Urteil des VG Düsseldorf vom 30.10.2007
VG Düsseldorf: behandlung, bvo, fürsorgepflicht, altersgrenze, herbst, anerkennung, beihilfe, kieferanomalie, angriff, beschränkung
Verwaltungsgericht Düsseldorf, 2 K 1098/07
Datum:
30.10.2007
Gericht:
Verwaltungsgericht Düsseldorf
Spruchkörper:
2. Kammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
2 K 1098/07
Tenor:
Die Klage wird abgewiesen.
Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Klägerin
kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in
Höhe von 110 v.H. des beizutreibenden Betrages abwenden, wenn nicht
der Beklagte zuvor Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Tatbestand:
1
Die Klägerin steht als verbeamtete Lehrerin (Besoldungsgruppe A 14 BBesO) im Dienst
des beklagten Landes.
2
Mit Schreiben vom 10. Dezember 2006 beantragte sie bei der Beihilfestelle der
Bezirksregierung E (Bezirksregierung) die Genehmigung einer kieferorthopädischen
Behandlung ihres am 00.0.1985 geborenen Sohnes I. Sie legte hierzu einen
kieferorthopädischen Behandlungsplan des Fachzahnarztes für Kieferorthopädie L aus
B vom 1. Dezember 2006 vor, in dem die voraussichtlichen Kosten mit 5.081,79 Euro
beziffert sind und weiter ausgeführt ist:
3
„Diagnose
4
OK Schmalkiefer mit engst. Protrusion der Front. Knapper Überbiß. Kreuzbiss von 15
und 25
5
UK Transversal regelgerecht entwickelter Kiefer mit Engstand der Front.
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Bisslage Sklettale CL III
7
Therapie
8
OK Dehnen, Harmonisieren des Zahnbogens. Engstandbeseitigung und Kontraktion der
Front. Bisssenkung. Überstellen des Kreuzbisses.
9
UK Slicen. Engstandbeseitigung, Ausformen des Zahnbogens.
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(...)
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Verw. Geräte Invisalign, Lingualretainer (...)
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Voraussichtliche Dauer 6 Quartale" Mit Bescheid vom 12. Dezember 2006 teilte die
Bezirksregierung der Klägerin mit, dass eine Beihilfefähigkeit nicht gegeben sei. Gemäß
§ 4 Abs. 2 lit. a) der Verordnung über die Gewährung von Beihilfen in Krankheits-,
Geburts- und Todesfällen (Beihilfenverordnung - BVO -) sei eine kieferorthopädische
Behandlung nur beihilfefähig, wenn die zu behandelnde Person bei
Behandlungsbeginn das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet habe. Die
Voraussetzungen für eine Ausnahme von der Altersbegrenzung seien nach den
vorgelegten Unterlagen nicht gegeben.
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Die Klägerin legte hiergegen unter dem 3. Januar 2007 Widerspruch mit der
Begründung ein, die Vollendung des 18. Lebensjahres könne ihr nicht entgegen
gehalten werden, da es sich bei der vorgesehenen Maßnahme nicht um eine
Erstbehandlung, sondern um die Fortsetzung einer früheren Behandlung durch die
Kieferorthopädin L1 aus F handele. Durch den Wohnortwechsel ihres Sohnes nach B
sei seit Studienbeginn Herr L mit der Behandlung betraut. Die Klägerin fügte ein
Schreiben Frau L1 vom 20. Dezember 2006 bei, in dem ausgeführt ist:
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In der Zeit vom 11.09.1995 bis 08.11.1999 hat eine kieferorthopädische Behandlung
stattgefunden. Es handelte sich dabei um die Behebung einer Kieferkompression mit
beidseitigem Kreuzbiss und Platzmangel für 33, 43, Mesialtendenz des Unterkiefers,
vertikales Wachstum.
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Wegen der Rezidivgefahr wurden nach Abschluss der Behandlung die
Retentionsplatten noch über zwei Jahre getragen und im November 2001 die
Weisheitszähne entfernt. Ein fester Lingualretainer wurde empfohlen.
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Die Bezirksregierung wies den Widerspruch durch Bescheid vom 23. Februar 2007 mit
folgender Begründung zurück: Der Sohn der Klägerin habe die Altersgrenze
überschritten. Zwar seien dann, wenn der Behandlungsbeginn vor Vollendung des 18.
Lebensjahres liege, Unterbrechungszeiten der Behandlung bis zu zwölf Monaten
beihilfenrechtlich unschädlich. Diese Voraussetzungen lägen hier aber nicht vor. Eine
schwere Kieferanomalie im Sinne des § 4 Abs. 2 lit. a) 2. Halbsatz BVO sei offenkundig
nicht gegeben.
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Mit Schreiben vom 21. Februar 2007, bei der Bezirksregierung eingegangen am 23.
Februar 2007, führte die Klägerin unter Bezugnahme auf eine vorangegangene
telefonische Absprache mit dem Sachbearbeiter zur Begründung ihres Widerspruchs
ergänzend aus: Frau L1 habe seinerzeit auch nach Entfernen der Weisheitszähne im
November 2001 eine Rezidivgefahr nicht ausschließen können und deshalb empfohlen,
die Entwicklung zu beobachten und gegebenenfalls die kieferorthopädische Maßnahme
in Form eines Lingualretainers fortzusetzen. Im medizinischen Sinne stelle deshalb der
von Herrn L vorgesehene Lingualretainer eine Fortführung der Therapie dar. In B sei ihr
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Sohn zunächst wegen zurückgehenden Zahnfleisches von der Praxis C behandelt
worden, so dass die kieferorthopädische Maßnahme bis zum Herbst 2006 habe
zurückgestellt werden müssen. Die Klägerin fügte ein Schreiben des Herr L (ohne
Datum) mit folgendem Wortlaut bei:
hiermit bescheinige ich Ihnen, dass mein Behandlungsplan vom 01.12.2006 eine
Weiterbehandlung der von der Kollegin L1 begonnenen Behandlung ist. Insbesondere
wurde der Lingualretainer von ihr explizit empfohlen.
19
Die Bezirksregierung teilte der Klägerin unter dem 27. März 2007 mit, dass sich aus
ihrem Schreiben vom 21. Februar 2007 keine neuen Erkenntnisse dafür ergäben, dem
Widerspruch stattzugeben.
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Die Klägerin hat bereits am 20. März 2007 die vorliegende Klage erhoben. Sie rügt
zunächst, dass der Sachbearbeiter der Bezirksregierung vor Erlass des
Widerspruchsbescheides nicht, wie verabredet, ihre ergänzende
Widerspruchsbegründung nebst ärztlicher Bescheinigung abgewartet habe. Dies stelle
für sie einen „Missbrauch des Vertrauensschutzes" durch die Beihilfestelle dar, zumal
ihr aus Kollegenkreisen bekannt sei, dass bei über 18-jährigen Kindern im ähnlichen
Fall nach Vorliegen einer fachärztlichen Begründung die Kosten übernommen worden
seien.
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In der Sache macht sie geltend: Es handele sich bei der Behandlung ihres Sohnes
durch Herrn L um die Fortsetzung der durch Frau L1 im September 1995 begonnenen
kieferorthopädischen Behandlung. Diese sei entgegen dem insoweit
missverständlichen Wortlaut der Bescheinigung vom 20. Dezember 2006 nicht bereits
im November 1999 beendet gewesen. Denn ihr Sohn habe wegen der Rezidivgefahr
anschließend die Retentionsplatten noch über zwei Jahre getragen. Auf Anweisung von
Frau L1 vom 22. Oktober 2001 hätten zwecks Gewährleistung einer ordnungsgemäßen
Kieferentwicklung am 16. November 2001 in der Praxis C1 die Weisheitszähne entfernt
werden müssen. Demnach habe sich die kieferorthopädische Behandlung ihres Sohnes
durch Frau L1 bis Oktober 2001 erstreckt. Für die Zeit danach sei von Frau L1 angeraten
worden, die Entwicklung weiterhin zu beobachten, da auch nach Entfernen der
Weisheitszähne die Rezidivgefahr nicht ausgeschlossen gewesen sei. Gegebenfalls
habe die kieferorthopädische Behandlung weitergeführt werden sollen. Explizit
empfohlen worden sei von Frau L1 ein fester Lingualretainer. Die Klägerin hat zum
Beleg hierfür einen von Frau L1 am 22. Oktober 2001 erstellten „Nachtrag zum
kieferorthopädischen Behandlungsplan" vorgelegt, in dem es heißt, dass „zur
Vermeidung eines Rezidivs und zur Stabilisierung des Endergebnisses (...) das
Einsetzen einer Dauerretainers sinnvoll" sei.
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Hierzu sei es allerdings nicht gekommen. Es habe in der Folgezeit zunächst auch keine
weiteren kieferorthopädischen Behandlungen durch Frau L1 oder einen anderen
Kieferorthopäden gegeben. Im Herbst 2004 habe ihr Sohn sein Studium in B
aufgenommen. Dort habe er sich Anfang 2005 wegen zurückgehenden Zahnfleisches in
die Behandlung der Zahnarztpraxis C begeben. Da sich diese Behandlung bis Herbst
2006 erstreckt habe, habe die kieferorthopädische Behandlung durch Herrn L bis zu
diesem Zeitpunkt zurückgestellt werden müssen, sei aber inzwischen aufgenommen
worden.
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Hiernach handele es sich bei der kieferorthopädischen Behandlung ihres Sohnes um
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ein und dieselbe Maßnahme, lediglich durchgeführt von zwei verschiedenen
Kieferorthopäden. Bereits bei der Behandlung durch Frau L1 sei es um die Behebung
einer Kieferkompression mit beidseitigem Kreuzbiss gegangen, wie sich etwa aus der
Anlage zum Heil- und Kostenplan vom 29. Juni 1998 ergebe. Auch in dem
Behandlungsplan des Herrn L vom 1. Dezember 2006 sei ein Kreuzbiss diagnostiziert
worden und sei der Lingualretainer vorgesehen. Die Klägerin nimmt ferner Bezug auf
eine weitere Stellungnahme des Herrn L vom 9. August 2007, in der es heißt:
... bei der nun stattfindenden kieferorthopädischen Behandlung werden der Kreuzbiss im
Oberkiefer und der untere Frontengstand korrigiert. Inwiefern es (sich) um ein Rezidiv
der vorangegangenen Behandlung oder um Restfehlstellungen handelt, kann ich wegen
fehlender Schlussmodelle nicht eindeutig beantworten. Der geplante Lingualretainer im
Unterkiefer ist aber explizit, wie auch der Vorbehandler empfohlen hat, eine
Weiterführung der vorangegangenen Behandlung.
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Ihr könne nicht entgegengehalten werden, dass ihr Sohn nicht durchgängig zum
Kieferorthopäden gegangen sei. Es spräche ihrem gesunden Menschenverstand Hohn,
wenn ihr Sohn vor und nach seinem 18. Geburtstag ohne Notwendigkeit regelmäßig
den Kieferorthopäden aufgesucht und Kosten verursacht hätte, nur um - wie von der
Beihilfestelle gefordert - die formale Weiterführung der Behandlung nachweisen zu
können.
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Die Klägerin beantragt,
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den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides der Bezirksregierung E vom 12.
Dezember 2006 und deren Widerspruchsbescheides vom 23. Februar 2007 zu
verpflichten, die Beihilfefähigkeit der kieferorthopädischen Behandlung ihres Sohnes
gemäß dem Behandlungsplan des Herr L vom 1. Dezember 2006 anzuerkennen.
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Der Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Er führt ergänzend aus: Die Klage könne zwar als zulässig angesehen werden, obwohl
es nicht um einen „klassischen" Beihilfeantrag, sondern um die Anerkennung eines
Behandlungsplans gehe. § 4 Abs. 2 lit. b) Satz 3 BVO sehe eine derartige Entscheidung
vor. Die Klage sei aber unbegründet. Da keine schwere Kieferanomalie vorliege, seien
Aufwendungen für eine kieferorthopädische Behandlung des Sohnes der Klägerin nach
§ 4 Abs. 2 lit. a) BVO nicht mehr beihilfefähig, da dieser im Zeitpunkt des beabsichtigten
Beginns der Behandlung durch Herrn L das 18. Lebensjahr deutlich überschritten habe.
Angesichts des seit der Beendigung der Behandlung durch Frau L1 vergangenen
Zeitraums könne auch nicht mehr von der Fortführung einer bereits vor Vollendung des
18. Lebensjahres begonnenen Behandlung die Rede sei. Selbst wenn die Behandlung
durch Frau L1 nicht bereits im November 1999, sondern wegen der regelmäßig mit zu
berücksichtigenden Retentionsphase und im Hinblick auf die von der Klägerin
dargelegten weiteren Behandlungen erst im November 2001 beendet gewesen sei, sei
der Zeitraum zwischen dem Abschluss der ersten Behandlung und der Aufnahme der
neuen Behandlung zu groß, um noch von einem Behandlungskontinuum ausgehen zu
können. Nach November 2001 habe über einen Zeitraum von ca. fünf Jahren keine
kieferorthopädische Behandlung mehr stattgefunden. Die Klägerin bestätige dies
indirekt, wenn sie ausführe, dass ihr Sohn, hätte er in der fraglichen Zeit einen
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Kieferorthopäden aufgesucht, dies allein aus formalen Gründen, d.h. ohne medizinische
Notwendigkeit, getan hätte. Im Übrigen hätten derartige „Alibibesuche" nicht zur
Wahrung der Beihilfeansprüche über das 18. Lebensjahr hinaus beitragen können. Für
die altersmäßige Beschränkung gebe es sachliche Gründe. Der Verordnungsgeber
gehe davon aus, dass Korrekturen des Kiefers bei einem Menschen vor Erreichen des
18. Lebensjahres noch medizinisch sinnvoll seien und danach nur die Übernahme der
Aufwendungen für die Beseitigung schwerer Anomalien und Fehlstellungen geboten
sei.
Die Kammer hat mit Beschluss vom 14. Juni 2007 den Rechtsstreit dem Einzelrichter
zur Entscheidung übertragen.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der
Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge Bezug genommen.
33
Entscheidungsgründe:
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Die Klage hat keinen Erfolg.
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Das Gericht geht von der Zulässigkeit der vorliegenden Verpflichtungsklage aus. Der
Beklagte hat den Antrag der Klägerin auf Anerkennung der Beihilfefähigkeit der in dem
kieferorthopädischen Behandlungsplan des Herrn L vom 1. Dezember 2006
dargestellten Behandlung des Sohnes der Klägerin entsprechend § 4 Abs. 2 lit. b) Satz
3 BVO in der Sache beschieden.
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Die Klage ist aber nicht begründet.
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Der Bescheid der Bezirksregierung E vom 12. Dezember 2006 in Gestalt des
Widerspruchsbescheides der Bezirksregierung E vom 23. Februar 2007, ergänzt durch
Schreiben vom 27. März 2007, ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren
Rechten (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO). Die Klägerin hat keinen Anspruch auf
Anerkennung der Beihilfefähigkeit der Aufwendungen für die weitere
kieferorthopädische Behandlung ihres Sohnes.
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Nach § 88 Satz 2 LBG, § 3 Abs. 1 BVO sind die notwendigen Aufwendungen in
angemessenem Umfange beihilfefähig. In Krankheitsfällen sind unter anderem
Aufwendungen zur Wiedererlangung der Gesundheit, zur Besserung oder Linderung
von Leiden und zur Beseitigung oder zum Ausgleich angeborener oder erworbener
Körperschäden notwendig (§ 3 Abs. 1 Nr. 1 BVO). Aufwendungen für
kieferorthopädische Leistungen sind nach § 4 Abs. 2 lit. a) BVO regelmäßig aber nur
dann beihilfefähig, wenn die behandelte Person bei Behandlungsbeginn das 18.
Lebensjahr noch nicht vollendet hat. Eine Ausnahme von der Altersbegrenzung gilt bei
schweren Kieferanomalien, die eine kombinierte kieferchirurgische und
kieferorthopädische Behandlung erfordern.
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Hiernach erweisen sich die Aufwendungen für die ab Dezember 2006 geplante
kieferorthopädische Behandlung des Sohnes der Klägerin als nicht beihilfefähig. I1 war
zu diesem Zeitpunkt bereits 21 Jahre alt. Er leidet auch nicht an einer schweren
Kieferanomalie im Sinne des § 4 Abs. 2 lit. a) BVO. Hierzu zählen insbesondere
angeborene Missbildungen des Gesichts und des Kiefers und skelettale
Kieferfehlstellungen.
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Vgl. im Einzelnen Mohr/Sabolewski, Beihilfenrecht Nordrhein-Westfalen, B I § 4 Anm.
13; Verwaltungsgericht (VG) Bayreuth, Urteil vom 18. Juli 2003 - B 5 K 02.597 -, juris.
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Derartige schwerwiegende Fehlstellungen weist der Behandlungsplan vom 1.
Dezember 2006 nicht aus. Insbesondere ergibt sich aus ihm nicht das Erfordernis einer
kombinierten kieferchirurgische und kieferorthopädischen Behandlung. Chirurgische
Leistungen etwa nach Abschnitt D der Gebührenordnung für Zahnärzte sind in dem
Behandlungsplan nicht aufgeführt.
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An der Überschreitung der Altersgrenze ändert auch nichts der Umstand, dass der Sohn
der Klägerin sich bereits in den 1990er Jahren und somit vor Vollendung seines 18.
Lebensjahres einer kieferorthopädischen Behandlung unterzogen hatte. Die damalige
Behandlung könnte den Behandlungsbeginn im Sinne des § 4 Abs. 2 lit. a) BVO nur
dann auch im Hinblick auf die vorliegend streitige Behandlung bestimmen, wenn sich
die durch Herrn L ab Dezember 2006 geplante (und inzwischen auch tatsächlich in
Angriff genommene) Behandlung als Fortsetzung der Behandlung durch Frau L1
darstellte.
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Vgl. hierzu auch Bundessozialgericht (BSG), Urteil vom 9. Dezember 1997 - 1 RK 11/97
-, BSGE 81, 245.
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Davon ist aber nicht auszugehen. Frau L1 hatte ausweislich ihrer Bescheinigung vom
20. Dezember 2006 die letzte kieferorthopädische Behandlung des Sohnes der Klägerin
am 8. November 1999 durchgeführt. Zwar wurden - wie Frau L1 weiter ausgeführt hat -
„wegen der Rezidivgefahr (...) nach Abschluss (Hervorhebung durch das Gericht) der
Behandlung die Retentionsplatten noch über zwei Jahre getragen". Hierbei handelte es
sich aber schon nicht mehr um die Fortsetzung der Behandlung. Eine derartige
Plattenapparatur dient ebenso wie die aus einem dem Zahnbogen angepassten, mit
Kunststoffen an der Zahnoberfläche befestigten festsitzenden Lingualretainer oder die
sog. Positioner vielmehr lediglich dem Zweck, nach Beendigung der durch die
kieferorthopädische Behandlung bewirkten aktiven Zahnbewegung das Ergebnis zu
sichern, d.h. alle zuvor bewegten Zähne an Ort und Stelle zu verhalten. Die Verordnung
derartiger Retainer kann demnach nicht als aktives Therapieelement und somit auch
nicht als Weiterbehandlung gewertet werden.
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Vgl. hierzu das im Verfahren - 26 K 77/06 - eingeholte und in das vorliegende Verfahren
eingeführte Gutachten des Stadtzahnarztes Dr. Schäfer vom 16. August 2006 (S. 3 ff.).
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Selbst wenn man davon ausgeht, dass die kieferorthopädische Behandlung des Sohnes
der Klägerin durch Frau L1 am 22. Oktober 2001 - und somit vor Vollendung des 18.
Lebensjahres - dadurch eine Fortsetzung erhalten hat, dass die Kieferorthopädin - so
die Klägerin - die Entfernung der Weisheitszähne anwies, weil diese die
ordnungsgemäße Kieferentwicklung behinderten, und diese Maßnahme im November
2001 durch die Praxis C1 durchgeführt wurde, stellt sich die Behandlung durch Herrn L
nicht als Fortführung der bereits 1995 begonnenen Behandlung dar. In dem Zeitraum
von über fünf Jahren zwischen November 2001 und Dezember 2006 erfolgte weder
durch Frau L1 noch durch einen anderen Facharzt eine kieferorthopädische
Behandlung. Bei einer so langen Zeit ohne fachärztliche Behandlung oder auch nur
Beobachtung ist nicht von einer Fortsetzung der ersten Behandlung auszugehen.
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Vgl. auch Mohr/Sabolewski, a.a.O., wonach Unterbrechungszeiten der Behandlung nur
bis zu 12 Monaten beihilfenrechtlich unschädlich sein sollen.
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Das gilt auch dann, wenn es sich - was ausweislich der Stellungnahme Herrn L vom 9.
August 2007 indes unklar ist - bei den von Herrn L diagnostizierten Fehlstellungen „um
ein Rezidiv der vorangegangenen Behandlung" handelt, es also um die erneute
Behandlung der von Frau L1 - ohne bleibenden Erfolg - behandelten Fehlstellungen
geht, es sich also nicht um die Behebung von „Restfehlstellungen", also bislang noch
nicht behandelter Fehlstellungen, handelt. In beiden Fällen steht eine Behandlung in
Frage, deren Notwendigkeit erst mehr als fünf Jahre nach Abschluss der ersten
Behandlung festgestellt und die auch erst dann in Angriff genommen worden ist. Von
einem in die 1990er Jahre zurückreichenden Behandlungskontinuum kann hierbei nicht
mehr die Rede sein.
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Hieran ändert auch der Umstand nichts, dass Frau L1 unter dem 22. Oktober 2001 einen
„Nachtrag" zu ihrem Behandlungsplan erstellt hatte, in dem sie das Einsetzen eines
Dauerretainers als sinnvoll bezeichnete. Zum einen wurde diese Maßnahme in der
Folgezeit tatsächlich nicht durchgeführt, vermochte somit auch kein Bindeglied zu der im
vorliegenden Verfahren streitbefangenen Maßnahme zu bilden. Zum anderen kann die
damals beabsichtigte Anbringung eines Lingualretainers im Rechtssinne auch nicht als
Weiterbehandlung ansehen werden. Denn die Retentionsphase ist, wie bereits
ausgeführt, nicht Bestandteil der (aktiven) Behandlung, sondern schließt sich lediglich
an diese an. Dies findet seine Bestätigung auch darin, dass Frau L1 den Retainer „zur
Vermeidung eines Rezidivs und zur Stabilisierung des Endergebnisses" angeraten
hatte.
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Wenn die Klägerin weiter vorträgt, Frau L1 habe seinerzeit darüber hinaus dazu geraten,
die Entwicklung weiterhin zu beobachten, da auch nach Entfernen der Weisheitszähne
die Rezidivgefahr nicht ausgeschlossen sei, und gegebenenfalls die
kieferorthopädische Behandlung weiterzuführen, ändert das nichts Entscheidendes an
der Einschätzung des Gerichts, dass die Behandlung durch Herrn L sich nicht als
Fortsetzung der früheren Behandlung darstellt. Denn der Sohn der Klägerin hat sich
einer solchen regelmäßigen kieferorthopädischen Überprüfung gerade nicht
unterzogen, sondern die Angelegenheit über einen Zeitraum von rund fünf Jahren
„schleifen" lassen. Dass bei ihm während dieser Zeit andere gesundheitliche Probleme
auftraten, stellte kein wirkliches Hindernis dafür dar, sich von Zeit zu Zeit einer
kieferorthopädischen Kontrolluntersuchung zu unterziehen.
51
Die Bestimmung des § 4 Abs. 2 lit. a) BVO ist, auch soweit sie den Behandlungsbeginn
auf das 18. Lebensjahr begrenzt, mit höherrangigem Recht vereinbar.
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Sie verstößt zunächst nicht gegen die aus Art. 33 Abs. 5 GG folgende beamtenrechtliche
Fürsorgepflicht des Dienstherrn. Dieser erfüllt seine Fürsorgepflicht gegenüber den
Beamten in Krankheitsfällen durch die Gewährung von Beihilfen, die den Beamten von
den durch die Besoldung nicht gedeckten notwendigen Aufwendungen in
angemessenem Umfang freistellen soll. Die Beihilfevorschriften konkretisieren die
beamtenrechtliche Fürsorgepflicht des Dienstherrn in diesen Fällen. Die danach
gewährte Beihilfe ist ihrem Wesen nach eine Hilfeleistung, die zu der zumutbaren
Eigenvorsorge des Beamten in angemessenem Umfang hinzutritt, um ihm seine
wirtschaftliche Lage in einer der Fürsorgepflicht entsprechenden Weise durch
Zuschüsse aus öffentlichen Mitteln zu erleichtern. Dabei ergänzt die Beihilfe nach der
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ihr zugrundeliegenden Konzeption lediglich die Alimentation des Beamten. Von
Verfassungs wegen erfordert die Fürsorgepflicht nicht den Ausgleich jeglicher aus
Anlass von Krankheits-, Geburts- und Todesfällen entstandenen Aufwendungen und
auch nicht deren Erstattung in jeweils vollem Umfang. Die Beihilfe muss allerdings
sicherstellen, dass der Beamte in den genannten Fällen nicht mit erheblichen
Aufwendungen belastet bleibt, die für ihn unabwendbar sind und denen er sich nicht
entziehen kann.
Vgl. Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Beschluss vom 16. September 1992 - 2 BvR
1161/89 u.a. -, NVwZ 1993, 560, mit weiteren Nachweisen.
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Anhaltspunkte dafür, dass die Nichtanerkennung der Beihilfefähigkeit der weiteren
kieferorthopädischen Behandlung ihres Sohnes für die Klägerin eine unzumutbare
Belastung bedeutet, sind von dieser nicht geltend gemacht worden und haben sich für
das Gericht auch ansonsten nicht ergeben. Zwar sind die mit rund 5.000 Euro
veranschlagten Kosten durchaus beträchtlich. Angesichts der zu erwartenden
Leistungen der privaten Krankenversicherung sowie des Umstandes, dass die Klägerin
Bezüge nach der Besoldungsgruppe A 14 BBesO - möglicherweise zuzüglich
Familienzuschlag und Kindergeld - erhält, ist aber nicht ersichtlich, dass ohne
Beihilfeleistungen eine von der Klägerin nicht mehr zu verkraftende unzumutbare
wirtschaftliche Situation eintritt, deren Nichtberücksichtigung als Verletzung der
Fürsorgepflicht in ihrem Wesenskern in Betracht kommen könnte.
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Die bei der kieferorthopädischen Behandlung eingeführte Altersgrenze verstößt auch
nicht gegen den Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG. Der Verordnungsgeber
überschreitet die Grenzen der ihm zustehenden weitgehenden Gestaltungsfreiheit mit
der Folge der Verletzung des Gleichbehandlungsgrundsatzes nur dann, wenn die
ungleiche Behandlung der geregelten Sachverhalte mit Gesetzlichkeiten, die in der
Natur der Sache selbst liegen, und mit einer am Gerechtigkeitsgedanken orientierten
Betrachtungsweise nicht mehr vereinbar ist, mit anderen Worten, wenn ein vernünftiger,
einleuchtender Grund für die getroffene Differenzierung fehlt. Das ist etwa der Fall bei
Regelungen, die unter keinem sachlich vertretbaren Gesichtspunkt gerechtfertigt
erscheinen, so dass die Unsachlichkeit der getroffenen Regelungen evident ist.
56
BVerfG, Beschluss vom 15. Oktober 1985 - 2 BvL 4/83 -, BVerfGE 71, 39 (58);
Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 29. August 1996 - 2 C 2.95 -, BVerwGE 102, 24.
57
Das ist hier nicht der Fall. Vielmehr ist bei der im Beihilfenrecht erlaubten
pauschalierenden und typisierenden Betrachtung ein sachlicher Grund für die
unterschiedliche Behandlung der Minderjährigen und der Erwachsenen gegeben. Der
Verordnungsgeber durfte davon ausgehen, dass aus medizinischen Gründen mit der
Behandlung vor Abschluss des Körperwachstums begonnen werden soll, weil zu
diesem Zeitpunkt der Kiefer noch besser formbar ist. Ein Grund für den grundsätzlichen
Ausschluss der Übernahme der Kosten einer kieferorthopädischen Behandlung
Erwachsener bildet auch die Erwägung, dass eine solche Behandlung bei
Erwachsenen häufig nur aus ästhetischen Gründen oder wegen mangelnder
zahnmedizinischer Vorsorge in früheren Jahren erfolgt.
58
Vgl. Bayerischer Verwaltungsgerichtshof, Beschluss vom 5. Oktober 2006 - 14 B
04.2997 -, juris; VG Bayreuth, Urteil vom 18. Juli 2003, a.a.O.; VG Oldenburg, Urteil vom
6. Juni 2003 - 6 A 1705/01 -, juris, und VG Sigmaringen, Urteil vom 6. September 2001 -
59
6 K 735/00 -, juris, jeweils zu der inhaltsgleichen Bestimmung des § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr.
1 i.V.m. Anlage 2 der Beihilfevorschriften des Bundes; vgl. auch BSG, Urteil vom 9.
Dezember 1997, a.a.O., zu der entsprechenden Beschränkung des
Versicherungsschutzes in der gesetzlichen Krankenversicherung.
Die Klage ist daher mit der Kostenfolge aus § 154 Abs. 1 VwGO abzuweisen.
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Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§
708 Nr. 11, 711 ZPO.
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Das Gericht lässt die Berufung nicht gemäß § 124 a Abs. 1 Satz 1 VwGO zu, weil es die
Voraussetzungen des § 124 Abs. 2 Nr. 3 und 4 VwGO nicht für gegeben erachtet.
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