Urteil des VG Düsseldorf vom 28.11.2003

VG Düsseldorf: politische verfolgung, bundesamt, anerkennung, ärztliche behandlung, folter, gefahr, ausreise, flucht, anhörung, irak

Verwaltungsgericht Düsseldorf, 26 K 8269/02.A
Datum:
28.11.2003
Gericht:
Verwaltungsgericht Düsseldorf
Spruchkörper:
26. Kammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
26 K 8269/02.A
Tenor:
Die Beklagte wird unter Aufhebung ihres Bescheides vom 19. November
2002 zu Ziffer 2. und zu Ziffer 4., soweit dem Kläger die Abschiebung in
die Türkei angedroht ist, verpflichtet, festzustellen, dass in der Person
des Klägers die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 des
Ausländergesetzes hinsichtlich des Herkunftslandes Türkei vorliegen.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Der Kläger und die Beklagte tragen die Kosten des Verfahrens, für das
Gerichtskosten nicht erhoben werden, je zur Hälfte.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Dem jeweiligen
Vollstreckungsschuldner wird gestattet, die Vollstreckung durch
Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des jeweils
beizutreibenden Betrages abzuwenden, wenn nicht der jeweilige
Vollstreckungsgläubiger vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher
Höhe leistet.
Tatbestand:
1
Der am 00.0.1979 in Mus (Provinz Mus) geborene Kläger ist türkischer
Staatsangehöriger kurdischer Volkszugehörigkeit. Er reiste nach eigenen Angaben am
10. Dezember 1990 gemeinsam mit seinem 1975 geborenen Bruder D1 auf dem
Luftweg von Istanbul/Türkei mit eigenem Pass legal aus und erreichte am selben Tag
den Flughafen Köln/Bonn in der Bundesrepublik Deutschland.
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Unter dem 27. September 1991 beantragte er hier die Anerkennung als Asylberechtigter
und trug bei seiner Anhörung vor dem Bundesamt für die Anerkennung ausländischer
Flüchtlinge (Bundesamt) zur Begründung vor: Seine Familie habe im Dorf Yagcilar Köyü
gelebt. Er und sein Bruder seien zu ihrem erwachsenen Bruder D2 nach Deutschland
gefahren, weil sein Vater in der Türkei von den türkischen Sicherheitskräften mit dem
Vorwurf, die PKK zu unterstützen, festgenommen worden sei und seine Mutter und die
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übrigen Geschwister geflohen seien. Er sei mit seinem Bruder allein zurückgeblieben.
Den Aufenthalt seiner Eltern und Geschwister kenne er nicht.
Mit Bescheid vom 12. Mai 1993 lehnte das Bundesamt den Antrag auf Anerkennung als
Asylberechtigter ab, stellte fest, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG und
Abschiebungshindernisse nach § 53 AuslG nicht vorliegen, forderte den Kläger zur
Ausreise auf und drohte ihm die Abschiebung in die Türkei an.
4
Seine vor dem VG Köln am 9. Juni 1993 zum Aktenzeichen 13 (15) K 1457/93.A gegen
das Bundesamt erhobene Klage wurde durch Urteil vom 9. September 1996
abgewiesen.
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Der Kläger hatte am 20. Januar 1995 Deutschland verlassen. Nach seinen Angaben
flog er mit falschen Papieren von Frankfurt am Main in den Iran und ging von dort am 25.
Januar 1995 in die Berge.
6
Bei einer grenzpolizeilichen Einreisekontrolle des Fluges IRM 0000 der Mahan Air
(Teheran-Düsseldorf) wurde der Kläger am 16. November 2002 festgestellt. Er legte
einen verfälschten türkischen Reisepass auf den Namen T vor. Zu seinem Reiseweg
gab er an, von der Türkei zu Fuß über die Grenze in den Iran gegangen zu sein und sich
dort 55 Tage aufgehalten zu haben. Er sei auf der Flucht. Er sei Mitglied der PKK und
werde deshalb von den türkischen staatlichen Stellen verfolgt. Er sei durch
Schusswaffen und Handgranaten verletzt und wolle sich behandeln lassen. Er stellte
einen Asylfolgeantrag.
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Bei seiner Anhörung im Transitbereich des Düsseldorfer Flughafens am 18. November
2002 vor dem Bundesamt führte er zur Begründung aus: Er lebe seit 10 Jahren in den
Bergen, weil er gegen den türkischen Staat arbeite. Er habe nach dem Verlassen
Deutschlands als Kämpfer und Befehlsempfänger der PKK nur in den Bergen gelebt.
Seine Eltern und drei Schwestern würden im Heimatdorf Yagcilar Köyü leben. Er sei mit
den Zielen der PKK und den Entscheidungen, die Öcalan aus dem Gefängnis getroffen
habe, nicht einverstanden gewesen. Auf dem 7. Kongress der PKK im Jahre 1999 habe
er und seine oppositionellen Freunde sich gegen die politische Zielsetzung der Partei
ausgesprochen. Sie seien von den Parteimitgliedern verhaftet worden, weil sie ihre
Unzufriedenheit gezeigt hätten. Er habe deshalb zwei Monate vom 7. Oktober bis zum 7.
Dezember 2000 im Gefängnis der Partei gesessen. Man habe ihm notwendige ärztliche
Behandlung verweigert und ihn ständig unter Aufsicht gestellt. Er habe gesagt, dass er
es nicht länger bei ihnen aushalte. Er habe eine Fluchtmöglichkeit gefunden und sei mit
einem Freund aus dem Lager in den Iran geflohen, indem sie über ein Minenfeld
gegangen seien. In der Türkei könne er nicht untertauchen, da ihn auch dort die
Todesstrafe oder zumindest lebenslange Folter erwarten würde. Denn es sei bekannt
bei den türkischen Sicherheitskräften, dass er an Operationen gegen den Staat
teilgenommen habe. Denn im Jahre 1998 seien alle Unterlagen des Lagers - auch die
Personalien der Kämpfer und deren Decknamen - bei einer Operation in die Hände der
türkischen Sicherheitskräfte gelangt. Seine Waffe, eine Kalaschnikow, habe er nur zu
Selbstverteidigungszwecken eingesetzt.
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Mit Bescheid vom 19. November 2002 lehnte das Bundesamt den Folgeantrag auf
Anerkennung als Asylberechtigter als offensichtlich unbegründet ab, stellte fest, dass
die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG offensichtlich nicht und
Abschiebungshindernisse nach § 53 AuslG nicht vorliegen, forderte den Kläger zur
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Ausreise auf und drohte ihm die Abschiebung in die Türkei an.
Mit Bescheid vom 19. November 2002 des Bundesgrenzschutzamtes Köln -
Bundesgrenzschutzinspektion Flughafen Düsseldorf - wurde dem Kläger die Einreise in
die Bundesrepublik Deutschland verweigert. Sein Antrag auf einstweiligen
Rechtsschutz im Verfahren 9 L 4570/02.A wurde durch Beschluss vom 25. November
2002 abgelehnt. Auf seinen Abänderungsantrag wurde die Antragsgegnerin durch
Beschluss vom 26. November 2002 im Verfahren 9 L 4602/02.A verpflichtet, dem Kläger
die Einreise zu gestatten.
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Gegen den ihm am 21. November 2002 zugestellten Bescheid des Bundesamtes hat
der Kläger am 25. November 2002 Klage erhoben. Mit einem am 18. Oktober 2003 bei
Gericht eingegangenen Schriftsatz trägt er zur weiteren Begründung der Klage vor: Er
werde nach wie vor in der Türkei von den Sicherheitskräften wegen seiner politischen
Aktivitäten gesucht. Dies könne von zwei Zeugen bestätigt werden. Seine deutlichen
Verletzungen würden bei einer Untersuchung festgestellt werden.
11
Der Kläger beantragt,
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die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides des Bundesamtes für die Anerkennung
ausländischer Flüchtlinge vom 19. November 2002 zu verpflichten, ihn als
Asylberechtigten anzuerkennen und festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 51
Abs. 1 AuslG vorliegen, hilfsweise, die Beklagte zu verpflichten, festzustellen, dass die
Voraussetzungen des § 53 AuslG vorliegen.
13
Die Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen.
15
Mit Beschluss vom 10. Juni 2003 hat das Verwaltungsgericht den Rechtsstreit der
Berichterstatterin als Einzelrichterin zur Entscheidung übertragen.
16
Der Bruder des Klägers, D2, geb. am 0.0. 1964, wurde durch Bescheid des
Bundesamtes vom 19. November 1998 als Asylberechtigter anerkannt und es wurde
festgestellt, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG vorliegen, nachdem das
Bundesamt im Verwaltungsstreitverfahren durch Urteil des OVG Rheinland-Pfalz vom
18. September 1998 - 10 A 10214/98. OVG - rechtskräftig dazu verpflichtet worden war.
In seiner Berufungsbegründung vom 28. Februar 1998 gab der Bruder des Klägers an,
dass zwei Brüder, D3 und D, bei der PKK Guerillas seien und zwar D3 seit 1991 und D
seit 1994. Beide Brüder hätten sich von Deutschland aus der PKK - Guerilla
angeschlossen. Diese Angabe wiederholte der Bruder in der mündlichen Verhandlung
vor dem Senat am 21. August 1998.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte
und die Gerichtsakten 26 K 5185/03.A, 9 L 4602/02.A sowie 9 L 4570/92.A, die
Gerichtsakte des VG Koblenz - 3 K 5290/94. KO/10 A 10214/98. OVG - sowie die vom
Bundesamt vorgelegten Verwaltungsvorgänge und die von der Stadt E vorgelegten
Ausländerakten Bezug genommen.
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Entscheidungsgründe:
19
Die Einzelrichterin ist für die Entscheidung zuständig, nachdem der Rechtsstreit durch
Beschluss der Kammer vom 10. Juni 2003 gemäß § 76 Abs. 1 des
Asylverfahrensgesetzes (AsylVfG) der Berichterstatterin als Einzelrichterin zur
Entscheidung übertragen worden ist.
20
Die Klage hat nur teilweise Erfolg.
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Der angefochtene Bescheid ist insoweit rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in
seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 und Abs. 5 Verwaltungsgerichtsordnung [VwGO]), als der
Antrag des Klägers auf Anerkennung als Asylberechtigter abgelehnt worden ist.
22
Der Kläger hat nach der gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 Asylverfahrensgesetz (AsylVfG)
maßgeblichen Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung keinen
Anspruch auf die Anerkennung als Asylberechtigter.
23
Gemäß Art. 16 a Abs. 1 Grundgesetz (GG) genießen politisch Verfolgte Asylrecht.
Politische Verfolgung in diesem Sinne ist anzunehmen, wenn dem Einzelnen durch den
Staat in Anknüpfung an asylerhebliche Merkmale, d.h. an seine politische Überzeugung,
seine religiöse Grundentscheidung oder an andere Merkmale, die für ihn unverfügbar
sind und die sein Anderssein prägen, gezielt Rechtsverletzungen zugefügt werden, die
ihn ihrer Intensität nach aus der übergreifenden Friedensordnung der staatlichen Einheit
ausgrenzen. Asylerhebliche Intensität hat die Rechtsverletzung, wenn sie sich -
gemessen an der humanitären Intention des Grundrechts - als ausgrenzende Verfolgung
darstellt, die den Asylbewerber in eine nicht anders als durch Ausreise zu bewältigende
("ausweglose") Lage versetzt.
24
Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 10. Juli 1989 - 2 BvR 502/86 u.a. -, BVerfGE
80, 315 (334 f.); Beschluss vom 23. Januar 1991 - 2 BvR 902/85 -, BVerfGE 83, 216
(230); Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 20. November 1990 - 9 C 74.90 -, InfAuslR
1991, 145 (146).
25
Vor seiner Ausreise aus der Türkei im November 2002 war der Kläger nicht von
individueller politischer Verfolgung betroffen, wenn ihm auch - wäre er in die Hände des
türkischen Sicherheitsdienstes gefallen - politische Verfolgung gedroht hätte. Der Kläger
hat keine vom türkischen Staat ausgehende, gezielt auf seine Person gerichtete
Verfolgungsmaßnahme vorgetragen. Als Kämpfer der PKK-Guerilla war er als Mitglied
der Gruppe in Auseinandersetzungen mit dem türkischen Militär betroffen, das zur
Gefahrenabwehr und Terrorismusbekämpfung handelte. Einer Anerkennung des
Klägers als Asylberechtigten steht im Übrigen § 28 AsylVfG entgegen. Der Kläger hat
seinen Entschluss, sich den Kämpfern der PKK in den Bergen im Dreieck
Türkei/Iran/Irak als Guerillakämpfer anzuschliessen, in Deutschland gefasst und zwar in
den Jahren 1991 bis Ende 1994, und hat damit die Gefahr politischer Verfolgung aus
eigenem Entschluss geschaffen. Eine erkennbar betätigte Überzeugung seiner
politischen Ideen in seinem Heimatland Türkei vor 1991 ist beim Kläger bereits wegen
seines damaligen jugendlichen Alters nicht feststellbar.
26
Der Kläger hat indes Anspruch auf die Feststellung der Voraussetzungen des § 51 Abs.
1 AuslG hinsichtlich des Herkunftslandes Türkei.
27
Nach § 51 Abs. 1 AuslG darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in
dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit,
28
seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner
politischen Überzeugung bedroht ist. Das Verbot des § 51 Abs. 1 AuslG schützt damit -
ebenso wie Art. 16 a (GG) - den Personenkreis der politisch Verfolgten.
Dementsprechend ist die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG)
und der Verwaltungsgerichtsbarkeit, die den unbestimmten Rechtsbegriff des politisch
Verfolgten im Sinne des Art. 16 a Abs. 1 GG (Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG a.F.) ausgefüllt
hat, auch für die Anwendung des § 51 Abs. 1 AuslG heranzuziehen. Dessen
Voraussetzungen sind mit den Voraussetzungen für eine Anerkennung als
Asylberechtigter nach Art. 16 a GG insoweit deckungsgleich, als es um die
Verfolgungshandlung, das geschützte Rechtsgut und den politischen Charakter der
Verfolgung geht.
Bundesverwaltungsgericht (BVerwG), Urteil vom 26. Oktober 1993 - 9 C 50.92 -, NVwZ
1994 S. 500 (503); Thüringer Oberverwaltungsgericht, Urteil vom 5. Dezember 1996 - 3
KO 847/96 -; Oberverwaltungsgericht Rheinland-Pfalz, Urteil vom 19. Dezember 1996 -
1 A 12657/96. OVG -.
29
Auch gilt für die Feststellung der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG derselbe
Prognosemaßstab wie hinsichtlich des Art. 16 a Abs. 1 GG.
30
BVerwG, Urteile vom 3. November 1992 - 9 C 21.92 -, BVerwGE 91 S. 150 (154), vom
26. Oktober 1993 - 9 C 50.92 -, a.a.O. und vom 5. Juli 1994 - 9 C 1.94 -, InfAuslR 1995 S.
24 (26); Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen (OVG NRW), Urteil
vom 26. August 1996 - 23 A 296/95.A -.
31
Nach diesen Maßstäben sind im Falle des Klägers die Voraussetzungen des § 51 Abs.
1 AuslG gegeben. Der Kläger hat infolge seiner politischen Betätigung für die PKK in
den Bergen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit in der Türkei politische Verfolgung zu
befürchten. Dabei geht das Gericht nach dem Vorbringen des Klägers im Rahmen
seiner Anhörung durch die Beklagte und im Termin zur mündlichen Verhandlung vom
28. November 2003 davon aus, dass sich der Kläger vom 25. Januar 1995 bis zu seiner
Flucht nach Deutschland in den Bergen im Dreieck Türkei/Iran/Irak als Kämpfer der PKK
aufgehalten hat, dass seine terroristische Betätigung in der PKK den Sicherheitskräften
bekannt geworden ist und der Kläger beim Betreten der Türkei festgenommen und unter
massiver Folter vernommen, beleidigt und bedroht würde. Es besteht die begründete
Gefahr einer Festnahme mit Folter und menschenunwürdiger Behandlung, der sich der
Kläger durch seine Flucht in die Bundesrepublik Deutschland entziehen konnte.
32
Die Überzeugung des Gerichts von der Wahrheit der diesbezüglichen Schilderung des
Klägers insbesondere durch seine detailreiche Aussage in der mündlichen Verhandlung
vom 28. November 2003 gründet sich sowohl auf die Genauigkeit seiner Angaben als
auch auf den persönlichen Eindruck, den das Gericht von dem Kläger gewonnen hat.
Ungenauigkeiten, Unklarheiten oder Widersprüche - mögen sie in seinem bisherigen
Vorbringen vor dem Bundesamt noch vorhanden gewesen sein - sind in der mündlichen
Verhandlung aufgeklärt worden. Bei seiner Befragung hat er den Eindruck vermittelt, die
Begebenheiten so zu schildern, wie sie sich tatsächlich abgespielt haben. Er hat nicht
ansatzweise versucht, durch Übertreibungen seinen Angaben ein größeres Gewicht zu
verleihen oder die Fakten in einem ihm günstigen Lichte darzustellen.
33
Schließlich stützt sich die Überzeugung des Gerichts von der Glaubwürdigkeit des
Klägers darauf, dass er bei seiner Befragung durch das Gericht durchgehend darum
34
bemüht war, dem Gericht das Erlebte zu schildern, wobei diese Bemühungen nicht den
Eindruck erweckten, der Kläger hätte seine Tätigkeit als Kämpfer in den Bergen
erfunden. Insbesondere war der Kläger in der Lage, auf entsprechende Fragen hin das
Erlebte ohne weiteres Nachdenken in einer - gemessen an seinem Alter, Bildungsstand
und sozialen und kulturellen Hintergrund - auch lebensnahen Weise zu schildern.
Der Sachvortrag des Klägers wird darüberhinaus durch die Aussage seines Bruders D2
in dessen Asylverfahren vor dem OVG Rheinland-Pfalz - 10 A 10214/98. OVG - gestützt.
Dieser gab im Jahre 1998 an, dass seine Brüder D3 und D - der Kläger - bei der PKK
Guerillas seien. Bestätigt wird dies durch die zu den Akten gereichten Fotografie der
beiden Brüder als Kämpfer der PKK.
35
Ist danach von der Glaubhaftigkeit der Schilderung des Klägers zu seiner Tätigkeit für
die PKK und damit seinem Bemühen, separatistische Bestrebungen zu unterstützen,
auszugehen, ist festzustellen, dass der Kläger bei einer Rückkehr in die Türkei sich in
der begründeten Gefahr befindet, in das Blickfeld des Sicherheitsdienstes in der Türkei
zu geraten und massiver Bedrohung und Folter ausgesetzt zu werden. Der Kläger
entstammt einer prokurdischen Familie, die den türkischen Sicherheitskräften bereits
durch die Betätigung der anderen Brüder des Klägers bekannt ist, und der Name der
Klägers als Kämpfer der PKK ist dem Militär durch die Inbesitznahme der Unterlagen
des Lagers der PKK bekannt.
36
Damit ist festzustellen, dass der Kläger bei Rückkehr in die Türkei politische Verfolgung
zu befürchten hätte. Maßnahmen mit Gefahr für Leib oder Leben sowie Beschränkungen
der persönlichen Freiheit sind, soweit ihnen nicht nur Bagatellcharakter zukommt und
sie sich auf einmalige kurze Festnahmen beschränkt haben, die sich nach der
Festnahme des eigentlich Gesuchten nicht fortsetzen, als Verfolgung im Sinne des Art.
16 a GG und des § 51 Abs. 1 AuslG anzusehen.
37
Zu letzterem Bundesverwaltungsgericht, Beschluss vom 3. April 1995 - 9 B 758/994 -,
NVwZ-RR 1995, 607.
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Die dem Kläger drohenden Übergriffe der Sicherheitskräfte sind nicht als Maßnahmen
des türkischen Staates zur Terrorismusabwehr zu rechtfertigen. Zwar dient das
staatliche Vorgehen der Türkei auch der Abwehr des Terrorismus der PKK und des
diesen unterstützenden Umfeldes. Maßnahmen des Staates zur Abwehr des
Terrorismus sind keine politische Verfolgung, wenn sie dem aktiven Terroristen, dem
Teilnehmer an oder einem Unterstützer von terroristischen Aktivitäten gelten. Zum einen
hat sich der Kläger von den Zielen der PKK entfernt und glaubhaft erklärt, von nun an
von seiner „Abenteuerlust" geheilt zu sein, zum anderen hat der Kläger in der
Polizeihaft, in die er nach seinem Verhör bei Rückkehr in die Türkei gelangen wird, mit
Misshandlungen zu rechnen, die über das Maß dessen hinausgehen, was Personen zu
erwarten haben, die dort wegen krimineller Delikte inhaftiert sind. Es ist allgemein davon
auszugehen, dass Häftlinge in der Türkei, denen eine staatsfeindliche, insbesondere
linke und prokurdische Gesinnung zugeschrieben wird, im türkischen Polizeigewahrsam
häufiger und härter misshandelt werden als sonstige Straftäter,
39
vgl. hierzu Kaya, Gutachten vom 11. Juni 1997 an den Verwaltungsgerichtshof Baden-
Württemberg, A 12 S 2595/96, S. 2 ff.; Rumpf, Gutachten vom 22. Januar 1997 an das
Verwaltungsgericht Bremen, 7 AS 86/92, S. 20; Gutachten vom 27. Juli 1997 an das
Verwaltungsgericht Berlin, VG 36 X 252/95, S. 29; im Ergebnis auch Auswärtiges Amt,
40
Lagebericht vom 31. März 1998, S. 13 ff., und Lagebericht vom 7. September 1999, S.
22; OVG NRW, Urteil vom 25. Januar 2000 - 8 A 1292/96.A -, S. 47 ff..
Den dazu vorliegenden Erkenntnisquellen ist zu entnehmen, dass Übergriffe im
Polizeigewahrsam sich vor allem gegen das linke und kurdenfreundliche Spektrum
richten und dass der physische und psychische Druck diejenigen am härtesten trifft, die
der Zusammenarbeit mit der militanten kurdischen Bewegung verdächtigt werden.
Derartige Misshandlungen im türkischen Polizeigewahrsam reichen von Schlägen und
Tritten bis hin zu Elektroschocks und sexuellen Misshandlungen.
41
Vgl. OVG NRW, Urteil vom 25. Januar 2000 - 8 A 1292/96.A -.
42
Zudem ergibt sich aus den vorliegenden Erkenntnissen allgemein, dass die
Bemühungen des türkischen Staates, Übergriffen im Polizeigewahrsam wirksam
entgegenzutreten, jedenfalls derzeit noch unzureichend sind.
43
So Kaya, Gutachten vom 11. Juni 1997 an den Verwaltungsgerichtshof Baden-
Württemberg, A 12 S 2595/96, S. 5 ff.; im Ergebnis ebenso das Auswärtige Amt,
Lagebericht vom 31. März 1998, S. 14, und Lagebericht vom 7. September 1999, S. 21
ff.
44
Anhaltspunkte dafür, dass der Kläger bei einer Rückkehr in die Türkei und der zu
erwartenden Befragung nach seinen Aktivitäten als Kämpfer der PKK in den Bergen im
Dreieck Türkei/Iran/Irak " entgegen dieser weit verbreiteten Praxis derartigen Übergriffen
im Polizeigewahrsam nicht ausgesetzt wäre, sind nicht ersichtlich. Dementsprechend
erscheint es jedenfalls beachtlich wahrscheinlich, dass der Kläger bei einer Rückkehr in
die Türkei nicht nur unerheblichen körperlichen Übergriffen und damit einer politischen
Verfolgung im Sinne des § 51 Abs. 1 AuslG ausgesetzt wäre.
45
Dem Anspruch des Klägers auf Feststellung der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1
AuslG steht der Terrorismusvorbehalt des § 51 Abs. 3 AuslG trotz der Aktivitäten des
Klägers für die PKK nicht entgegen, denn es ist für das Gericht auf der Grundlage der
derzeit vorliegenden Erkenntnisse nicht feststellbar, dass sein Verhalten im
Bundesgebiet terroristisch geprägt ist.
46
Vgl. dazu BVerfG, Beschluss vom 13. Oktober 1994 - 2 BvR 126/94 -, DVBl. 1995 S. 34
(35).
47
Der Kläger hat glaubhaft versichert, sich von den Aktivitäten der PKK losgesagt zu
haben und in Deutschland nunmehr ein von ihm so bezeichnetes „Zivilistenleben"
führen zu wollen. Dem Kläger werden in Deutschland auch keine Gewalttaten zur Last
gelegt, es ist nicht einmal geltend gemacht worden, dass er an Gewaltdemonstrationen
wie Kurdendemos und Sitzblockaden teilgenommen habe. Anhaltspunkte für
entsprechende Aktivitäten des Klägers ergeben sich aus den Verwaltungsvorgängen
nicht. Der Kläger hat nunmehr ausdrücklich Gewalt als Mittel der Durchsetzung der
Ideologien abgelehnt.
48
Hat der Kläger nach alledem einen Anspruch darauf, dass das Vorliegen der
Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG festgestellt wird, erweist sich die
entsprechende Ablehnungsentscheidung als rechtswidrig.
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Eine Verpflichtung der Beklagten, das Vorliegen der Voraussetzungen des § 53 AuslG
festzustellen, kommt nicht in Betracht, da der Kläger seinen diesbezüglichen Antrag nur
hilfsweise gestellt hat. Im Übrigen wäre eine entsprechende Verpflichtung der Beklagten
nach der Feststellung, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG vorliegen,
auch durch § 31 Abs. 3 Nr. 2 AsylVfG ausgeschlossen, da nach dieser Vorschrift von
einer Feststellung zu § 53 AuslG abgesehen werden kann, wenn das Vorliegen der
Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG festgestellt worden ist.
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Aus den genannten Gründen erweisen sich auch die Abschiebungsandrohung und die
gesetzte Ausreisefrist in Bescheid vom 19. November 2002 als rechtswidrig, sodass der
Klage auch insoweit stattzugeben war.
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Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO, die Entscheidung über ihre
vorläufige Vollstreckbarkeit auf § 167 VwGO, § 708 Nr. 11, § 711 Zivilprozessordnung
(ZPO).
52
Das Verfahren ist nach § 83 b Abs. 1 AsylVfG gerichtskostenfrei; wegen des
Gegenstandswertes wird auf § 83 b Abs. 2 AsylVfG hingewiesen.
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