Urteil des VG Düsseldorf vom 19.01.2010

VG Düsseldorf (zone, kläger, zeichen, anordnung, funktion, höchstgeschwindigkeit, amt, aufhebung, verwaltungsgericht, stelle)

Verwaltungsgericht Düsseldorf, 6 K 5600/08
Datum:
19.01.2010
Gericht:
Verwaltungsgericht Düsseldorf
Spruchkörper:
6. Kammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
6 K 5600/08
Tenor:
Die Einrichtung der Tempo 30-Zone ab der Ler Straße auf der Tallee,
L1straße und der U Straße bis zu de¬ren Ende in E wird aufgehoben
und der Beklagte verurteilt, die Verkehrszeichen 274.1 für diesen
Streckenabschnitt zu entfernen.
Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte darf die
Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung ab-wenden,
wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe
leistet.
Tatbestand:
1
Der Kläger wendet sich mit seiner Klage gegen die Einrichtung einer Tempo 30-Zone
auf der Tallee zwischen der Einmündung Ler Straße bis zum Ende der U Straße in E.
2
Am 27. April 2006 hatte die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen in der Bezirksvertretung 9
gebeten, auf dem Straßenzug Tallee südwestlich der Ler Straße/L1straße/U Straße
temporär die zulässige Höchstgeschwindigkeit probeweise für einen Zeitraum von
6 Monaten auf 30 km/h zu beschränken und anschließend einen Erfahrungsbericht
vorzulegen. Dieses Begehren hatte sie im wesentlichen damit begründet, dass der in
Rede stehende Straßenzug die Funktion einer Wohn-Sammelstraße erfülle. Diese
werde charakterisiert durch ungeordnetes Fahrbahnparken auf der Tallee und
Senkrechtparken auf der U Straße. Die Einrichtung von Tempo 30 diene u.a. der
Schulwegsicherung sowie der Verkehrssicherheit von Radfahrern.
3
Mit Schreiben vom 8. August 2006 nahm das Amt für Verkehrsmanagement dazu
Stellung und führte aus, dass mit Ausnahme der Straßen C, V Allee, L Straße und der im
Beschluss genannten Straßen sämtliche Straßen im Stadtteil Urdenbach als Tempo 30-
Zonen ausgewiesen seien. Die U Straße und der Abschnitt L1straße zwischen der U
Straße und der Tallee, der von einer Buslinie befahren werde, sowie die Tallee
zwischen L1straße/L Straße seien von der Funktion, der Verkehrsbedeutung, der
Frequenz und vom Ausbauzustand her deutlich von den einmündenden Nebenstraßen
abzuheben. Die Verwaltung sei daher der Auffassung, dass die innerörtliche
4
Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h beibehalten werden solle, zumal eine Unfalllage
aufgrund erhöhter Geschwindigkeit nicht vorliege.
Der Ordnungs und Verkehrsausschuss des Rates der Stadt E beschloss aufgrund der
Vorlage Nr. 66/158/2006 am 10. Januar 2007 eine probeweise
Geschwindigkeitsbeschränkung auf 30 km/h für einen Zeitraum von 6 Monaten auf der
Tallee zwischen L2- und L1straße, der L1straße zwischen Tallee und U Straße sowie in
der U Straße.
5
Zur Umsetzung des Beschlusses wurden entsprechende Verkehrszeichen mit der
zulässigen Höchstgeschwindigkeit 30 km/h (Zeichen 274 der Anlage 2 zu § 41 Abs. 1
Straßenverkehrs-Ordnung ) angebracht.
6
Mit Schreiben vom 25. Juni 2006 und 10. Mai 2007 wandte sich der Kläger für die "B"
gegen die Einführung des Tempolimits von 30 km/h auf der genannten Strecke. Dies
begründete er u.a. damit, dass die frühere Geschwindigkeitsregelung sich bewährt habe
und die Rheinbahnbusse nicht unnötig ausgebremst werden sollten. Zudem dürfe die
Tallee in ihrer wichtigen Funktion als Zubringer zur Ner Straße nicht unnötig
verlangsamt werden. Der Kläger forderte auch im Namen der "Initiative für V1" die
umgehende Aufhebung der Tempo 30-Zone.
7
Am 1. Juni 2007 fragte die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei der Bezirksvertretung 9
an, wie hoch der reale Zeitverlust im Linienverkehr der Rheinbahn durch die Tempo 30-
Beschränkung auf dem oben genannten Straßenabschnitt sei. Dazu erklärte die
Rheinbahn AG mit Schreiben vom 13. Juni 2007, dass grundsätzlich das Befahren von
Streckenabschnitten mit Tempo 30 im Linienverkehr für problematisch gehalten werde,
da sich diese Einschränkung unmittelbar auf die Angebotsqualität und die
Wirtschaftlichkeit des Personal- und Wageneinsatzes auswirke. Die Fahrzeitverluste auf
den betroffenen Streckenabschnitten in ganzer Länge könnten bis zu 2 Minuten
betragen. Hierbei sei bereits berücksichtigt, dass im tageszeitlichen Mittel nicht jede
Haltestelle angefahren werde und so die Fahrzeitverluste entsprechend höher ausfielen.
Die Fahrzeitverluste wirkten sich ebenso auf Anschlüsse aus, die insbesondere in C1
an der S-Bahn und in I an der W Allee einzuhalten seien.
8
In einer weiteren Stellungnahme führte das Amt für Verkehrsmanagement vom
29. Juni 2007 aus, durch die Geschwindigkeitsreduzierung auf 30 km/h für die Buslinien
entstünden Fahrzeitverluste, die nicht mehr zu kompensieren seien. Es solle daher
wieder die innerörtliche Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h eingeführt werden, zumal
die Unfalllage aufgrund erhöhter Geschwindigkeiten ebenfalls unauffällig gewesen sei.
9
Vor diesem Hintergrund lautete der Beschlussentwurf Vorlagen Nr. 66 86/2007 der
Bezirksvertretung 9: "Der Ordnungs- und Verkehrsausschuss beschließt die Aufhebung
der Geschwindigkeitsbeschränkung auf 30 km/h in der Tallee (zwischen L2- und
L1straße), der L1straße (zwischen Tallee und U Straße) sowie in der U Straße."
10
Mit Schreiben vom 2. Oktober 2007 führte das Amt für Verkehrsmanagement aufgrund
weiterer Anfragen des Klägers aus, bei der seinerzeitigen Einführung von Tempo 30-
Zonen habe der zuständige Ordnungs- und Verkehrsausschuss mit Ausnahme der
Hauptverkehrsstraßen und der Straßen mit gehobener Verkehrsbedeutung eine
flächendeckende Einführung der Tempo 30-Zonen im Stadtgebiet E beschlossen. Die
fraglichen Straßenabschnitte der Tallee und der L1straße sowie die U Straße fielen
11
nach der Straßenklassifizierung jedoch nicht mehr unter diese Kategorie und seien als
Wohn-Sammelstraßen eingestuft, welche nach den Richtlinien für die Tätigkeit der
Bezirksvertretung der Landeshauptstadt E bezüglich Verkehrsberuhigungsmaßnahmen
– hierzu zähle die Einführung von Tempo 30 – in die alleinige Zuständigkeit der
jeweiligen Bezirksvertretung falle. Unfalluntersuchungen – eine Unfalllage aufgrund
erhöhter Geschwindigkeiten sei im fraglichen Bereich nicht zu verzeichnen –,
Verkehrszählungen und Lärmmessungen spielten dabei aufgrund der
Entscheidungsbefugnis der Bezirksvertretung keine Rolle.
Am 9. Januar 2008 lehnte der Ordnungs- und Verkehrsausschuss die Aufhebung der
Geschwindigkeitsregelung von 30 km/h ab. Am 24. April 2008 wurde die Beschilderung
des betroffenen Bereiches geändert und u.a. Verkehrszeichen zur Ausschilderung einer
Tempo 30-Zone aufgestellt (Zeichen 274.1).
12
Der Kläger hat am 8. August 2008 die vorliegende Klage erhoben. Zur Begründung führt
er an, er habe die Verkehrsregelung in der aktuellen Form am 14. Juli 2008 zum ersten
Mal wahrgenommen. Die Einrichtung der Tempo 30-Zone durch Verkehrszeichen 274.1
StVO verstoße gegen § 45 Abs. 1 c StVO und sei daher unzulässig. Nach § 45 Abs. 1 c
StVO müsse innerhalb von Tempo 30-Zonen grundsätzlich die Vorfahrtregelung rechts
vor links gelten. Die Kombination mit einer Vorfahrtstraße sei unzulässig. Bisher sei der
oben genannte Straßenzug komplett als Vorfahrtstraße betrieben worden. Diese
Regelung entspreche auch der verkehrlichen Bedeutung, der Verkehrsbelastung und
dem Ausbauzustand des Straßenzuges, der als Sammelstraße den Verkehr der
anliegenden Wohngebiete in Richtung Stadtautobahnen und Autobahn A 00 führe. Die
Einrichtung der Tempo 30Zone sei ausschließlich politisch motiviert und gehe wohl auf
die Initiative eines Mitglieds der Bezirksvertretung 9 der Stadt E zurück. Eine
Berücksichtigung des Bürgerwillens habe bei der Erörterung des Themas im Ordnungs-
und Verkehrsausschuss nicht stattgefunden.
13
Der Kläger beantragt,
14
die Einrichtung der Tempo 30-Zone ab der L Straße auf der Tallee, L1straße
und der U Straße bis zu deren Ende in E aufzuheben und den Beklagten zu
verurteilen, die Verkehrszeichen 274.1 für diesen Streckenabschnitt zu
entfernen.
15
Der Beklagte beantragt,
16
die Klage abzuweisen.
17
Zur Begründung verweist er darauf, dass die Verkehrsregelung den Kläger nicht in
seinen geschützten Rechten verletze. Die Tallee werde von einer Buslinie durchfahren.
Im Sinne einer einheitlichen, für den Kraftverkehr nachvollziehbaren Regelung sei es
daher unabdingbar sinnvoll und nicht anders praktikabel, die verbleibenden, von einer
Buslinie durchfahrenen Bereiche ebenfalls mit der Geschwindigkeitsbegrenzung von
30 km/h zu versehen. Dabei handele es sich um einen Bereich von 500 m, auf dem es
keinen Sinn mache, weiterhin 50 km/h zuzulassen, da dem Kraftverkehr damit nicht
gedient wäre. Das Aufstellen der Zeichen 301 stelle keinen Verstoß gegen § 45 1 c
StVO dar, da nur ausnahmsweise die allgemeine Rechts- vor Linksregelung
aufgehoben werde, nämlich auf diesem begrenzten Straßenabschnitt mit öffentlichem
18
Personennahverkehr. Dies diene dem besseren Verkehrsablauf mit Bussen.
Aufgrund der Verfügung des Gerichts vom 14. Juli 2009, in der um eine Erläuterung zu
der Einrichtung einer Tempo 30-Zone in dem betroffenen Bereich gebeten worden war,
hat der Beklagte mit Schreiben vom 27. Juli 2009 ergänzend dargelegt, dass nach
Erreichen der als endgültig anzusehenden Verkehrsregelung – mit dem Beschluss des
Ordnungs- und Verkehrsausschusses vom 9. Januar 2008 – aufgrund der vorhandenen
örtlichen Gegebenheiten der Straßenzug mit der Zone-30 Beschilderung versehen
worden sei, denn im Verlauf des Straßenzuges Tallee-L1straße-U Straße mündeten
sieben Nebenstraßen ein, die ein zusammenhängendes Wohngebiet südwestlich der L
Straße ohne Hauptverkehrsstraße bildeten und als Tempo-30 Zone ausgewiesen seien.
Mit Einbeziehung des Straßenzuges hätten an diesen Einmündungen die
entsprechenden Zonenanfangs- und Zonenendschilder entfallen können. Insgesamt
hätten dadurch 28 Verkehrsschilder eingespart werden können.
19
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der
Gerichtsakte und des beigezogenen Verwaltungsvorgangs Bezug genommen.
20
Entscheidungsgründe:
21
Die zulässige Klage ist begründet. Die Einrichtung einer Tempo 30-Zone ist
rechtswidrig und verletzt den Kläger als von der Verkehrsregelung Betroffene in seinen
Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO –.
22
Die Einrichtung der Tempo 30-Zone in dem in Streit stehenden Bereich ist schon
deshalb rechtswidrig, weil der Beklagte das ihm eingeräumte Ermessen zur Anordnung
einer Tempo 30-Zone nach § 45 Abs. 1 c StVO nicht betätigt hat. Hier liegt ein Fall des
völligen Ausfalls des Ermessens vor.
23
Trotz des auf eine gebundene Entscheidung hindeutenden Wortlautes der Vorschrift des
§ 45 Abs. 1 c StVO steht der Straßenverkehrsbehörde ein Ermessensspielraum zu, den
sie auch auszufüllen hat,
24
vgl. dazu ausführlich Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofes vom 14.
Februar 2006 11 ZB 04.3215 juris, Rn. 4 ff.; Hentschel, Kommentar zum
Straßenverkehrsrecht, 40. Auflage 2009, § 45 StVO, Rn. 37.
25
Hier ist lediglich durch Mail vom 22. April 2008 der Auftrag des Amtes für
Verkehrsmanagement an die ausführende Stelle ergangen, Verkehrsschilder, die die
Tempo 30-Zone ausweisen, aufzustellen und die vorherigen Schilder zu entfernen,
sowie Vorfahrtsschilder (Zeichen 301) aufzustellen.
26
Außer dieser Anweisung, Verkehrsschilder aufzustellen, hat eine Prüfung der örtlichen
Verhältnisse und der Erforderlichkeit der konkreten Maßnahme und ihrer
Verhältnismäßigkeit vor der Einrichtung einer solchen Tempo 30-Zone nicht
stattgefunden. Zwar waren Überlegungen zur Anordnung einer
Geschwindigkeitsbegrenzung auf 30 km/h in diesem Bereich vorausgegangen. Die
verkehrsrechtliche Anordnung einer Geschwindigkeitsbegrenzung auf 30 km/h nach §
45 Abs. 1 i.V.m. § 45 Abs. 9 StVO richtet sich jedoch nach anderen gesetzlichen
Maßstäben als die Einrichtung einer Tempo 30-Zone nach § 45 Abs. 1 c StVO. Da der
Beklagte hier die Voraussetzungen für die Einrichtung einer Tempo 30-Zone überhaupt
27
nicht geprüft hat, sondern lediglich Verkehrszeichen hat aufstellen lassen, liegt ein
völliger Ausfall des der Straßenverkehrsbehörde eingeräumten Ermessens vor, und die
Maßnahme ist schon aus diesem Grunde rechtswidrig. Damit konnten
Ermessenserwägungen auch im gerichtlichen Verfahren nach § 114 Satz 2 VwGO nicht
mehr nachgeschoben werden.
Vor diesem Hintergrund kommt es auch nicht mehr darauf an, ob hier die
tatbestandlichen Voraussetzungen für die Einrichtung einer Tempo 30-Zone überhaupt
vorliegen und ob Gründe der Sicherheit und Ordnung nach § 45 Abs. 1 StVO für die
Zonen-Anordnung sprechen; mit diesen Fragen hat sich die Straßenverkehrsbehörde
ersichtlich nicht befasst. Auch ist die Frage, ob die zahlreichen Vorfahrtschilder (Zeichen
301 Anlage 3 zu § 42 Abs. 2 StVO), die in dem betroffenen Straßenabschnitt aufgestellt
worden sind, dem Charakter der Tempo 30-Zone widersprechen, nicht mehr zu klären.
Nach § 45 Abs. 1 c Satz 4 StVO muss an Kreuzungen und Einmündungen innerhalb der
Zone grundsätzlich die Vorfahrtregel nach § 8 Abs. 1 Satz 1 StVO ("rechts vor links")
gelten. Ob im Hinblick auf den Linienbusverkehr der Rheinbahn ausnahmsweise nach
den Verwaltungsvorschriften zu § 45 Nummer XI. 3.b) (abgedruckt in Hentschel, zu § 45
StVO, s.o.) von der Regel "rechts vor links" abgewichen werden kann, ist hier ebenfalls
nicht abschließend zu entscheiden, da die Einrichtung der Tempo 30-Zone im Hinblick
auf die fehlende Ermessensausübung rechtswidrig ist. Es spricht jedoch einiges dafür,
dass die Tallee in dem betroffenen Bereich aufgrund ihrer ersichtlichen Funktion als
Sammelstraße für die angrenzenden Wohnbereiche, ihrer Ausbaubreite und der
Aufnahme des Buslinienverkehrs als typische Vorfahrtstraße einzuordnen ist und
deshalb die Voraussetzungen für die Einrichtung einer Tempo 30-Zone nicht erfüllt.
Nach dem Willen des Gesetzgebers sollte die Innerortshöchstgeschwindigkeit nach § 3
Abs. 3 Nr. 1 StVO bei 50 km/h belassen und die Möglichkeit eröffnet werden, abseits der
Hauptverkehrsstraßen Tempo 30-Zonen einzurichten,
28
vgl. BR- Drs. 599/00, Seite 12 ff.
29
Ist somit die angefochtene Verkehrsregelung aufzuheben, so ist der Beklagte zugleich
nach § 113 Abs. 1 Satz 2 VwGO antragsgemäß zu verurteilen, die maßgeblichen
Verkehrsschilder zu entfernen.
30
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung über die
vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V.m. § 708 Nr. 11, § 711
Zivilprozessordnung.
31