Urteil des VG Düsseldorf vom 06.12.2006
VG Düsseldorf: öffentliche sicherheit, gefahr, stadt, räumung, angemessener zeitraum, umzug, gefährdung, obg, zustand, gebäude
Verwaltungsgericht Düsseldorf, 23 K 2932/05
Datum:
06.12.2006
Gericht:
Verwaltungsgericht Düsseldorf
Spruchkörper:
23. Kammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
23 K 2932/05
Tenor:
Die Ordnungsverfügung des Beklagten vom 7. Oktober 2004 und der
Widerspruchsbescheid des Landrats des Kreises L vom 27. Mai 2005
werden aufgehoben.
Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens. Die Zuziehung eines
Bevollmächtigten der Kläger für das Vorverfahren wird für notwendig
erklärt.
Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte kann
die Vollstreckung gegen Sicherheitsleistung in Höhe des
beizutreibenden Betrages abwenden, wenn nicht die Kläger vor der
Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leisten.
Tatbestand:
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Die am 00.00.1930 und 00.0.1932 geborenen Kläger bewohnen seit dem 1. Mai 1967
die aus vier Räumen, Küche und Bad bestehende Obdachlosenunterkunft Eweg 8 in Br.
Hierbei handelt es sich um ein im Eigentum der Stadt L1 stehendes Gebäude, welches
im Jahre 1966 als Doppelhaus mit sechs Wohneinheiten errichtet und nach den seit
1970 geltenden Satzungen der Stadt L1 über die Unterhaltung von
Obdachlosenunterkünften und die Erhebung von Gebühren für die Benutzung als
Obdachlosenunterkunft ausgewiesen worden ist. Eine Dämmung, eine Zentralheizung
sowie eine zentrale Warmwasserversorgung sind in dem Gebäude nicht vorhanden. Die
Fenster sind im Laufe der Zeit durch Kunststoff-Fenster beziehungsweise
Leichtmetallfenster mit Isolierverglasung ersetzt worden. Die monatliche
Nutzungsentschädigung für die Benutzung dieser Unterkunft betrug ausweislich
verschiedener Verfügungen des Stadtdirektors der Stadt L1 aus den Jahren 1976 bis
1980 144,81 DM und ab dem 1. Januar 1981 233,73 DM.
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Mit Ordnungsverfügung vom 10. November 1981 forderte der Stadtdirektor der Stadt L1
den Kläger zu 1) unter Androhung eines Zwangsgeldes in Höhe von 500 DM auf, sich
und seiner Familie bis zum 28. Februar 1982 durch geeignete Maßnahmen auf dem
Wohnungsmarkt eine andere Wohnung zu beschaffen. Den Widerspruch des Klägers
zu 1), der unter anderem damit begründet war, dass ihm ein Umzug in eine andere
Wohnung unzumutbar sei, weil er dort wahrscheinlich keinen Fischteich bauen könne,
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wies der Oberkreisdirektor des Kreises L mit Widerspruchsbescheid vom 5. Februar
1982 zurück. Eine Klage erhob der Kläger zu 1) nicht.
Im Januar 2002 bezifferte der Beklagte die Kosten für den Abbruch des Gebäudes mit
23.200 Euro. In seiner Sitzung vom 9. Juli 2002 beschloss der Rat der Stadt L1 die
betreffende Grundstücksfläche nach Auszug der Bewohner zu vermarkten.
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Mit Schreiben vom 12. Juni 2002 gab der Beklagte den Klägern Gelegenheit, sich zu
einer beabsichtigten Umsetzung in eine andere Wohnung mit ordnungsbehördlichen
Mitteln zu äußern, falls sie die Obdachlosenwohnung nicht bis zum 1. August 2002
geräumt und sich eine andere Wohnung auf dem freien Wohnungsmarkt beschafft
haben sollten.
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Aufgrund eines Gesprächs am 4. Juni 2003, wonach sich die Kläger unter bestimmten
Bedingungen grundsätzlich umzugswillig zeigten, bemühte sich der Beklagte um die
Anmietung anderer Wohnungen für die Kläger. Die Anmietung einer anderen Unterkunft
scheiterte jedoch teilweise an den entgegenstehenden Wünschen der Kläger und zum
Teil an der fehlenden Bereitschaft der Vermieter zur Vermietung an die Kläger.
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Mit Ordnungsverfügung vom 7. Oktober 2004 forderte der Beklagte die Kläger auf, die
von ihnen benutzte Unterkunft in der stadteigenen Obdachlosenwohnung Eweg 8, L1 zu
räumen und in eine andere Wohnung des allgemeinen Wohnungsmarktes umzuziehen.
Zur Begründung führte er im Wesentlichen aus: Die Kläger verstießen mit der
dauerhaften Nutzung der Obdachlosenwohnung gegen den Zweck der öffentlichen
Einrichtung, der darin bestehe, den obdachlosen Personen als vorübergehende
Unterkunft zu dienen. Durch die zweckwidrige Nutzung könne die
Obdachlosenunterkunft nicht mehr zweckentsprechend genutzt werden, so dass sie in
ihrem Bestand gefährdet sei. Die Kläger hätten zudem beharrlich gegen öffentlich-
rechtliche Vorschriften verstoßen und somit die Rechtsordnung verletzt, da sie ihrer
Pflicht, sich eine neue Wohnung zu beschaffen und über die Beschaffungsversuche alle
vier Wochen den Nachweis zu erbringen, nicht nachgekommen seien. Eine weitere
Gefahr für die öffentliche Sicherheit sei in den vorhandenen Baumängeln und den sich
daraus ergebenden Gesundheitsgefährdungen zu sehen. Bei ungehindertem Fortgang
des Geschehens sei zu erwarten, dass aufgrund der Mängel Gesundheitsschäden, etwa
durch Schimmelpilzbefall aufträten. Diese Gefährdung erhöhe sich zum einen durch die
Dauernutzung, weil die Kläger den gesundheitswidrigen Zuständen umso länger
ausgesetzt seien. Zum anderen erhöhe sich diese Gefährdung auch aufgrund des
hohen Lebensalters der Kläger, in dem nach allgemeiner Lebenserfahrung eine größere
Anfälligkeit für gesundheitliche Probleme bestehe. Aufgrund der andauernden Gefahr
bestehe Handlungsbedarf. Andere sinnvolle Maßnahmen, um die Gefahr zu beseitigen,
kämen nicht in Betracht. Die Maßnahmen seien auch gegen die Kläger zu richten, da
sie die Gefahr für die öffentliche Sicherheit durch ihr Verhalten verursacht hätten. Dies
gelte maßgeblich für die Gefährdung des Einrichtungszwecks und der Rechtsordnung
durch die zweckwidrige Dauernutzung. In Bezug auf die Gesundheitsgefährdungen
gehe diese Gefahr zwar auch von dem baulichen Zustand aus. Diese Mängel seien
aber auch auf die unsachgemäße Nutzung zurückzuführen, so dass die Kläger
zumindest mitverantwortlich für die Gesundheitsgefährdungen seien. Zudem sei gerade
die dauerhafte Nutzung der Unterkunft von den Klägern zu verantworten. Des Weiteren
sei auch das Gebot der Verhältnismäßigkeit gewahrt. Die Maßnahme sei geeignet, die
Gefahr für die öffentliche Sicherheit zu beseitigen. Mit der Räumung der Wohnung
werde der Zweck erreicht, den durch die Dauernutzung der Unterkunft bestehenden
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rechtswidrigen Zustand zu beseitigen. Weiterhin werde durch die Räumung der mit
baulichen Mängeln behafteten Unterkünfte die Gesundheitsgefahr beseitigt. Ein
milderes Mittel, um diesen Zweck zu erreichen, sei nicht ersichtlich. Insbesondere
erweise sich der Erlass eines Bußgeldbescheides angesichts der finanziellen Lage der
Kläger eher als eine Mehrbelastung. Die Verfügung sei ferner angemessen, wobei die
gegenläufigen Interessen gegeneinander abzuwägen seien. In die Abwägung sei
zunächst mit einzustellen, dass mit der Dauernutzung ein dauernder rechtswidriger
Zustand geschaffen und aufrechterhalten werde. Dem Obdachlosen obliege die Pflicht,
sich eine eigene Wohnung zu marktüblichen Konditionen entsprechend seinen
finanziellen Möglichkeiten zu beschaffen. Durch die Dauernutzung würden auch die
fiskalischen Interessen der Stadt L1 unangemessen beeinträchtigt. Der Stadt entstünden
mit der Erhaltung der Unterkunft erhebliche Kosten. Die Nutzungsgebühren seien
lediglich bei einer vorübergehenden Nutzung angemessen. Sie seien gerade deshalb
besonders niedrig, weil die Stadt im Rahmen der ihr obliegenden Daseinsvorsorge die
Phase überbrücken wolle, in der sich der Obdachlose eine dauerhafte Wohnung
beschaffen solle. Bei einer dauerhaften Nutzung seien die Gebühren hingegen
unangemessen. Für das dauerhafte Wohnen seien bei Bedarf andere finanzielle
Unterstützungsmöglichkeiten, wie etwa Wohngeld, vorgesehen. Die Dauernutzung
erfolge also zum größten Teil auf Kosten der Stadt und damit der Allgemeinheit. Damit
hätten sich die Kläger über Jahrzehnte durch die rechtswidrige Nutzung auf Kosten der
Allgemeinheit einen Vermögensvorteil verschafft. Im Hinblick auf die
Gesundheitsgefährdungen sei weiterhin zu berücksichtigen, dass die baulichen Mängel
nur mit unverhältnismäßig hohem Kostenaufwand beseitigt werden könnten.
Demgegenüber seien die Interessen der Kläger am Verbleib in der
Obdachlosenunterkunft weniger gewichtig. Zu berücksichtigen sei insoweit zum einen
das hohe Lebensalter der Kläger, in dem ein Umzug sicherlich schwerer falle. Ferner sei
davon auszugehen, dass die Kläger ihre Lebensweise auf die Dauernutzung
eingerichtet und auf deren Fortbestand vertraut hätten. Ihr Alter spreche gleichermaßen
aber auch gegen den Verbleib in der Unterkunft, da sich die von den Baumängeln
ausgehenden Gesundheitsgefahren mit zunehmenden Alter erhöhten. Der Umzug in
eine neue Wohnung trage insofern auch diesem Aspekt Rechnung. Auch sei das
Vertrauen der Kläger in den Fortbestand des rechtswidrigen Zustands nicht
schutzwürdig, da sie von Anfang an gewusst hätten, dass die Nutzung nur
vorübergehender Art sei. Von ganz erheblicher Bedeutung sei zudem der Umstand,
dass den Klägern in der jüngeren Vergangenheit mehrere geeignete und zumutbare
Wohnungen angeboten worden seien. Selbst wenn sie auf diese Angebote nicht hätten
eingehen wollen, so trage die Ordnungsverfügung diesem Umstand insofern Rechnung,
als den Klägern ein angemessener Zeitraum zur Verfügung stehe, sich eine passende
Wohnung zu suchen. Weiterhin sei zu beachten, dass die Stadt L1 angeboten habe, den
Klägern beim Umzug behilflich zu sein. Der Umzug selber stelle somit auch angesichts
des fortgeschrittenen Lebensalters keine unzumutbare Belastung dar. Aufgrund des
vorhandenen Wohnungsangebotes führe die Ordnungsverfügung schließlich nicht dazu,
dass die Kläger erneut in eine unfreiwillige Obdachlosigkeit fielen. Hierbei handele es
sich vielmehr um eine freiwillige Obdachlosigkeit, die keine Gefahr für die öffentliche
Sicherheit und Ordnung darstelle.
Den gegen diese Verfügung am 26. Oktober 2004 erhobenen Widerspruch wies der
Landrat des Kreises L mit Widerspruchsbescheid vom 27. Mai 2005, den Klägern
zugestellt am 1. Juni 2005, als unbegründet zurück.
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Zur Begründung ihrer am 1. Juli 2005 erhobenen Klage tragen die Kläger im
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Wesentlichen vor: Sie hätten ihren Lebensmittelpunkt einschließlich sozialer Kontakte
seit Jahrzehnten in dem Haus Eweg 8. Auch wenn die Wohnqualität in dem Gebäude
nicht heutigem Standard entspreche, so sei die Wohnung jedoch frei von
schwerwiegenden Mängeln. Die Wohnung weise insbesondere keinen
Schimmelpilzbefall auf, so dass keine gesundheitlichen Schäden drohten. Sie zahlten
auch das geforderte Nutzungsentgelt durchgehend.
Die Kläger beantragen,
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die Ordnungsverfügung des Beklagten vom 7. Oktober 2004 und den
Widerspruchsbescheid des Landrats des Kreises L vom 27. Mai 2005
aufzuheben.
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Der Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Zur Begründung wiederholt und vertieft er sein bisheriges Vorbringen.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird ergänzend auf den
Inhalt der Gerichtsakten sowie der Verwaltungsvorgänge des Beklagten Bezug
genommen.
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Entscheidungsgründe:
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Die Klage ist begründet. Die Ordnungsverfügung des Beklagten vom 7. Oktober 2004
und der Widerspruchsbescheid des Landrats des Kreises L vom 27. Mai 2005 sind
rechtswidrig und verletzen die Kläger in ihren Rechten, vgl. § 113 Abs. 1 Satz 1
Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO.
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Ermächtigungsgrundlage für den Erlass der angefochtenen Räumungsverfügung ist
§ 14 Abs. 1 Ordnungsbehördengesetz – OBG. Danach können die jeweils zuständigen
Ordnungsbehörden nach pflichtgemäßem Ermessen die notwendigen Maßnahmen
treffen, um eine im einzelnen Fall bestehende Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder
Ordnung abzuwehren. Diese Voraussetzungen sind vorliegend nicht erfüllt.
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Dabei kann dahinstehen, ob tatsächlich für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung eine
Gefahr besteht, für die die Kläger nach § 17 OBG verantwortlich sind. Die Kläger
bewohnen die stadteigene Obdachlosenunterkunft Eweg 8 in L1 unabhängig vom
Ergehen einer formellen Einweisungsverfügung jedenfalls auf der Grundlage einer
tatsächlichen willentlichen Gebrauchsüberlassung durch die Stadt L1 aufgrund eines
öffentlich-rechtlichen Gebrauchsüberlassungsverhältnisses seit dem 30. April 1967,
mithin seit fast vierzig Jahren mit Rechtsgrund. Der Beklagte hat die Kläger mit
Ausnahme der streitigen Ordnungsverfügung in dieser Zeit nicht einmal ernsthaft
aufgefordert, diese seiner Meinung nach den Bestand der Obdachlosenunterkunft
gefährdende Dauernutzung zu beenden. Lediglich mit Ordnungsverfügung vom
10. November 1981 forderte der Stadtdirektor der Stadt L1 den Kläger zu 1) unter
Androhung eines Zwangsgeldes in Höhe von 500 DM auf, sich und seiner Familie bis
zum 28. Februar 1982 durch geeignete Maßnahmen auf dem Wohnungsmarkt eine
andere Wohnung zu beschaffen. Bis auf dieses Verfahren, von dem nicht einmal
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ersichtlich ist, ob insoweit überhaupt eine Zwangsvollstreckung stattgefunden hat, hat
der Beklagte in all den Jahren keine weiteren Maßnahmen ergriffen, um die Kläger zur
Räumung der Obdachlosenunterkunft zu bewegen. Unter diesen Umständen von einer
Gefahr für die öffentliche Sicherheit wegen der Gefährdung des Bestands der
Obdachlosenunterkunft auszugehen, ist angesichts dessen, dass der Beklagte eine
solche Gefahr offenbar selbst bei einer fünfunddreißigjährigen Dauernutzung nicht
gesehen hat, zweifelhaft.
Ebenso zweifelhaft ist die Annahme einer Gefahr für die öffentliche Sicherheit wegen
der Gesundheitsgefährdungen der Kläger durch die weitere Nutzung der
Obdachlosenunterkunft. Dass tatsächlich eine Gesundheitsgefährdung der Kläger
infolge von Schimmelpilzbefall der Obdachlosenunterkunft besteht, ist von den Klägern
bestritten. Der Beklagte hat hierzu auch keinerlei substantiierte Feststellungen
dokumentiert. In den Verwaltungsvorgängen findet sich insoweit lediglich ein Vermerk
des Beklagten vom 31. Januar 2000, wonach bei einer Besichtigung des Doppelhauses
festgestellt worden ist, dass weder die Dachflächen, Giebelflächen oder Außenwände
undicht sind noch Niederschlagswasser eindringt. Bezüglich der von einem Herrn H
bewohnten Unterkunft im ersten Obergeschoss des Nachbarhauses Eweg 6 wurde
festgestellt, dass die vorhandenen Kälte- beziehungsweise Wärmebrücken zahlreiche
nachteilige Auswirkungen, wie zum Beispiel Tauwasserausfall, Schimmelpilzbefall und
erhöhten Wärmebedarf zur Folge hätten und diese Schäden im engen Zusammenhang
mit der Beheizung und Belüftung dieser Wohnung stünden, was diesem "Mieter"
mehrmals ausdrücklich gesagt worden sei. Tatsächliche Feststellungen bezüglich eines
Schimmelpilzbefalls der Unterkunft der Kläger finden sich hingegen an keiner Stelle des
Verwaltungsvorgangs. Ebenso finden sich keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass
vermeintliche Schäden an der Unterkunft tatsächlich auf das Verhalten gerade der
Kläger zurückzuführen sind, so dass diese dafür verantwortlich sind.
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Des Weiteren zweifelhaft ist, ob eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit darin besteht,
dass die Kläger die Rechtsordnung dadurch verletzt haben, dass sie ihrer Pflicht, sich
eine neue Wohnung zu beschaffen und über die Beschaffungsversuche alle vier
Wochen den Nachweis zu erbringen, nicht nachgekommen sind. Auch insoweit ist
nämlich zu bedenken, dass der Beklagte dieser Verpflichtung der Kläger offenbar
bislang keine Bedeutung beigemessen hat, da er sie im Laufe von fünfunddreißig
Jahren lediglich ein einziges Mal eingefordert hat, ohne dieser Forderung zudem
Nachdruck zu verleihen.
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Ob nach alledem tatsächlich für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung eine Gefahr
besteht, bedarf abschließend keiner Entscheidung; denn die Ordnungsverfügung
entspricht zunächst schon nicht der Vorschrift des § 15 OBG. Nach Abs. 1 haben die
Ordnungsbehörden von mehreren möglichen und geeigneten Maßnahmen diejenige zu
treffen, die den Einzelnen und die Allgemeinheit voraussichtlich am wenigsten
beeinträchtigen. Nach Abs. 2 darf eine Maßnahme nicht zu einem Nachteil führen, der
zu dem erstrebten Erfolg erkennbar außer Verhältnis steht. Nach Abs. 3 ist eine
Maßnahme nur solange zulässig, bis ihr Zweck erreicht ist oder sich zeigt, dass er nicht
erreicht werden kann. Unter Berücksichtigung dieser Vorgaben erweist sich die
angefochtene Ordnungsverfügung als unverhältnismäßig.
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Die Räumung der Unterkunft würde zunächst für die Kläger zu einem Nachteil führen,
der zu dem nach der Ordnungsverfügung ausdrücklich angestrebten Erfolg, nämlich den
Bestand der Obdachlosenunterkunft zu sichern, erkennbar außer Verhältnis steht. Da
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die Kläger nach erfolgter Räumung tatsächlich über keine Wohnung mehr verfügen
würden, würden sie mit der Räumung ihrer bisherigen Unterkunft erneut obdachlos.
Allein der Verweis des Beklagten auf ein in L1 vorhandenes Wohnungsangebot und die
damit verbundene Möglichkeit der Kläger, sich eine neue Wohnung zu suchen, genügt
nicht zur Beseitigung der nach Räumung ihrer bisherigen Unterkunft erneut eintretenden
Obdachlosigkeit. Obdachlosigkeit stellt eine Störung der öffentlichen Sicherheit dar,
denn sie gefährdet akut Grundrechte und grundrechtlich geschützte Lebensgüter des
Obdachlosen, insbesondere dessen Gesundheit und Leben, aber auch sein
allgemeines Persönlichkeitsrecht, namentlich die Menschenwürde. Diese Rechte und
Lebensgüter des einzelnen Obdachlosen gehören zugleich zu den Schutzgütern, deren
Gefährdung und Verletzung die Ordnungsbehörde abzuwenden hat. Grundsätzlich hat
zwar jedermann selber für sein Obdach Sorge zu tragen, deshalb kann der Obdachlose
auch als Verantwortlicher nach § 17 OBG angesehen werden. Die Frage eines
Verschuldens stellt sich insoweit jedoch nicht. Die zentrale Voraussetzung für ein
ordnungsbehördliches Handeln ist, dass eine Gefahr abgewendet werden muss, nicht
dagegen, dass jemand "stört".
Unabhängig davon kann der mit der Ordnungsverfügung ausdrücklich angestrebte
Erfolg, nämlich den Bestand der Obdachlosenunterkunft zu sichern, ohnehin nicht
erreicht werden, da nach dem Beschluss des Rates der Stadt L1 vom 9. Juli 2002 die
betreffende Grundstücksfläche nach dem Auszug der Bewohner vermarktet werden und
nicht etwa als Obdachlosenunterkunft erhalten bleiben soll.
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Die mit der hier streitigen Ordnungsverfügung angeordnete Aufforderung zur Räumung
der Unterkunft ist ferner weder angemessen noch geeignet, die vom Beklagten weiterhin
angenommene Gefahr für die öffentliche Sicherheit, die darin gesehen wird, dass die
Kläger ihrer Pflicht, sich eine neue Wohnung zu beschaffen und über die
Beschaffungsversuche alle vier Wochen den Nachweis zu erbringen, nicht
nachgekommen sind, zu beseitigen. Dieser Verstoß der Kläger kann nicht durch eine
Räumung der Unterkunft beseitigt werden. Insoweit hätten die Kläger als milderes Mittel
entsprechend ihrer satzungsmäßigen Verpflichtung gegebenenfalls unter Einschaltung
des Sozialamtes und des Wohnungsamtes aufgefordert werden können, den Zustand
ihrer Obdachlosigkeit durch ständige und intensive Suche nach einer eigenen Wohnung
zu beseitigen und der Stadt in Abständen von vier Wochen über die getroffenen
Maßnahmen zur Wohnungssuche in angemessener Form den Nachweis zu erbringen.
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Die Aufforderung zur Räumung der Unterkunft ist ferner unangemessen im Hinblick auf
die vom Beklagten angenommene vermeintliche Gesundheitsgefährdung der Kläger.
Soweit der Beklagte hierzu behauptet, die baulichen Mängel könnten nur mit
unverhältnismäßig hohem Kostenaufwand beseitigt werden, fehlt es bereits an jeglicher
tatsächlicher Feststellung. Allein der bereits zuvor erwähnte Vermerk des Beklagten
vom 31. Januar 2000 kommt zu dem Ergebnis, dass der Einbau einer zentralen
Heizungsanlage Kosten in Höhe von 45.000 DM pro Haus verursachen würde. Um die
Kosten einer zentralen Heizungsanlage geht es aber nicht bei der Beseitigung der in
einem eventuellen Schimmelpilzbefall bestehenden vermeintlichen
Gesundheitsgefährdung. Vor der Aufforderung zur Räumung der Unterkunft hätte es als
milderes Mittel nahegelegen, zunächst einmal die tatsächliche Gesundheitsgefahr und
damit verbundene mögliche Kosten zu ermitteln und gegebenenfalls die Unterkunft zu
renovieren, wobei möglicherweise – sofern die Schäden von ihnen verursacht sind -
auch die Kläger kostenmindernd zur Renovierung herangezogen werden könnten.
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Unabhängig von dem Vorstehenden hat der Beklagte zudem das ihm eingeräumte
Ermessen nicht ordnungsgemäß ausgeübt. Gemäß § 40 Verwaltungsverfahrensgesetz
für das Land Nordrhein-Westfalen – VwVfG NRW – hat die Behörde ihr Ermessen
entsprechend dem Zweck der Ermächtigung auszuüben und die gesetzlichen Grenzen
des Ermessens einzuhalten.
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Der Beklagte hat sein Ermessen nicht entsprechend dem Zweck der Ermächtigung
ausgeübt. Typisch für einen Ermessensfehlgebrauch ist, dass die Behörde auf einem
fehlerhaften gedanklichen Weg zu ihrer Entscheidung gelangt ist. Der Beklagte hat
seine Ermessensentscheidung, die Kläger zur Räumung der Unterkunft aufzufordern,
gemäß Ziffern II 2. a) (1) und 2. b) (1) der angefochtenen Ordnungsverfügung
maßgeblich darauf gestützt, dass durch die zweckwidrige Dauernutzung die
Obdachlosenunterkunft nicht mehr zweckentsprechend genutzt werden kann, so dass
sie in ihrem Bestand gefährdet ist. Diese Begründung ist fehlerhaft und sachwidrig, da
nach dem Beschluss des Rates der Stadt L1 vom 9. Juli 2002 der weitere Bestand der
Obdachlosenunterkunft überhaupt nicht beabsichtigt ist. Der Auszug der Bewohner soll
nach diesem Beschluss lediglich dazu dienen, die betreffende Grundstücksfläche
vermarkten zu können. Derartige Überlegungen finden sich jedoch an keiner Stelle der
Ermessenserwägungen, so dass die Entscheidung für die Räumung der Unterkunft nicht
dem Zweck der Ermächtigung entspricht.
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Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Zuziehung eines
Bevollmächtigten für das Vorverfahren, war gemäß § 162 Abs. 2 Satz 2 VwGO für
notwendig zu erklären, da die Kläger ohne anwaltliche Hilfestellung nicht in der Lage
gewesen wären, ihre Rechte gegenüber dem Beklagten in ausreichendem Maße zu
wahren. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO
in Verbindung mit §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.
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