Urteil des VG Düsseldorf vom 05.09.2007

VG Düsseldorf: anerkennung, asylbewerber, folter, organisation, widerruf, vollstreckung, bundesamt, verdacht, gefahr, misshandlung

Verwaltungsgericht Düsseldorf, 17 K 3754/07.A
Datum:
05.09.2007
Gericht:
Verwaltungsgericht Düsseldorf
Spruchkörper:
17. Kammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
17 K 3754/07.A
Tenor:
Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 9.
August 2007 wird aufgehoben.
Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf
die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des
beizutreibenden Betrages abwenden, wenn nicht die Klägerin vor der
Vollstreckung Sicherheit in derselben Höhe leistet.
Tatbestand:
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Der 1968 in H geborene Kläger ist türkischer Staatsangehöriger kurdischer
Volkszugehörigkeit. Mit Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom
4. Juni 1997 wurde für ihn aufgrund des Urteils des VG Gelsenkirchen ein
Abschiebungsverbot nach § 51 Abs. 1 AuslG festgestellt. Die Entscheidung beruhte im
Wesentlichen auf der Feststellung, der Kläger sei wegen seiner Weigerung Dorfschützer
zu werden in den Verdacht geraten, die PKK zu unterstützen.
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Mit Bescheid vom 9. August 2007 widerrief das Bundesamt die Feststellung des
Vorliegens der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG und stellte fest, dass die
Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG nicht vorliegen. Zur Begründung führte das
Bundesamt aus, die erforderliche Prognose drohender politischer Verfolgung lasse sich
nicht mehr treffen, weil sich die Rechtslage und Menschenrechtssituation in der Türkei
seit der Ausreise des Klägers deutlich zum Positiven verändert habe.
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Am 21. August 2007 hat der Kläger Klage erhoben.
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Er beantragt,
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den Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 9. August 2007
aufzuheben,
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hilfsweise,
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festzustellen, dass Abschiebungshindernisse nach § 60 Abs. 2 - 7 AufenthG in der
Person des Klägers in der Türkei vorliegen.
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Die Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der
Gerichtsakten und der beigezogenen Asyl- und Ausländerakten verwiesen.
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Entscheidungsgründe:
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Die Klage, über die mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung
entschieden werden kann (§ 101 Abs. 2 VwGO), ist begründet.
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Der Bescheid des Bundesamtes ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen
Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Die Voraussetzungen für einen Widerruf der
Flüchtlingseigenschaft des Klägers liegen im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung
ohne mündliche Verhandlung nicht vor.
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Rechtsgrundlage für den Widerruf ist § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG. Danach sind die
Anerkennung als Asylberechtigter und die Feststellung, dass die Voraussetzungen des
§ 60 Abs. 1 AufenthG (früher: § 51 Abs. 1 AuslG) vorliegen, unverzüglich zu widerrufen,
wenn die Voraussetzungen für sie nicht mehr vorliegen. Das ist insbesondere dann der
Fall, wenn sich die zum Zeitpunkt der Anerkennung maßgeblichen politischen
Verhältnisse nachträglich erheblich und nicht nur vorübergehend so verändert haben,
dass bei einer Rückkehr des Ausländers in seinen Herkunftsstaat eine Wiederholung
der für die Flucht maßgeblichen Verfolgungsmaßnahmen auf absehbare Zeit mit
hinreichender Sicherheit ausgeschlossen ist und nicht aus anderen Gründen erneut
Verfolgung droht,
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vgl. BVerwG, Urteil vom 1. November 2005 - 1 C 21.04 -, BVerwGE 124, 276 - 292.
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Dieser Widerrufsgrund ist im vorliegenden Fall nicht gegeben. Die maßgeblichen
Verhältnisse in der Türkei haben sich trotz zahlreicher positiver Ansätze insbesondere
im legislativen Bereich noch nicht so erheblich verbessert, dass die erforderliche
hinreichende Verfolgungssicherheit für vorverfolgt ausgereiste türkische
Staatsangehörige nunmehr festgestellt werden kann.
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Das Gericht folgt der Einschätzung des Oberverwaltungsgerichts für das Land
Nordrhein-Westfalen, wonach unter Berücksichtigung der aktuellen Entwicklung auch
gegenwärtig verfolgt ausgereiste Kurden vor erneuter Verfolgung nicht hinreichend
sicher sind. Kurden wurden in der Vergangenheit und werden nach wie vor in der Türkei
häufig Opfer von Verfolgungsmaßnahmen asylerheblicher Intensität, die trotz der
umfassenden Reformbemühungen, insbesondere der „Null-Toleranz-Politik" gegenüber
Folter, weiterhin dem türkischen Staat zuzurechnen sind,
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vgl. OVG NRW, Urteil vom 19. April 2005 - 8 A 273/04.A - S. 21 ff..
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Zwar ist die Zahl der den Menschenrechtsorganisationen IHD und TIV gemeldeten Fälle
von Folter und sonstiger Misshandlung merklich zurückgegangen und wird die Gefahr,
im Justizvollzug Opfer von Misshandlungen durch Sicherheitskräfte zu werden, als
unwahrscheinlich eingeschätzt. Misshandlungen außerhalb regulärer Haft finden aber
nach wie vor statt. Seit dem Wiederaufflammen der bewaffneten Auseinandersetzungen
in Südostanatolien und den der PKK zugerechneten Attentaten in Touristenzentren im
Jahr 2006 ist sogar wieder ein Anstieg der Menschenrechtsverletzungen zu
verzeichnen,
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vgl. OVG NRW, Urteil vom 27. März 2007 - 8 A 4728/05.A -, S. 21 ff..
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Die der oben genannten Rechtsprechung zugrunde liegende Einschätzung der
Gefährdungssituation wird nicht dadurch in Frage gestellt, dass dem Auswärtigen Amt
seit vier Jahren kein Fall bekannt geworden ist, in dem ein aus der Bundesrepublik in
die Türkei zurückgekehrter Asylbewerber im Zusammenhang mit früheren Aktivitäten
gefoltert oder misshandelt wurde.
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Vgl. Bericht des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in
der Türkei vom 11. Januar 2007, S. 47
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Das trägt zwar maßgeblich zu der Einschätzung bei, dass unverfolgt ausgereiste
Asylbewerber bei einer Rückkehr in die Türkei nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit
Übergriffe befürchten müssen. Für die Einschätzung der möglichen Gefährdung von
vorverfolgt ausgereisten Personen sind die genannten Feststellungen des Auswärtigen
Amtes indessen wenig aussagekräftig. Unter den abgeschobenen oder zurückgekehrten
Personen war kein Mitglied oder Kader der PKK oder einer anderen illegalen,
bewaffneten Organisation und auch keine Person, die der Zugehörigkeit einer solchen
Organisation verdächtigt wurde,
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vgl. OVG NRW, Urteil vom 27. März 2007, a.a.O., S. 24 unter Verweis auf Serafettin
Kaya, Gutachten an das VG Sigmaringen vom 8. August 2005.
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Der Kläger stand nach den Feststellungen des VG Gelsenkirchen wegen seiner
Weigerung Dorfschützer zu werden im Verdacht, die PKK zu unterstützen. Als eine
solche, wegen Separatismusverdachts individuell in das Blickfeld der türkischen
Behörden geratene Person ist er nach wie vor nicht hinreichend davor sicher, erneut
Opfer asylerheblicher Maßnahmen zu werden.
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Die in Ziffer 2 des Bescheides getroffene Feststellung, dass die Voraussetzungen des §
60 Abs. 1 AufenthG nicht vorliegen, ist danach ebenfalls rechtswidrig. Ziffer 3 des
Bescheides war ebenfalls aufzuheben, weil es der Feststellung von
Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 2 - 7 AufenthG nicht bedarf, nachdem es nach
Aufhebung des Widerrufsbescheides beim positiven Statusbescheid vom 4. Juni 1997
bleibt.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
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