Urteil des VG Düsseldorf vom 11.08.2006

VG Düsseldorf: klausur, staatsprüfung, offensichtliches versehen, widerspruchsverfahren, kritik, empfehlung, prüfer, vorschlag, beurteilungsspielraum, vollstreckung

Verwaltungsgericht Düsseldorf, 15 K 1819/05
Datum:
11.08.2006
Gericht:
Verwaltungsgericht Düsseldorf
Spruchkörper:
15. Kammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
15 K 1819/05
Tenor:
Die Klage wird abgewiesen.
Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Klägerin darf
die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des
beizutreibenden Betrages abwenden, wenn nicht der Beklagte vor der
Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Tatbestand:
1
Die Klägerin, die den Referendardienst in Nordrhein-Westfalen zum 1. Oktober 2002
angetreten hatte, wendet sich gegen das Ergebnis ihrer mit Erfolg abgelegten zweiten
juristischen Staatsprüfung.
2
Den schriftlichen Teil der Prüfung schloss die Klägerin mit folgenden Ergebnissen ab:
3
ZI-Klausur: "ausreichend" (5 Punkte) SI-Klausur: "befriedigend" (8 Punkte) CI-Klausur:
"befriedigend" (8 Punkte) VI-Klausur: "ausreichend" (6 Punkte) ZII-Klausur:
"ausreichend" (5 Punkte) SII-Klausur: "ausreichend " (5 Punkte) CII-Klausur:
"ausreichend" (6 Punkte) VII-Klausur: "ausreichend" (6 Punkte)
4
In der mündlichen Prüfung am 17. September 2004 erzielte sie folgende Noten:
5
Vortrag: "mangelhaft" (3 Punkte) Prüfungsgespräch: "befriedigend" (8 Punkte)
6
Als Gesamtergebnis der Prüfung stellte der Prüfungsausschuss einen Punktwert von
6,37 fest und erklärte die Prüfung mit "ausreichend" (6,37 Punkte) für bestanden. Dies
teilte das beklagte Prüfungsamt der Klägerin als Ergebnis ihrer zweiten juristischen
Staatsprüfung durch Bescheid vom 21. September 2004 mit.
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Gegen die Prüfungsentscheidung erhob die Klägerin Widerspruch, rügte unter anderem
8
die Bewertung der V-II Klausur und machte ferner geltend, der Prüfungsausschuss habe
es angesichts ihrer schulischen Vorleistungen, der mit "befriedigend" abgeschlossenen
ersten Staatsprüfung, des mit der bestmöglichen Note an der University of D
(Neuseeland) beendeten Masterstudiums und der im Vorbereitungsdienst theoretisch
und praktisch erbrachten Leistungen ermessensfehlerhaft unterlassen, das rechnerisch
ermittelte Ergebnis ihrer zweiten Staatsprüfung um bis zu einem Punkt anzuheben.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird Bezug genommen auf die den Widerspruch
begründenden Schriftsätze der Klägerin vom 22. Oktober 2004 und 2. November 2004.
Zu den gegen die Beurteilung der V-II Klausur erhobenen Einwänden, die M (Erstprüfer)
und Vorsitzender Richter am Finanzgericht N (Zweitprüfer) zunächst mit 4 bzw. 6
Punkten und nach Beratung mit "ausreichend" (6 Punkte) bewertet hatten, nahmen die
beiden Korrektoren Stellung. Ausweislich ihrer Voten vom 4. Dezember 2004
(Erstkorrektor) bzw. 22. Dezember 2004 (Zweitkorrektor) sahen sie ebenso wie der
Prüfungsausschuss ausweislich seiner Stellungnahme vom 14. Februar 2005 keinen
Anlass, ihre jeweilige Bewertung der (Gesamt-)Prüfungsleistung abzuändern. Auf die
Stellungnahmen wird wegen ihres Inhalts Bezug genommen.
9
Unter Hinweis auf die Stellungnahmen der Prüfer wies das beklagte Prüfungsamt den
Widerspruch der Klägerin gegen die Prüfungsentscheidung mit am 23. März 2005
zugestelltem Bescheid vom 21. März 2005 als nicht begründet zurück.
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Die Klägerin hat am 22. April 2005 Klage erhoben.
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Sie macht unter Wiederholung und teilweiser Vertiefung ihrer hierzu im
Widerspruchsverfahren vorgetragenen Gründe geltend, die Beurteilung ihrer V-II
Klausur sowie die Nichtanhebung der Gesamtnote durch den Prüfungsausschuss sei
auch unter Berücksichtigung der im Widerspruchsverfahren zu ihren Einwänden jeweils
abgegebenen Stellungnahmen rechtswidrig.
12
Die Klägerin beantragt,
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das beklagte Prüfungsamt zu verpflichten, sie unter Beachtung der Rechtsauffassung
des Gerichts über das Ergebnis ihrer zweiten juristischen Staatsprüfung nach erneuter
Bewertung der V-II Klausur und erneuter Entscheidung des Prüfungsausschusses über
eine vom rechnerischen Ergebnis der Staatsprüfung zu ihren Gunsten abweichende
Festsetzung der Gesamtnote neu zu bescheiden.
14
Das beklagte Prüfungsamt beantragt,
15
die Klage abzuweisen.
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Es ist der Auffassung, der Klägerin stehe der geltend gemachte Anspruch aus den in
den angegriffenen Bescheiden genannten Gründen nicht zu.
17
Das beklagte Prüfungsamt hat die V-II Klausur der Klägerin und die zugehörigen
Prüfervoten dem Gericht in Ablichtung vorgelegt und darauf hingewiesen, dass die
Originale dieser Prüfungsunterlagen abhanden gekommen sind.
18
Die Beteiligten haben schriftsätzlich übereinstimmend auf die Durchführung einer
mündlichen Verhandlung verzichtet.
19
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird ergänzend auf den
Inhalt der Gerichtsakten sowie der beigezogenen Verwaltungsvorgänge des beklagten
Prüfungsamtes Bezug genommen.
20
Entscheidungsgründe:
21
Über das Klagebegehren entscheidet der Einzelrichter gemäß § 101 Abs. 2 VwGO ohne
mündliche Verhandlung, nachdem die Beteiligten sich hiermit schriftsätzlich
einverstanden erklärt haben.
22
Das Klagebegehren bleibt erfolglos. Die als Verpflichtungsklage (§ 42 Abs. 1 Alt. 2
VwGO) statthafte und auch im Übrigen zulässige Klage ist unbegründet. Der
angegriffene Prüfungsbescheid des beklagten Prüfungsamtes vom 21. September 2004
sowie seine Widerspruchsentscheidung vom 21. März 2005 sind rechtmäßig und
verletzen die Klägerin nicht in eigenen Rechten; der geltend gemachte Anspruch steht
ihr nicht zu (§ 113 Abs. 5 S. 2 VwGO).
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Ein Rechtsanspruch auf Neubewertung einer Prüfungsleistung besteht, wenn die
Bewertung der - wie hier die V-II Klausur - ihrerseits verfahrensfehlerfrei erbrachten
Prüfungsleistung mit Rechtsfehlern behaftet ist, die sich auf das Ergebnis der
Beurteilung ausgewirkt haben können.
24
Vgl. Niehues, Schul- und Prüfungsrecht, Band 2 Prüfungsrecht, 4. Auflage 2004,
(Niehues) Rdnr. 512.
25
Dies ist hier nicht der Fall. Die angegriffene Bewertung der V-II Klausur hält einer
Rechtskontrolle Stand. Der rechtlichen Überprüfung steht dabei nicht entgegen, dass
das beklagte Prüfungsamt dem Gericht die Prüfungsarbeit nebst den zugehörigen
Prüfervoten nicht im Original hat vorgelegen können. Die Übereinstimmung der
übersandten Ablichtungen mit den abhanden gekommenen Originalen der
entsprechenden Prüfungsunterlagen wird von keinem der Beteiligten bestritten und
unterliegt auch von Amts wegen keinen Zweifeln.
26
Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, der die Verwaltungsgerichte
folgen,
27
Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 17. April 1991, 1 BvR 419/81 und 1 BvR
213/83 sowie Beschluss vom gleichen Tage, 1 BvR 138/87, Neue Juristische
Wochenschrift (NJW) 1991, 2005 und 2008; Bundesverwaltungsgericht (BVerwG), Urteil
vom 9. Dezember 1992, 9 C 3.92, Deutsches Verwaltungsblatt (DVBl.) 1993, 503;
Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen (OVG NRW), Urteil vom 23.
Januar 1995, 22 A 1834/90, S. 9 des Urteilsabdrucks und Urteil vom 21. April 1998, 22 A
669/96,
28
verpflichtet Artikel 19 Abs. 4 GG die Gerichte, auch Prüfungsentscheidungen in
rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht grundsätzlich vollständig nachzuprüfen. Lediglich
bei "prüfungsspezifischen Wertungen",
29
vgl. zur Abgrenzung BVerwG, Beschluss vom 17. Dezember 1997,6 B 55.97, DVBl.
1998, 404 f.,
30
verbleibt der Prüfungsbehörde ein die gerichtliche Kontrolle einschränkender
Beurteilungsspielraum, soweit komplexe prüfungsspezifische Bewertungen - z. B. bei
der Gewichtung verschiedener Aufgaben untereinander, bei der Einordnung des
Schwierigkeitsgrades der Aufgabenstellung oder bei der Würdigung der Qualität der
Darstellung - im Gesamtzusammenhang des Prüfungsverfahrens getroffen werden
müssen und sich nicht ohne weiteres in nachfolgenden Verwaltungsstreitverfahren
einzelner Prüflinge isoliert nachvollziehen lassen. Fachliche
Meinungsverschiedenheiten zwischen Prüfling und Prüfer sind der gerichtlichen
Überprüfung und Entscheidung hingegen nicht entzogen. Eine diesbezügliche Kontrolle
durch das Gericht setzt insoweit allerdings eine schlüssige und hinreichend
substantiierte Rüge des Prüflings im gerichtlichen Verfahren voraus, die sich mit den
fachlichen Einwendungen gegen die Prüfungsleistung inhaltlich auseinandersetzt.
Macht der Prüfling dabei geltend, er habe eine fachwissenschaftlich vertretbare und
vertretene Lösung der Prüfungsaufgabe gewählt, hat er dies unter Hinweis auf seiner
Ansicht nach einschlägige Fundstellen näher darzulegen; der im
verwaltungsgerichtlichen Verfahren geltende Amtsermittlungsgrundsatz ist insoweit
durch die Mitwirkungspflicht des Prüflings begrenzt,
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vgl. OVG NRW, Urteil vom 17. September 1993 - 22 A 1931/91 - S. 9 des
Urteilsabdrucks unter Hinweis auf BVerwG, Urteil vom 24. Februar 1993 - 6 C 35.92 - S.
19 des dortigen Urteilsabdrucks.
32
Gemessen daran bleiben die gegen die Beurteilung der V-II Klausur erhobenen Rügen
erfolglos. Widerspruchs- und Klagebegründung zeigen keine rechtlich beachtlichen
Bewertungsfehler auf.
33
Soweit die Klägerin vorträgt, entsprechend ihrer Darstellung in der Klausur und
entgegen der Kritik des Erstprüfers fehle es den baurechtlichen Vorschriften über das
Maß der baulichen Nutzung nach der obergerichtlichen Rechtsprechung an einer den
Nachbarn schützenden (Dritt-)Wirkung, ist das Vorbringen unschlüssig (und auch nicht
begründet). Es verfehlt den Kern der Prüferkritik, die sich aus der Randbemerkung des
Erstprüfers auf Seite 4 der Klausur erschließt. Mit der dortigen Formulierung, "so
unzutreffend bei § 34 Abs. 1 - Maß einfügen - Rücksichtnahme nachbarschützend", hält
er der Klägerin nicht etwa vor, sie habe einen (unmittelbar) drittschützenden Charakter
baurechtlicher Vorschriften über das Maß der baulichen Nutzung verkannt. Der Vorhalt
des Prüfers zielt vielmehr darauf ab, dass die Bearbeitung eine (mittelbar)
nachbarschützende Bedeutung dieser Vorschriften außer acht lässt, die diese Normen
nach seiner (sachlich auch zutreffenden) Auffassung über das in § 34 Abs. 1 BauGB
enthaltene Tatbestandsmerkmal "einfügen" und das dort verankerte Gebot der
Rücksichtnahme entfalten können. Dies folgt ohne weiteres aus dem in der vorzitierten
Randbemerkung die dortige Wertung "unzutreffend" einschränkenden "so" und den
nachfolgend aufgeführten Begriffen "einfügen, Rücksichtnahme, nachbarschützend".
Der Stellungnahme des Erstkorrektors aus dem Widerspruchsverfahren, die diesen
Kritikpunkt aufgreift, kommt deshalb auch nur die Bedeutung einer Erläuterung zu der
bereits bei der ersten Korrektur geübten Kritik zu. Sie enthält keinen neuen oder von den
Grundlagen der ursprünglichen Bewertung abweichenden fachlichen Vorhalt. Der
vorbezeichneten fachlichen Kritik aber ist die Klägerin argumentativ nicht mit
substantiierten Einwänden begegnet.
34
Rechtlich unerheblich, jedenfalls aber unbegründet ist der Einwand der Klägerin, der
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Erstprüfer habe die Kennzeichnung des Wohngebietes als "reines" auf Seite 4 der
Klausurbearbeitung nicht zu ihren Lasten in die Bewertung einbeziehen dürfen. Dies
gilt, obwohl es sich bei dieser Bezeichnung offensichtlich um einen Schreibversehen
handelt. Hierfür spricht, dass die Klägerin im gleichen Satz § 4 BauNVO als die
Vorschrift zitiert, die Regelungen zu dem durch den Bearbeitervermerk dem
Gebietscharakter nach vorgegebenen "allgemeinen" Wohngebiet enthält. Hinzu kommt,
dass sie im vorhergehenden Satz die zunächst auch dort gewählte Bezeichnung des
Wohngebietes als "reines" in "allgemeines" geändert hat. Allerdings bleibt auch ein
Schreibfehler, der offensichtlich auf einem Versehen beruht, ein Fehler, der in einer
Prüfungsarbeit korrigiert werden darf. Ob und unter welchen Voraussetzungen ein
solcher Fehler zum Nachteil des Prüflings namentlich dann in die Bewertung
einbezogen werden darf, wenn ihm keine (nur) orthografische Bedeutung zukommt,
sondern mit ihm - wie hier - eine fachliche Unkorrektheit einhergeht, bedarf hier keiner
Entscheidung. Offen bleiben kann dabei, ob der Erstprüfer den in der Verwendung des
unbestimmten Rechtsbegriffs "reines" Wohngebiet liegenden fachlichen Fehler schon
bei der ersten Bewertung der Klausur als offensichtlichen Schreibfehler erkannt und
auch als solchen in die Bewertung eingestellt hat. Ausweislich seiner im
Widerspruchsverfahren abgegebenen Stellungnahme hat er jedenfalls im Rahmen des
Überdenkungsverfahrens den Fehler als offensichtliches Versehen der Klägerin
eingestuft. Dort führt der Erstprüfer nämlich aus, dass dieser Fehler aus seiner Sicht
"nicht gravierend" ist, dieser also nicht ins Gewicht fällt. Mithin ist das Schreibversehen
der Klägerin entweder von vorne herein ohne maßgeblichen Einfluss auf die
Gesamtbewertung der Klausurleistung geblieben oder aber der Erstkorrektor hat den
Fehler erst im Überdenkungsverfahren als die Beurteilung der Klausur nicht (mit)tragend
gewichtet. Dass er sich in letzterem Fall nicht zu einer Anhebung der Gesamtnote
veranlasst gesehen hat, ist eine in seinem Beurteilungsspielraum liegende
Entscheidung, die keine Rechtsverletzung erkennen lässt. Die von ihm im Übrigen
aufgezeigten, vielfachen und gravierenden fachlichen Mängel der Bearbeitung sind
rechtlich jedenfalls geeignet, an der Beurteilung der Klausurleistung mit "ausreichend"
(6 Punkte) festzuhalten.
Die Zielrichtung der zu Grunde liegenden Prüferkritik verkennt die Klägerin auch, soweit
sie unter Verweis auf die Seiten 3 unten und 4 oben ihrer Klausurbearbeitung vorträgt,
unzutreffend sei der sich aus dem Erstvotum ergebende fachliche Vorwurf, sie habe in
ihrem Gutachten die "Gesamtthematik der Verletzung des Rücksichtsnahmegebots ...
nicht behandelt". Der Erstprüfer hat der Klägerin mit diesem - für sich genommen
allerdings etwas missverständlich formulierten Vorwurf - nicht vorgehalten, dass das
Gebot der Rücksichtnahme als solches in der Klausurbearbeitung unerwähnt geblieben
ist. Seiner Meinung nach sind vielmehr die Sachverhaltselemente, die nach dem zu
bearbeitenden Fall als mögliche Verletzung des Gebots der Rücksichtnahme insgesamt
("Gesamtthematik") zu prüfen waren, nahezu gänzlich unerörtert geblieben. Dies folgt
schon aus dem Erstvotum. Danach hätte nicht nur im Zusammenhang mit den
Vorschriften über das Maß der baulichen Nutzung "... auf die Frage des Einfügens, der
Rücksichtnahme, des Grades der Rücksichtnahmeverpflichtung ..." eingegangnen
werden müssen, sondern es war mit Bezug auf das Gebot der Rücksichtnahme " ...
hinsichtlich Bautiefe, Nachbargrundstücke, der sogenannten Orientierungslosigkeit [sc.:
zu] argumentieren " und die Darstellung zum Aspekt "... der Verbauung der schönen
Aussicht ..." zu ergänzen. Nichts anderes ergibt sich auch aus der im
Widerspruchsverfahren abgegebenen Stellungnahme des Erstkorrektors, in der zum
Beleg der unzureichenden Bearbeitung dieser "Gesamtthematik" die vorstehenden
Erwägungen teils wiederholt werden und darüber hinaus weiter erläuternd ausgeführt
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ist, dass es sinnvoll gewesen wäre"... im Rahmen des Gedankens des
Rücksichtnahmegebots die Anforderungen, die an das Rücksichtnahmegebot gestellt
werden, nach den Umständen des Einzelfalles zu orientieren (...[sc.: weil ]) um so mehr
an Rücksichtnahme verlangt werden kann, je empfindlicher und schutzwürdiger die
Stellung derer ist, denen die Rücksichtnahme zugute kommt ...". Mit diesem Verständnis
widerspricht die Kritik des Erstprüfers entgegen der Meinung der Klägerin auch nicht
dem Vorhalt des Zweitkorrektors, nach der das "... Thema 'Rücksichtnahmegebot' auf
Blatt 3 und 4 der Bearbeitung nur ganz eingeschränkt behandelt ..." ist. Diesem danach
von beiden Prüfern erhobenen fachlichen Vorhalt hat die Klägerin aber in der Sache
substantiiert nichts Erhebliches entgegnet. Ihre Ausführungen auf Seite 3 unten und
Seite 4 der Klausurbearbeitung sind auf die abstrakte Darstellung beschränkt, dass und
unter welchen Voraussetzungen eine drittschützende Funktion von Bauvorschriften in
Betracht kommt. Die seitens der Prüfer für erörterungsbedürftig gehaltenen Fallaspekte
finden sich dort nicht.
Erfolglos bleiben schließlich auch die Rügen der Klägerin, mit der sie sich gegen die an
ihrem Mandantenschreiben geübte Kritik des Erstprüfers wendet. Sie sind, soweit
rechtlich erheblich und nicht in den Beurteilungsspielraum fallend, wenn nicht bereits
unschlüssig, so doch jedenfalls unbegründet.
37
Dass das Erstvotum dieses Schreiben als "Schriftsatz" bezeichnet, deutet entgegen
dem Vortrag der Klägerin nicht darauf hin, dass dem Erstprüfer der Charakter dieses
Teils der Prüfungsleistung als Anschreiben an die Mandantschaft verborgen geblieben
ist. Abgesehen davon, dass der Bearbeitervermerk zur Klausur selbst von einem "...
Schriftsatz an die Mandantin ..." spricht, bliebe eine sachlich fehlerhafte Bezeichnung
des Anschreibens als sprachliche Unkorrektheit ohne jede Relevanz für den
Prüfungsrechtsstreit.
38
Eine (teilweise) Verkennung des Inhalts der erbrachten Prüfungsleistung durch den
Erstprüfer lässt sich auch nicht aus dem im Erstvotum als "überraschend" bezeichneten
Umstand ableiten, dass der "Schriftsatz" an die Mandantschaft empfiehlt, auf die
Inanspruchnahme vorläufigen gerichtlichen Rechtsschutzes zu verzichten. Zutreffend
weist die Klägerin darauf hin, dass sie die der Mandantschaft gegenüber
ausgesprochene Empfehlung auf Seite 14 der Klausurbearbeitung ("II. Vorschlag")
vorbereitet hat und die Empfehlung mit den dortigen Erwägungen inhaltlich
übereinstimmt. Der Erstprüfer rügt allerdings mit der beanstandeten Bemerkung im
Erstvotum weder das Fehlen von Erwägungen zur Zweckmäßigkeit des weiteren
Vorgehens in der Klausur noch eine inhaltliche Abweichung zwischen den
Ausführungen unter "II. Vorschlag" und dem in dem Mandantenschreiben erteilten Rat.
"Überrascht" zeigt sich der Erstprüfer vielmehr darüber, dass die Klägerin der
Mandantschaft ausschließlich empfiehlt, von der Inanspruchnahme gerichtlichen
Rechtsschutzes abzusehen, obwohl ein vorläufiger Rechtsschutzantrag nach der
gutachlichen Prüfung seiner Erfolgsaussichten zulässig und begründet ist, weil das
Bauvorhabens gegen abstandsrechtliche Vorschriften verstößt.
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Dass der Erstprüfer die inhaltliche Übereinstimmung zwischen "II. Vorschlag" und
Mandantenschreiben zur Kenntnis genommen hat und auch nicht den "Ort" der
Empfehlung - und damit den gedanklichen Aufbau der Prüfungsarbeit - moniert, sondern
kritisiert, dass das Mandantenschreiben eine einseitige, dem Ergebnis des Gutachtens
zuwider laufende und in diesem Sinne "überraschende" Empfehlung ausspricht, ohne
eine Handlungsalternative aufzuzeigen, folgt aus der die "Überraschung" erläuternden
40
Anmerkung im Erstvotum, "... Dies ...", nämlich die Entscheidung, gerichtlichen
Rechtsschutz nicht in Anspruch zu nehmen, hätte "... dann doch eher der Mandantschaft
überlassen bleiben sollen ...". Aus dem Gesamtkontext der Prüferkritik ergibt sich damit
als Vorhalt, dass die der Mandantschaft zu eröffnende Möglichkeit, in dieser Frage eine
unter fachlichen Gesichtspunkten abgewogene Entscheidung treffen zu können,
voraussetzt, dass ihr nicht nur die aus anwaltlicher Sicht gegen eine Inanspruchnahme
gerichtlichen Rechtsschutzes sprechenden Argumente unterbreitet werden, sondern
auch diejenigen, die für eine Anrufung des Gerichts sprechen können. Eben diese
Zielrichtung seiner Kritik erläuternd, und nicht - wie die Klägerin meint - zuvor unbenannt
gebliebene fachliche Mängel der Bearbeitung aufzeigend, führt der Erstprüfer in seiner
im Widerspruchsverfahren abgegebenen Stellungnahme denn auch aus, in die
Zweckmäßigkeitserwägungen zum "weiteren Vorgehen" und damit zugleich in das
Mandantenschreiben sei auch die Überlegung aufzunehmen gewesen, nach einem
Obsiegen in einem vorläufigen Rechtsschutzverfahren den Bauherrn mit dem Ziel zu
kontaktieren, einen Ausgleich für den Verzicht auf die Nachbarrechte zu erhalten, die
sich für die Mandantschaft aus dem festgestellten Verstoß des Bauvorhabens gegen
abstandrechtliche Vorschriften ergeben.
In Bezug auf diesen fachlichen Vorhalt sind die gegen die Prüferkritik erhobenen
Einwände der Klägerin jedenfalls unbegründet. Der Bearbeitervermerk erlaubt es, der
Mandantschaft auf der Grundlage der gutachtlichen Prüfung ein bestimmtes weiteres
Vorgehen zu empfehlen und ihr zugleich sowohl eine Handlungsalternative zu der
Empfehlung aufzuzeigen als auch die Entscheidung über das weitere Vorgehen zu
überlassen. Der Bearbeitervermerk gibt lediglich vor, dass in einem Anschreiben an die
Mandantschaft die rechtlichen Gründe darzulegen sind, aus denen eine
Inanspruchnahme gerichtlichen Rechtsschutzes für nicht Erfolg versprechend erachtet
wird. Er enthält keine Vorgaben für den Fall, dass - wie hier - ein Antrag auf Gewährung
vorläufigen Rechtsschutzes nach der gutachtlichen Prüfung zwar Aussicht auf Erfolg
bietet, der Prüfling aber die Inanspruchnahme des Gerichts aus bestimmten fachlichen
Gründen für nicht zweckmäßig hält. Dass der zu begutachtende Sachverhalt und / oder
das Ergebnis des Gutachtens keinen Anlass gab, der Mandantschaft die vom
Erstgutachter vermisste Handlungsalternative als auch zweckmäßig aufzuzeigen, hat
die Klägerin nicht dargelegt. Gründe hierfür sind auch sonst nicht ersichtlich. Dies gilt
um so mehr, als - wie Blatt 3 des zu bearbeitenden Falles zu entnehmen ist - nach dem
Auftrag der Mandantschaft zu prüfen war, "... welche rechtlichen Möglichkeiten es gibt,
damit die angefangenen Bauarbeiten schnellstmöglich unterbrochen werden ...". Gerade
diesem Anliegen hätte aber die vom Erstkorrektor aufgezeigte Handlungsvariante
entsprochen.
41
Muss die Klägerin danach die Beurteilung der V-II Klausur ebenso gegen sich gelten
lassen wie die Bewertung der übrigen Prüfungsleistungen, gilt dies auch für die
Entscheidung des Prüfungsausschusses, das aus den einzelnen Prüfungsnoten
rechnerisch (zutreffend) ermittelte Prüfungsergebnis als Gesamtergebnis der Prüfung
festzusetzen. Eine Anhebung der Gesamtnote nach § 31 Abs. 4 S. 3 Hs. 1 des Gesetzes
über die juristischen Staatsprüfungen und den juristischen Vorbereitungsdienst
(Juristenausbildungsgesetzes - JAG a. F.) in der zuletzt durch Gesetz vom 18.
Dezember 2001 (GV NRW S. 148) geänderten Fassung der Bekanntmachung vom 8.
November 1993 (GV NRW S. 924), der nach § 66 Abs. 2 S. 1 JAG vom 11. März 2003
(GV. NRW. S. 135), zuletzt geändert durch Artikel 85 des Gesetzes vom 5. April 2005
(GV. NRW. S. 351), auf das Prüfungsverfahren der Klägerin anzuwenden ist, war dem
Prüfungsausschuss rechtlich verwehrt.
42
§ 31 Abs. 4 S. 3 Hs. 1 JAG a. F. bestimmt, dass der Prüfungsausschuss bei der
Entscheidung über das Ergebnis der Prüfung von dem rechnerisch ermittelten Wert für
die Gesamtnote um bis zu einem Punkt abweichen kann, wenn dies den Leistungsstand
des Prüflings besser kennzeichnet und die Abweichung auf das Bestehen der Prüfung
keinen Einfluss hat; hierbei sind auch die Leistungen im Vorbreitungsdienst zu
berücksichtigen (§ 31 Abs. 4 S. 3 Hs. 2 JAG a. F.). Danach ist es rechtlich nicht zu
beanstanden, dass der Prüfungsausschuss ohne Rücksicht auf die Leistungen der
Klägerin im Vorbereitungsdienst und / oder andere prüfungsfremde Leistungen allein
aufgrund ihrer Leistungen im schriftlichen und mündlichen Teil ihrer zweiten juristischen
Staatsprüfung keinen Anlass gesehen hat, den Gesamtpunktwert anzuheben. Der
Prüfungsausschuss hat bei seiner Entscheidung, ob im Fall der Klägerin Anlass
bestand, von der in sein Ermessen gestellten Befugnis nach § 31 Abs. 4 S. 3 JAG a. F.
Gebrauch zu machen, andere als die in der zweiten Staatsprüfung erbrachten
Leistungen zu Recht außer acht gelassen.
43
Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist § 5 d Abs. 4 DRiG,
auf dem die in § 31 Abs. 4 S. 3 JAG a. F. getroffene Regelung beruht, zu entnehmen,
dass die aus allen Prüfungsteilnoten entsprechend ihrem festgelegten Gewicht
rechnerisch ermittelte Gesamtnote in aller Regel den Leistungsstand des Prüflings
zutreffend wiedergibt und deshalb eine Abweichung von ihr als Ausnahme von der
Regel zur Voraussetzung hat, dass das Rechenergebnis korrekturbedürftig ist, weil die
so ermittelte Note den Leistungsstand des Prüflings nach dem von ihm gewonnenen
Gesamteindruck offensichtlich nicht richtig kennzeichnet.
44
Vgl. BVerwG, Beschluss vom 11. Juli 1996, 6 B 22/96, Neue Zeitschrift für
Verwaltungsrecht - Rechtsprechungs-Report (NVwZ-RR) 1997, 102 f., unter
Bezugnahme auf seine Urteile vom 7. Oktober 1988, 7 C 2.88 Buchholz, Sammel- und
Nachschlagewerk der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, Buchholz,
Sammel- und Nachschlagewerk der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts
(Buchholz), 421.0 Prüfungswesen Nr. 258 und vom 12. Juli 1995, 6 C 12.93, Buchholz,
a. a. O., Nr. 354.
45
Für den Gesamteindruck bedeutsam sind dabei nur die Leistungen, die der Prüfling in
der Staatsprüfung selbst erbracht hat.
46
Vgl. BVerwG, Urteil vom 10. Oktober 2002, 6 C 7/02, Neue Juristische Wochenschrift
(NJW) 2003, 1063 (1064) und Urteil vom 19. Dezember 2001, 6 C 14/01, NVwZ 2002,
1375 (1377).
47
Mithin fehlt es an der Voraussetzung für ein Abweichen von der rechnerisch ermittelten
Gesamtnote, wenn die Noten der einzelnen Prüfungsleistungen zumindest ein
wesentlich einheitliches Leistungsbild ergeben. Ein solches Leistungsbild ist selbst bei
erheblich unterschiedlichen Einzelnoten regelmäßig noch gegeben. Etwas anderes gilt
nur dann, wenn die rechnerisch ermittelte Gesamtnote bei einem Vergleich der im
Prüfungsverfahren erzielten Noten durch einzelne für das Leistungsbild untypische
"Ausreißer" nach unten oder oben so beeinflusst wird, dass sie den Leistungsstand des
Prüflings offensichtlich nicht mehr zutreffend wieder gibt.
48
So: OVG NRW, Beschluss vom 27. Februar 1997, 22 A 1326/94, Nordrhein-
Westfälische Verwaltungsblätter (NWVBl) 1997, 380 (382); vgl. auch OVG NRW,
49
Beschluss vom 29. März 2003 (richtig wohl: 2004), 14 A 902/03, n. V. und dem folgend:
Verwaltungsgericht Köln, Urteil vom 22. Juli 2004, 6 K 10341/02, n. V.
Ausweislich der Stellungnahme, die der Prüfungsausschuss im Widerspruchsverfahren
abgegeben hat, kennzeichnet aber die für die Staatsprüfung der Klägerin rechnerisch
ermittelte Gesamtnote "ausreichend" (6,37 P) unter Berücksichtigung der erzielten
Prüfungsteilnoten das in der Prüfung gezeigte Leistungsbild der Klägerin zu treffend,
weil ihre Einzelleistungen im Wesentlichen im oberen Bereich der Note "ausreichend"
angesiedelt sind. Diese Einschätzung, die mit dem Verweis auf die Einzelnoten auf
objektiv nachvollziehbare Umstände gestützt und damit gerichtlich voll überprüfbar ist,
50
vgl. hierzu: OVG NRW, Beschluss vom 27. Februar 1997, a. a. O. (381),
51
erweist sich, weil sachlich zutreffend, als rechtsfehlerfrei. Der überwiegende Teil der
Prüfungsleistungen der Klägerin - nämlich 6 von 10 - ist mit der Note "ausreichend"
bewertet, wobei lediglich drei dieser Bewertungen im oberen Bereich dieser Notenstufe
angesiedelt sind. Dem stehen gegenüber nur drei Beurteilungen mit "befriedigend" (8
Punkte) und eine mit "mangelhaft" (3 Punkte). Diese Notenkonstellation enthält keinen
für das Leistungsbild der Klägerin untypischen "Ausreißer" nach unten. Mithin fehlt es
an einem Anhaltspunkt dafür, dass die rechnerisch ermittelte Gesamtnote den
Leistungsstand der Klägerin ersichtlich unzutreffend wiedergibt. Dem
Prüfungsausschuss war es deshalb rechtlich verwehrt, eine Anhebung der Gesamtnote
der Klägerin überhaupt in Betracht zu ziehen.
52
Die Kostenentscheidung folgt aus §154 Abs. 1 VwGO. Der Ausspruch zur vorläufigen
Vollstreckbarkeit ergibt sich aus den § 167 Abs. 2 i. V. m. Abs. 1 VwGO und den §§ 708
Nr. 11, 711 ZPO.
53
54