr in
Ruhe gelassen. Der Kläger will sich dem zunächst durch Untertauchen und dann durch
die Ausreise entzogen haben.
26
Mit Nachteilen wegen der Weigerung, Dorfschützer zu werden, wird der Kläger heute
nicht mehr konfrontiert werden. Schikanen als Folge der Weigerung Dorfschützer zu
werden, kamen früher in der Form von Hausdurchsuchungen, Mitnahme auf die
Polizeiwache, Verhören und Prügel bis hin zur Zerstörung von Häusern der
betreffenden Personen tatsächlich vor. Diese Praxis findet aber seit einiger Zeit in der
Türkei nicht mehr statt. Seit dem Jahr 2000 werden keine Dorfschützer mehr ernannt.
Frei werdende Stellen werden nicht wieder besetzt, so dass es nicht mehr vorkommt,
dass staatliche Sicherheitskräfte die Bewohner von Dörfern und Kleinstädten
drangsalieren, um sie zur Übernahme des vorläufigen Dorfschützeramtes zu bewegen.
Ein bestimmter Druck, als freiwilliger, staatlich mit Waffen ausgerüsteter, aber nicht
alimentierter Dorfschützer zu fungieren, wird allenfalls dann noch ausgeübt, wenn es um
die Wiederbesiedlung zwangsgeräumter Dörfer geht. Die Weigerung, das Amt zu
übernehmen, führt in diesen Fällen aber allenfalls dazu, dass die Rückkehr in die alte
Heimat verweigert wird (OVG NW, Urteil vom 19. April 2005, Seite 45). Das hat keine
Asylrelevanz. Der Kläger behauptet zudem selbst nicht, dass sein Heimatdorf
zwangsgeräumt worden ist. Seine Familie, insbesondere seine Mutter, die Großmutter
der Zeugin U, wohnt dort nach wie vor.
27
2.2 Soweit der Kläger angegeben hatte, er habe seit 1985 die Guerillas mit
Lebensmitteln und Ähnlichem versorgt und sie mit der Gegend vertraut gemacht, handelt
es sich um Tatbestände, die gut 15 bis 20 Jahre zurück liegen. Strafrechtlich
nachweislich lag gegen den Kläger seinerzeit offenbar nichts vor. Er ist nach der
behaupteten längeren Inhaftierung 1985 ohne strafprozessuale Folgen entlassen
worden. In der Zeit danach intensivierten sich die Nachstellungen der Sicherheitskräfte
nicht. Im Gegenteil wurde er bei drei erneuten Verhaftungen innerhalb von rund fünf
Jahren jeweils nach relativ kurzer Zeit aus der Polizeihaft entlassen. Auch diesmal gab
es keine strafrechtlichen Konsequenzen. Die tatsächliche Hilfeleistung für PKK-
Angehörige ist den türkischen Sicherheitskräften nicht in einer nachweisbaren,
gerichtsverwertbaren Form bekannt geworden. Die Beschreibung des Klägers spricht im
Gegenteil dafür, dass die vergleichsweise wenigen Kurzzeitverhaftungen in einem
ausgedehnten Zeitraum in der damaligen Zeit allein dazu dienten, ihn einzuschüchtern
und gefügig zu machen. Das war eine Maßnahme unter den besonderen Bedingungen
der bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzung mit der PKK-Guerilla, belegt aber nicht
ausreichend einen Verdacht, der Kläger könne aus eigener politischer Überzeugung
zum aktiven Unterstützerkreis der PKK gehören.
28
2.3 Die Unterstützung der PKK durch die Übergabe von Lebensmitteln oder anderen
bescheidenen Gütern des täglichen Bedarfs, die in der damaligen Zeit vielen Kurden
Ostanatoliens - zu Recht oder zu Unrecht - angelastet worden sind, wird heute jedenfalls
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landesweit für die Kläger keine Nachteile mehr haben. Damals konnte der - seinerzeit in
der Person des Klägers aus Sicht der Sicherheitskräfte nicht zu erhärtende - Verdacht,
die PKK-Guerilla versorgt zu haben, die von dem Kläger beschriebenen polizeilichen
Maßnahmen und das Ansinnen auslösen, das Dorfschützeramt zu übernehmen.
Letzteres wurde als „Loyalitätstest" eingesetzt. Das Vorgehen der Sicherheitskräfte
diente, wenn es nicht in einem Strafverfahren endete, vor allem dazu, die nicht als
absolut zuverlässig erkannten Personen zum Verlassen ihrer Dörfer und der Gegend zu
zwingen. Diesem Druck sind viele kurdische Familien gewichen und haben sich in den
Westen der Türkei oder in das europäische Ausland abgesetzt. Die meisten von ihnen
sind, wie die Kläger, keine exponierten PKK- Unterstützer gewesen. Der Kläger hat, wie
viele andere auch, seine bescheidenen Lebensmittel, mehr oder weniger freiwillig, mit
den PKK-Kämpfern geteilt. Er gehört zur Masse derjenigen, die in den Zeiten der
bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen der türkischen Sicherheitskräften mit der
PKK „zwischen die Fronten" geraten sind. An den damals gegen ihn gehegten Verdacht
wird heute nicht mehr in asylrelevanter Weise angeknüpft. Der türkische Staat kann und
will gegenwärtig nicht mehr individuell gegen jeden vorgehen, der damals wegen des
Verdachtes der Unterstützung der PKK mit Lebensmitteln und Ähnlichem aus dem
Heimatdorf vertrieben worden ist. Dazu fehlt es an der Rechtsgrundlage und, jedenfalls
für die Kläger, vor allem an dem Interesse der Sicherheitskräfte. Zwar lassen die
Beschreibungen des Klägers über das ihm in den Jahren 1985 bis 1990 Widerfahrene
eine Individualisierung der Verfolgungsmaßnahmen erkennen, die es als möglich
erscheinen lässt, dass er seinerzeit registriert wurde. Das kann, auch über die Jahre
hinweg und auch außerhalb der östlichen Landesteile der Türkei, noch zu einer
Befragung führen, etwa wenn der Betroffene in eine Kontrolle gerät, die an den
Zugangsstraßen zu von Kurden bewohnten Stadtvierteln in der Westtürkei oder in
diesen Stadtvierteln selbst durchgeführt wird (vgl. für den auf einer Weigerung, das
Dorfschützeramt zu übernehmen, beruhenden individualisierten PKK-Verdacht: OVG
NW, Beschluss vom 19. April 2005 a.a.O., Seite 115). Eine Befragung, die zudem schon
unmittelbar bei einer freiwilligen Rückkehr in die Türkei oder nach einer Abschiebung
stattfinden kann, wird jedoch nicht mit menschenrechtswidrigen Übergriffen verbunden
sein. Die Kläger müssen Vernehmungen hinnehmen. Dabei wird es jedoch bleiben.
2.3.1 Im Falle der Abschiebung ist die Gefahr einer Misshandlung bei der Rückkehr in
die Türkei auf Grund von vor der Ausreise nach Deutschland zurückliegender wirklicher
oder vermeintlicher Straftaten auch angesichts der durchgeführten Reformen und der
Erfahrungen der letzten Jahre äußerst unwahrscheinlich. Seit vier Jahren ist kein Fall
mehr bekannt geworden, in dem ein in die Türkei zurück gekehrter abgelehnter
Asylbewerber im Zusammenhang mit früheren Aktivitäten gefoltert oder misshandelt
wurde (Auswärtiges Amt, Lagebericht Türkei vom 27. Juli 2006, Stand Juni 2006, 508-
516.80/3 TUR, Seite 43). Diese Tatsache wird als solche nicht bezweifelt (vgl. OVG
Nds. a.a.O.). Soweit sie als ungeeignet angesehen wird, Foltergefahren
auszuschließen, bezieht sich das auf das Schicksal von Mitgliedern oder Kadern der
PKK oder anderer illegaler bewaffneter Organisationen oder von Personen, die in dieser
Weise verdächtigt worden sind (OVG Nds., a.a.O. unter Berufung auf Kaya, Gutachten
vom 8. August 2005 an das VG Sigmaringen). Zum Kreis der danach möglicherweise
weiterhin gefährdeten Personen gehören die Kläger nicht. Der Kläger hat nie behauptet,
Mitglied oder Kader der PKK gewesen zu sein. Auch ein entsprechender handfester
Verdacht kann sich nicht gegen ihn gerichtet haben, denn dann wäre er unweigerlich
vor seiner Ausreise in ein Strafverfahren verwickelt worden. Der Kläger gehörte zum
weiten Kreis der Sympathisanten, die, teils freiwillig, teils gezwungenermaßen, der
PKK-Guerilla gelegentlich Lebensmittel oder andere Güter des täglichen Bedarfs
30
zukommen ließen. Das mag seinerzeit die türkischen Sicherheitskräfte veranlasst
haben, den Kläger und seine Familie unter Druck zu setzen und ihn vor die Alternative
zu stellen, entweder das Heimatdorf zu verlassen oder Dorfschützer zu werden. Diese
Art des Vorgehens gibt es heute in der Türkei nicht mehr.
2.3.2 Im Ergebnis das gleiche gilt, wenn der Kläger nicht sofort bei der Einreise, sondern
später, bei irgendwelchen Kontakten mit der Polizei, mit den früheren
Verdachtsmomenten konfrontiert wird. Über die Wahrscheinlichkeit in diesem Fall bis
zur Folter misshandelt zu werden, lässt sich derzeit allerdings nur schwer eine
gesicherte Prognose treffen. Nach Auffassung des OVG NRW kommt es zwar einerseits
nach wie vor häufig zu Misshandlungen und Folter durch die Sicherheitskräfte, vor allem
durch die Polizei; es bestehe ein hohes Risiko, Opfer asylerheblicher Maßnahmen zu
werden für eine Person, die ins Blickfeld der Sicherheitskräfte gerät, vor allem im Vorfeld
eines etwaigen Strafverfahrens (OVG NRW, Urteil vom 19. April 2005, 8 A 273/04.A,
Seite 47,48), wobei sich die Misshandlungsmethoden jedoch tendenziell abmildern;
Folter sei weiterhin ein Bestandteil der Methodik der türkischen Sicherheitskräfte und
werde als Mittel zur Herbeiführung eines Geständnisses oder einer belastenden
Aussage gegen Dritte eingesetzt (Seite 53); nehme die Häufigkeit physischer
Misshandlungen in förmlicher Polizeihaft ab, finde sie eher in Polizeiwagen und bei
Durchsuchungen Anwendung (Seite 54). Andererseits, so das OVG NRW (a.a.O., Seite
51), hänge die Wahrscheinlichkeit, ob ein in das Blickfeld der Sicherheitskräfte
geratener Verdächtiger mit Folter und sonstigen Menschenrechtsverletzungen rechnen
muss und in welcher Weise er gegebenenfalls misshandelt wird, davon ab, wie weit die
jüngsten gesetzlichen Reformen im Zuge der „Null-Toleranz" Politik gegen Folter vor Ort
von den jeweils handelnden Amtswaltern schon umgesetzt werden, wobei festzustellen
sei, dass gerade die bislang besonders gefürchtete Terroreinheit in Istanbul,
möglicherweise auf Grund eines höheren Ausbildungsstandes, Verhöre immer häufiger
ohne Anwendung physischer Gewalt durchführt. Das Auswärtige Amt verneint für die
Gegenwart systematische Folter, stellt fest, dass die Zahl der bekannt gewordenen
Folter- und Misshandlungsfälle deutlich zurückgeht und hält bei der Beurteilung der
beachtlichen Wahrscheinlichkeit derartiger Übergriffe bei Rückkehr in die Türkei einen
besonders strengen Prüfungsmaßstab für angezeigt (Auswärtiges Amt, Lagebericht
Türkei vom 3. Mai 2005, Stand Februar 2005, 508-516.80/3 TUR); zudem sei die
Wahrscheinlichkeit von Übergriffen bei Straftaten mit politischem Hintergrund nicht
höher als bei Straftaten mit kriminellem Hintergrund (Auskunft an das VG Freiburg vom
28. Mai 2005, was allerdings unter den verschiedenen, die Verhältnisse in der Türkei
beobachtenden Auskunftspersonen- und Stellen umstritten ist). Den Grund für die
veränderten Verhältnisse sieht das Auswärtige Amt unter anderem in der gesetzlichen
Verkürzung der Polizeihaft, der Gewährleistung frühzeitigen Kontaktes zu einem
Rechtsanwalt und der Anordnung ärztlicher Untersuchungen vor Beginn einer
Vernehmung und bei der Entlassung aus dem Polizeigewahrsam. Jedenfalls soll sich
die Menschenrechtslage bezüglich Folter und Misshandlung im Vergleich zur Situation
in den Jahren vor 2001 erheblich verbessert haben (Auswärtiges Amt, Lagebericht
Türkei vom 27. Juli 2006, Seite 35).
31
Aus der auch heute noch im Fluss befindlichen Erkenntnislage lassen sich für den
Einzelfall folgende Richtpunkte gewinnen: Die Wahrscheinlichkeit, bei einer
polizeilichen Festnahme im Zusammenhang mit dem Verdacht, eine terroristische
Vereinigung unterstützt zu haben, misshandelt zu werden, hängt vom Ausbildungsstand
und vom Umfeld der jeweils ermittelnden Polizeibeamten einerseits und vom Gewicht
des Erkenntnisinteresses ab. Je dringender die vorhandenen Verdachtsmomente der
32
Aufklärung bedürfen und je wahrscheinlicher es ist, dass der in die Fänge Geratene
Auskunft geben kann, desto eher werden die Sicherheitskräfte, auch wenn sie schon
belehrt und geschult sind, geneigt sein die gesetzlichen Reformen zu vergessen, in
„bewährte" Praktiken zurück zu fallen und entsprechend rücksichtslos vorzugehen (vgl.
Urteil des Einzelrichters, VG Düsseldorf, vom 27. Juni 2005, 4 K 680/05.A).
Für die Kläger ergibt sich daraus heute kein Risiko mehr, misshandelt oder gar gefoltert
zu werden . Das lässt sich aus dem schieren Zeitablauf und dem geringen Gewicht der
dem Kläger zur Last gelegten Verdachtsmomente folgern. Heute ist die Sicherheitslage
völlig anders und gegenüber den Zeiten der bürgerkriegsähnlichen
Auseinandersetzungen wesentlich verbessert. Es bedarf, jedenfalls, wenn die Kläger im
Westen der Türkei bleiben, weder des damaligen Einschüchterungsdrucks auf sie, noch
lässt sich nach über 15 Jahren Auslandsaufenthalt in Deutschland auch durch rüde
Vernehmungsmethoden irgend etwas von ihnen erfahren, was als Information im Kampf
gegen den PKK-Terrorismus nützlich wäre. Für die Klägerin, die sich selbst als völlig
unbedarft beschreibt, gilt das erst recht. So wie die Kläger seinerzeit mit ihren
Lebensmittelhilfen in die Mühlen der wechselseitig erbittert geführten
Auseinandersetzung geraten sind, ohne auch nur im Ansatz eine herausgehobene
Rolle gespielt zu haben, so hat der Kläger sich in Deutschland exilpolitisch auf
niedrigstem Niveau als Mitläufer bewegt. Er gehört mit seinem Schicksal in der Türkei
wie mit seinem Auftreten in Deutschland zur Vielzahl türkischer Landsleute, die heute
noch wegen der lange Jahre zurück liegenden, unter völlig veränderten Bedingungen
geschehenen PKK-Unterstützung zu drangsalieren innenpolitisch und kriminaltechnisch
keinen Sinn macht. Beides, das behauptete Vorfluchtgeschehen und die Betätigungen
des Klägers in Deutschland liegen auf einer Linie. Die Kläger gehören zur Masse der
heimatvertriebenen Kurden, die aus einem gewissen Solidaritätsgefühl für die kurdische
Sache und durch ein eingewurzeltes Misstrauen gegen das türkische Militär in das
Aktionsfeld der PKK geraten sind. Ihr Engagement in der Türkei (Lebensmittelhilfe) wie
in Deutschland (schlichte Veranstaltungsteilnahme) weist sie aber als Randfiguren aus,
ist gering und für den türkischen Staat heute ungefährlich. Der Zweck der (behaupteten)
früheren Verfolgung ist erreicht. Die Kläger, von denen kein eindeutiges Bekenntnis zur
türkischen Reaktion auf den von der PKK entfachten Guerillakrieg zu erlangen war, sind
als potentielle Gefahrenquelle ausgeschaltet und zum Verlassen der Heimatregion
genötigt worden. Dazu besteht unter den heutigen Verhältnissen in der Türkei keine
Notwendigkeit mehr. Das ist auch für die türkischen Sicherheitskräfte offensichtlich, so
dass sie keine weiter gehenden Maßnahmen ergreifen werden. Es gibt keinen Anlass
anzunehmen, insbesondere der Kläger werde heute, anders als früher, dem Kreis der
entschlossenen und unbelehrbaren PKK-Mitglieder zugerechnet und deshalb bei der
Rückkehr oder später ins Visier genommen und gezielt verfolgt. Wegen des langen
Auslandsaufenthaltes käme das nur in Zusammenhang mit exponierten
Auslandsaktivitäten in Betracht. Die hat der Kläger nicht unternommen.
33
2.4 Auch in Bezug auf das behauptete Vorfluchtgeschehen sind die Zeugenaussagen
nicht geeignet, die Gefahr einer menschenrechtswidrigen Behandlung der Kläger zu
beweisen. Da die Zeugen den Grund der Befragung nicht kennen wollen, steht schon
nicht fest, dass die angeblichen Nachforschungen an das Vorfluchtgeschehen
anknüpfen. Die Bekundung des Zeugen U, es sei gefragt worden, was der Kläger in
Deutschland mache, und die angebliche Bitte einer Verwandten, der Kläger möge nicht
so häufig im Fernsehen auftreten, das bereite der Familie Schwierigkeiten, sprechen
eher für Befragungen wegen irgend welcher Vorkommnisse im Ausland nach der
Ausreise. Die Vermutung des Zeugen U, die Sicherheitskräfte träten auf den Plan,
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sobald Besucher aus dem Ausland im Heimatdorf des Klägers auftauchten, offenbar
gebe es Verräter, deutet zudem auf ein lokales Problem hin. Der
Prozessbevollmächtigte hat das durch einen Hinweis auf Reibungen zwischen
Familienclans bekräftigt, die anlässlich der Auseinandersetzung mit der PKK
unterschiedlich Stellung bezogen hätten, teils für, teils gegen den türkischen Staat.
Derartigen Anfeindungen, die mit der Stellung des Klägers als führendes Mitglied seiner
Sippe zusammen hängen sollen, können die Kläger durch einen Verbleib in einer
anderen Region der Türkei ausweichen. Dort kommt es, wie beschrieben,
möglicherweise zu Vernehmungen, nicht aber zu menschenrechtswidrigen Übergriffen.
3. Einer aktualisierten Aufklärung, etwa durch Auskünfte und
Sachverständigengutachten, zu den gegenwärtigen tatsächlichen Umständen der
Terrorbekämpfung in der Türkei, bedarf es nicht. Die objektiv aufklärbaren Ereignisse
und Tendenzen in der türkischen Staatspraxis sind unverändert. Die Bemühungen der
Eindämmung von Folter in der türkischen Straf- und Polizeirechtspraxis dauern an, der
Erfolg ist aber flächendeckend und durchschlagend noch nicht eingetreten. Immerhin
berichtet die Frankfurter Allgemeine Zeitung unter Berufung auf einen Bericht des
Antifolgerkomitees des Europarates am 7. September 2006, dass Folter in der Türkei zur
Ausnahme geworden sei. Das bestätigt im Großen und Ganzen eine unverändert im
Fluss befindliche Situation. Über die Schlüsse daraus für den Einzelfall muss das
Gericht eine Prognose anstellen, die als solche der Beweisaufnahme nicht zugänglich
ist. Sie ergibt für die Kläger, dass sie wegen der sehr geringen und zeitlich lang zurück
liegenden Unterstützung der PKK und der niedrig profilierten Aktivitäten in Deutschland
trotz möglicherweise individueller Registrierung zwar nicht vor Vernehmungen, wohl
aber vor staatlichen gewaltsamen und menschenrechtswidrigen Übergriffen sicher sind
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4. Das Erfordernis der „Unverzüglichkeit" des Widerrufs normiert keine Schutzrechte zu
Gunsten der Kläger.
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5. Der Widerruf einer Asylanerkennung nach § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG hängt nicht
davon ab, dass er innerhalb eines Jahres nach Kenntnis des Widerrufsgrundes
ausgesprochen wird. Das Gesetz stellt nach seinem eindeutigen Wortlaut diese
Voraussetzung nicht auf. Eine analoge Anwendung von § 48 Abs. 4 VwVfG verbietet
sich auch deshalb, weil es dafür an einer Gesetzeslücke fehlt. § 73 Abs. 1 Satz 1
AsylVfG enthält mit dem Tatbestandsmerkmal der „Unverzüglichkeit" bereits ein
Zeitmoment. Schließlich würde das Merkmal der Kenntnis unter den besonderen
Voraussetzungen des Asylverfahrens dem Kläger nicht zu einer Aufhebung der
angefochtenen Entscheidung verhelfen. Der Fortfall der Verfolgungsgefahr beruht nicht
nur auf zeitlich klar zu fixierenden Vorgängen in der Türkei, sondern auf einer
langsamen und zeitlich gestreckten Verbesserung der Sicherheitslage, der
Gesetzeslage und einem möglicherweise noch langsameren Umdenken bei den
türkischen Sicherheitskräfte. All das kommt nacheinander in unterschiedlicher Intensität
unterschiedlichen Gruppen von Flüchtlingen zu Gute. Die Entscheidung im Einzelfall
macht eine prognostische Bewertung erforderlich. Es ist der Behörde gestattet
zuzuwarten und die Entwicklung zu beobachten, auch wenn sich die Anzeichen
verdichten, dass der Asylbewerber nicht mehr gefährdet sein könnte. Die Kenntnis vom
Widerrufsgrund fällt unter diesen Umständen in eins mit der Entschließung, den
Widerrufsbescheid zu erlassen. Im Falle der Kläger ergibt sich aus den Akten kein
Hinweis darauf, dass sie vor dem Erlass des angefochtenen Bescheides vom 9. Juni
2006 getroffen worden ist.
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6. Aus den Gründen zu 1. bis 3. bedürfen die Kläger keines Abschiebungsschutzes.
Ihnen droht keine politische Verfolgung (§ 60 Abs. 1 AufenthG) und unabhängig davon
auch sonst nichts, was einer Rückkehr in das Heimatland entgegen stehen würde (§ 60
Abs. 2 bis 7 AufenthG).
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Die Nebenentscheidungen ergeben sich aus §§ 154 VwGO, 167 VwGO, 708 Nr. 11,
709, 711 ZPO.
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