Urteil des VG Düsseldorf vom 04.02.2005

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Verwaltungsgericht Düsseldorf, 19 K 597/04
Datum:
04.02.2005
Gericht:
Verwaltungsgericht Düsseldorf
Spruchkörper:
19. Kammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
19 K 597/04
Tenor:
Der Beklagte wird unter Änderung seines Bescheides vom 23. Juli 2003
und des Widerspruchsbescheides 6. Januar 2004 verpflichtet, dem
Kläger für das Kind F1 jugendhilferechtliches Pflegegeld einschließlich
Erziehungsgeld nach den §§ 27, 33, 39 SGB VIII unter Anrechnung
bereits gewährter Sozialhilfeleistungen in der Zeit vom 12. Dezember
2000 bis 31. Januar 2003 zu bewilligen.
Die außergerichtlichen Kosten des Verfahrens, für das Gerichtskosten
nicht erhoben werden, werden dem Beklagten auferlegt.
Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.
Der Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder
Hinterlegung in Höhe von 110 % des beizutreibenden Betrages
abwenden, wenn nicht die Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in
gleicher Höhe leisten.
Tatbestand:
1
Der Kläger begehrt vom Beklagten die Gewährung von jugendhilferechtlichem
Pflegegeld einschließlich Erziehungsbeitrag für die Betreuung seines Neffen F1, geb.
00.00.1987.
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Nach dem Tod seines Bruders I am 13. März 2000 - des Vaters von F2 und F1 - nahm
der Kläger seine Neffen zu sich. Mit Zustimmung der leiblichen Kindesmutter übertrug
das Amtsgericht S die Personensorge mit Beschluss vom 7. November 2000 auf den
Kläger. Die Kindesmutter F3 verzog mit der Tochter F4 am 31. Mai 2001 nach E.
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Seit dem 1. September 2000 erhielt der Kläger für seine Neffen vom Sozialamt des
Beklagten laufende und einmalige Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem BSHG in Form
von Hilfe in Verwandtenpflege. Zu dem 18. September 2000 datierten Antrag hielt das
Sozialamt des Beklagten fest: „Das Jugendamt leistet keine Hilfen, da diese aufgrund
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der Unterbringung der Kinder beim Onkel nicht erforderlich sind, dies wurde vom
zuständigen SB des Jugendamtes bestätigt" (Vermerk vom 18. September 2000).
Mit Schreiben vom 27. Januar 2003 an den Beklagten beantragte der Kläger
rückwirkend für die Zeit vom 12. Dezember 2000 fortlaufend Pflegegeld für die
Betreuung und Versorgung von F1 bis zum Ende der Minderjährigkeit.
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Der Beklagte teilte - nach Angaben des Klägers - fernmündlich mit, seiner Meinung nach
sei nicht er, sondern das Jugendamt E zuständig. Daher stellte der Kläger den
wortgleichen Antrag auf Pflegegeld am 30. Januar 2003 an die Oberbürgermeisterin der
Stadt E. Mit Schreiben vom 6. Juni 2003 teilte diese mit, dass sie den Antrag nicht
bescheiden könne, denn der Beklagte sei nach § 86 VI SGB VIII zuständig, da F2 und
F1 auf Dauer bei dem Kläger und nicht bei der Kindesmutter lebten.
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Der Beklagte bewilligte mit Bescheid vom 23. Juli 2003 rückwirkend ab Februar 2003
Pflegegeld nach dem SGB VIII für F1 in Höhe von 724,50 EURO monatlich.
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Gegen diesen Bescheid legte der Kläger am 31. Juli 2003 Widerspruch ein, soweit nicht
rückwirkend ab dem 12. Dezember 2000 bewilligt wurde.
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Mit Widerspruchsbescheid vom 6. Januar 2004 wies der Beklagte den Widerspruch als
unbegründet zurück. Zur Begründung führte er im wesentlichen an, dass bereits im
Januar 2002 vom Jugendamt E ein Beratungstermin vorgeschlagen worden sei, auf den
der Kläger nicht reagiert habe. Auch habe er am 6. Mai 2002 einen Antrag auf
ambulante Hilfe gestellt, der zuständigkeitshalber an das Jugendamt E weitergeleitet
worden sei. Dort habe der Kläger seinen Anspruch nicht weiter verfolgt, das Jugendamt
E habe daher den Antrag aufgrund mangelnder Mitwirkung als erledigt angesehen. Die
rückwirkende Hilfe komme wegen fehlender Mitwirkung nicht in Betracht.
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Der Kläger hat am 27. Januar 2004 bei Gericht die vorliegende Klage erhoben. Er trägt
im wesentlichen zur Begründung vor, dass er unmittelbar nach Übernahme der Kinder in
seinen Haushalt beim Beklagten fernmündlich nachgefragt habe, welche finanziellen
Hilfen ihm zuteil werden könnten. Sowohl das Jugendamt als auch Sozialamt des
Beklagten hätten ihm wiederholt mitgeteilt, dass er keine Leistungen beanspruchen
könne. Er habe dann letztlich im Januar 2003 die Anträge auf Bewilligung von
Pflegegeld gestellt. Er habe keine Schreiben der Stadt E erhalten, das dortige
Jugendamt habe auch nicht davon ausgehen können, es bestehe kein Bedarf nach
Hilfe. Es sei zwar richtig, dass der Kläger seit dem 1.September 2000 laufende Hilfe
zum Lebensunterhalt für seine beiden Neffen erhalten habe, Hilfe vom Jugendamt sei
ihm jedoch nicht angeboten worden.
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Der Kläger beantragt,
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den Beklagten zu verurteilen, ihm - dem Kläger - für das Kind F1, geb. am 00.00.1987,
Pflegegeld nach dem Kinder- und Jugendhilfegesetz (SGB VIII) für die Zeit vom 12.
Dezember 2000 bis 31.Januar 2003 zu bewilligen.
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Der Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Er trägt vor, dass der Kläger erzieherische Hilfe durch das Jugendamt des Beklagten
nicht angenommen oder nachgefragt habe, konkrete Jugendhilfemaßnahmen hätten
deshalb nicht durchgeführt werden können. Es habe punktuelle Hilfestellung nur in
wenigen Einzelgesprächen gegeben, sodass auch eine wirtschaftliche Jugendhilfe nicht
habe eintreten müssen. Auch komme eine rückwirkende Leistung grundsätzlich nicht in
Betracht. Der Kläger habe nicht auf die Kontaktversuche des Jugendamtes der Stadt E
reagiert, daher sei sein Antrag vom 6. Mai 2003 mangels Mitwirkung abzulehnen
gewesen.
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Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung
einverstanden erklärt.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird ergänzend Bezug
genommen auf den Inhalt der Gerichtsakten des vorliegenden Verfahrens sowie des
Verfahrens 19 K 591/04 - F2 betreffend - sowie den in beiden Verfahren beigezogenen
Verwaltungsvorgängen (4 Beiakten.)
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Entscheidungsgründe:
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Die Kammer konnte gemäß § 101 Abs. 2 VwGO ohne mündliche Verhandlung
entscheiden, weil die Beteiligten sich damit ausdrücklich einverstanden erklärt haben.
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Die Klage ist bei verständiger Würdigung des Klagevorbringens, des darin
niedergelegten konkreten Begehrens und der Sache nach als Verpflichtungsklage zu
verstehen, denn der Kläger begehrt die Verpflichtung des Beklagten, unter Abänderung
seines Bescheides vom 23. Juli 2003 und des Widerspruchsbescheides 6. Januar 2004
ihm, dem Kläger, für die Zeit vom 12. Dezember 2000 bis zum 31. Januar 2003
jugendhilferechtliches Pflegegeld zu bewilligen. Dieses Ziel ist nicht mit einer
Leistungsklage, sondern nur mit einer Verpflichtungsklage zu erreichen. Auch der
Umfang der begehrten Leistung war auf die Beträge zu begrenzen, die über die bereits
erbrachten Sozialhilfeleistungen zum Unterhalt des Kindes hinausgingen.
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Die Klage ist in diesem Sinne verstanden und derart ausgelegt zulässig und begründet.
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Der Kläger hat Anspruch auf Hilfe zu Erziehung nach §§27,33, 39 SGB VIII für die Zeit
vom 12. Dezember 2000 bis zum 31. Januar 2003. für die Betreuung seines Neffen F1 in
seinem Haushalt. Der Beklagte war in dem hier maßgeblichen Zeitraum auch zuständig.
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In der Zeit vom 21. Dezember 2000 bis zum 30. Mai 2001 war der Beklagte zuständig,
weil die Mutter der Kinder (Halbwaisen) ihren gewöhnlichen Aufenthalt in L hatte, vgl. §
86 Abs. 1 Satz 1 und 3 SGB VIII.
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Nach dem Umzug der Mutter der Kinder am 31. Mai 2001 bis zum 13. August 2002 war
der Beklagte zuständig, weil die Stadt E die Aufnahme der Hilfe abgelehnt hat und damit
die Verpflichtung des Beklagten nach § 86c SGB VIII bestand, zunächst weiterzuleisten.
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Ab 14. August 2002 war F1 bereits 2 Jahre in dem Haushalt des Onkels als Pflegekind
untergebracht, sodass sich die Zuständigkeit des Beklagten nunmehr aus § 86 Abs. 6
SGB VIII ergab, da es nun auf den gewöhnlichen Aufenthalt des Klägers ankam, weil
der Verbleib des Kindes dort auf Dauer zu erwarten war.
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Dem Kläger kann auch nicht entgegengehalten werden, er habe keinen Antrag auf
Bewilligung von Jugendhilfeleistungen gestellt. Schon der Umstand, dass die
Sozialhilfeleistungen erbracht wurden, belegt, dass dem Beklagten die Notwendigkeit
von Hilfen unterbreitet worden ist. Dabei ist es nicht erforderlich, dass der Antragsteller
in der Lage ist, diesen Antrag unter Nennung entsprechender jugendhilferechtlicher
Normen einzugrenzen, die Prüfung, welche Ansprüche in Frage kommen, obliegt dann
dem Beklagten. Dieser war denn auch zu einem - wenn auch falschen - Ergebnis
gelangt - wie der Vermerk vom 18. September 2000 belegt.
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Da der jugendhilferechtliche Bedarf für die Vergangenheit nicht abschließend
gegenüber dem Kläger entschieden worden war, ist der Kläger später nicht gehindert,
die Ansprüche weiter zu verfolgen. Bestandskräftige Ablehnungsbescheide sind nicht
vorhanden.
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Die gesetzlichen Voraussetzungen für die Gewährung öffentlicher Jugendhilfe liegen in
dem hier maßgeblichen Zeitraum auch vor. Nach § 27 Abs. 1 SGB VIII hat ein
Personensorgeberechtigter bei der Erziehung eines Kindes Anspruch auf Hilfe zur
Erziehung, wenn eine dem Wohl des Kindes entsprechende Erziehung nicht Gewähr
leistet und die Hilfe für seine Entwicklung notwendig und geeignet ist. als
Personensorgeberechtigter Der Kläger kann diese Ansprüche verfolgen, da ihm das
Personensoregerecht der von ihm aufgenommenen Kinder F1 und F2 mit Beschluss
des Amtsgerichts S vom 7. November 2000 übertragen worden ist.
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Vgl. Urteil des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen, Urteil vom
25. April 2001 - 12 A 924/99.
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Dass Hilfe in diesem Sinne zur Erziehung für F2 notwendig war, kann ebenfalls
schwerlich verneint werden. Die Kindesmutter schied als Erziehungsperson aus. Der
Kindesvater war bereits im August 2000 verstorben. Damit war ein Bedarf für Hilfe zur
Erziehung gegeben, denn die Eltern sind ausgefallen.
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Die vom Beklagten hierzu vertretene Ansicht, Hilfe zur Erziehung in Fällen der
vorliegenden Konstellation sei nicht geboten, weil neben der Versorgung des Kindes
weiter gehende Hilfe, insbesondere mangels vom Kläger konkret nachgefragter
Erziehungshilfe, nicht erforderlich sei, beruht auf den Vorgaben des früheren
Jugendwohlfahrtgesetzes. Mit Einführung des SGB VIII ist dieses Erfordernis entfallen.
Es kommt allein auf einen objektiven Mangel an Erziehungsleistung an, nicht auf
besondere Probleme in der Person des Erzogenen oder des Erziehers. Es genügt ein
objektiver Ausfall von Erziehungsleistung im elterlichen Bereich.
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vgl. Kunkel in: Kinder- und Jugendhilfe, Lehr- und Praxiskommentar, a.a.O., § 27 Rdnr.
2.
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Auch die Voraussetzungen einer vorrangigen, bedarfsdeckenden Verwandtenpflege im
Sinne der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts lagen nicht vor. Nach dieser
Rechtsprechung,
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vgl. Urteile vom 15. Dezember 1995 - 5 C 2.94 -, FEVS 47, 13 ff, vom 12. September
1996 - 5 C 37.95 -, BVerwGE 102, 56 ff, vom 12. September 1996 - 5 C 31.95 -, FEVS
47, 433 ff, und vom 4. September 1997 - 5 C 11.96 -, FEVS 48, 289 ff.,
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ist der Hilfe zur Erziehung in Vollzeitpflege einschließlich der Annexleistungen nach §
39 SGB VIII nicht allein deshalb ausgeschlossen, weil die Betreuung durch die
Aufnahme des Kindes in den Haushalt der verwandten Großeltern - hier des Onkels -
erfolgt. In Fällen dieser Art hat das Bundesverwaltungsgericht in seiner zitierten
Rechtsprechung den zuständigen Jugendhilfeträger für verpflichtet erachtet, Jugendhilfe
durch Übernahme der Kosten der Erziehungsmaßnahme und demzufolge auch
"wirtschaftliche Jugendhilfe" zu leisten, wenn die gesetzlichen Voraussetzungen für die
Gewährung öffentlicher Jugendhilfe für die tatsächlich erhaltene Erziehung vorgelegen
haben und diese Kosten nicht von den Minderjährigen selbst oder den Eltern getragen
worden sind. Für die Verwandtenpflege im Haushalt des Onkels gilt dies indes nur,
wenn dieser - wie hier - nicht zur unentgeltlichen Pflege bereit ist. Dies hat der Onkel
schon bei Beginn deutlich gemacht, als er erkennbar auf Leistungen des Beklagten
nicht verzichten wollte. Eine zivilrechtliche Unterhaltspflicht des Onkels kommt ohnehin
nicht in Betracht.
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Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 1, 188 Satz 2 n. F. VwGO, die zur
vorläufigen Vollstreckbarkeit auf § 167 VwGO i.V.m. § 708 Nr. 11, 711 ZPO.
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