Urteil des VG Düsseldorf vom 15.11.2002

VG Düsseldorf: eltern, behörde, schweigepflicht, erlass, lehrer, realschule, zukunft, anhörung, behinderung, therapie

Verwaltungsgericht Düsseldorf, 19 L 4313/02
Datum:
15.11.2002
Gericht:
Verwaltungsgericht Düsseldorf
Spruchkörper:
19. Kammer
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
19 L 4313/02
Tenor:
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wird abgelehnt.
Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens, für das Gerichtskosten
nicht erhoben werden.
Gründe:
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Das dem Gericht am 4. November 2002 unterbreitete, auf die Gewährung vorläufigen
Rechtsschutzes gerichtete Begehren mit dem ausdrücklich gestellten Antrag,
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„den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung nach § 123 Abs. 1 S. 2
VwGO zu verpflichten, die dem Antragsteller entstehenden laufenden Kosten des
Schulbesuchs auf der D-Schule in N in Höhe eines monatlichen Betrages von EUR
455,05 beginnend mit Januar 2003 zu übernehmen,"
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ist nicht begründet.
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Nach § 123 Abs.1 S.2 VwGO kann eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines
vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis nur getroffen werden,
wenn dies zur Abwehr wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Dies setzt gemäß § 123
Abs.3 VwGO in Verbindung mit § 920 Abs.2 ZPO voraus, dass das Bestehen eines zu
sichernden Rechts (Anordnungsanspruch) und die besondere Eilbedürftigkeit
(Anordnungs-grund) glaubhaft gemacht werden. Unabhängig von der Frage, ob und
inwieweit ein Anordnungsanspruch auf die begehrte Sozialhilfeleistung glaubhaft
gemacht ist, kann eine einstweilige Anordnung nach § 123 Abs.1 Satz 2 VwGO nur
dann ergehen, wenn es zur Vermeidung schlechthin unzumutbarer Folgen für den
betreffenden Antragsteller notwendig ist, dass seinem Begehren sofort entsprochen
wird. Durch diese besondere Regelung des Prozessrechts soll verhindert werden, dass
das für die Klärung von Streitfragen zwischen Bürgern und Behörden vorgesehene
Klageverfahren, in dem der Sachverhalt erschöpfend und ohne Zeitdruck aufgeklärt
werden kann, seinem eigentlichen Zweck entkleidet und die Streitfragen in Abweichung
von der gesetzlichen Regelung in das Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes
vorverlagert werden. Die gerichtliche Entscheidung in einem Hauptsacheverfahren
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(Klageverfahren) soll nämlich regelmäßig nicht durch eine Eilentscheidung im Verfahren
des vorläufigen Rechtsschutzes, in dem zwangsläufig nur die summarische Prüfung des
Sach- und Streitstandes erfolgen kann, vorweggenommen werden. Nur wenn es um die
Vermeidung schlechthin unzumutbarer Folgen für den betreffenden Antragsteller geht,
kann eine Sachentscheidung - etwa durch Erlass einer einstweiligen Anordnung - in
Erwägung gezogen werden.
Gemäß diesen strengen Voraussetzungen hat der Antragsteller bereits den
Anordnungsgrund nicht glaubhaft gemacht.
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Das gilt zunächst, soweit mit dem in die Zukunft offenen Antrag Leistungen für die Zeit
nach dem Ende des laufenden Schuljahres 2002/2003, mithin ab dem 1. August 2003,
geltend gemacht werden. Jugendhilfe wird - insoweit vergleichbar mit der Sozialhilfe -
zeitabschnittsweise gewährt. Soweit der Betroffene (wie vorliegend) Leistungen für den
Besuch einer Schule begehrt, sind nach der ständigen Praxis des Gerichts die
jeweiligen Schuljahre, in Ausnahmefällen auch Schulhalbjahre, die maßgeblichen
Bewilligungszeiträume. Zukünftige Bewilligungszeiträume sind einer Eilentscheidung
regelmäßig nicht zugänglich.
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Aber auch für die verbleibende Zeit vom 1. Januar bis zum 31. Juli 2003 ist derzeit der
Anordnungsgrund nicht ersichtlich. Der Antragsteller hat nicht glaubhaft gemacht, dass
die finanziellen Verhältnisse seiner Eltern eine Fortsetzung des Privatschulbesuchs aus
eigenen Mitteln nicht zulassen. Insoweit reicht die - nachgewiesene - Beendigung des
Arbeitsverhältnisses des Vaters zum 31. Dezember 2002 nicht aus. Vielmehr müssten
die gesamten wirtschaftlichen Verhältnisse dargetan und belegt werden, etwa in
Anlehnung an den Vordruck, der im Prozesskostenhilfeverfahren Verwendung findet.
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Unabhängig von alledem ist derzeit auch der Anordnungsanspruch nicht gegeben.
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Dieser Anspruch richtet sich nach § 35 a SGB VIII in der Fassung des Gesetzes vom 19.
Juni 2001 (BGBl. I 1046). Insoweit unterstellt der zur Entscheidung berufene Richter,
dass die Voraussetzungen der Norm in der Person des Antragstellers erfüllt sind, dass
er mithin zu dem dort umschriebenen Personenkreis gehört. Es lässt sich aber nicht
feststellen, ob die begehrte Maßnahme - der Besuch der D-Schule in N - eine nach dem
individuellen Bedarf „geeignete" und „notwendige" Hilfe darstellt. Diese Feststellung
kann deshalb nicht getroffen werden, weil die Eltern des Antragstellers die zur
Sachverhaltsermittlung notwendige Entbindung der Psychologin Frau T von der
Schweigepflicht verweigern und damit die Feststellung der notwendigen Tatsachen
vereiteln.
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Im Einzelnen:
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Zwar hat der Antragsgegner den Sachverhalt von Amts wegen zu ermitteln (§ 20 SGB
X), den Leistungsberechtigten treffen aber erhebliche Mitwirkungsobliegenheiten (§ 21
Abs. 2 SGB X, §§ 60 ff. SGB I). Zu diesen Mitwirkungsobliegenheiten gehört auch, in
Betracht kommende sachverständige Zeugen (§ 414 ZPO) - zu diesen zählt die
Psychologin Frau T, die den Antragsteller behandelt hat - von der Schweigepflicht (hier
gem. § 21 Abs. 3 S. 3, § 383 Abs. 1 Nr. 6 ZPO) zu entbinden. Die unberechtigte
Weigerung führt - wenn die Anhörung des Zeugen nötig ist - zur Ablehnung des
Begehrens.
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Die in Rede stehende Mitwirkungsobliegenheit entfällt nicht nach der insoweit allein in
Betracht kommenden Bestimmung des § 65 Abs. 1 Nr. 2 SGB I, weil dem Betroffenen
die Erfüllung aus einem wichtigen Grund nicht zugemutet werden kann. Dass sich seine
Eltern mit der Zeugin überworfen haben und auf Grund deren fachlicher Einschätzung
wohl eine ihnen nicht genehme Aussage erwarten, sind keine derartigen „wichtigen
Gründe". Auch eine Ablehnung wegen Besorgnis der Befangenheit (§ 17 SGB X) kommt
nicht in Betracht. Eine solche Ablehnung beträfe nur einen mit der Entscheidung der
Behörde betrauten Amtsträger. Frau T ist aber nur eine sachverständige Zeugin, deren
Angaben von dem Antragsgegner zusammen mit allen anderen Erkenntnissen zu
bewerten und zu gewichten sind.
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Auf die Angaben der Frau T kann im vorliegenden Fall nicht verzichtet werden, weil dem
Antragsgegner - und auch dem Gericht - eine Beurteilung des Falles ohne diese nicht
möglich ist. Insbesondere lassen sich weder „Eignung" noch „Notwendigkeit" des
streitigen Schulbesuches fachgerecht feststellen, wenn auf die genannte Zeugin
verzichtet werden soll.
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Die „Eignung" des streitigen Schulbesuchs im Rahmen des § 35 a SGB VIII ist
jedenfalls dann nicht gegeben, wenn die maßgeblichen Ursachen der Probleme in
erster Linie im häuslichen Umfeld liegen und vorrangig dort behandelt werden müssten.
Soweit dies den Akten, insbesondere einem Vermerk des Herrn Q (ASD des
Antragsgegners) von Anfang 2001 (Bl. 13/14 der Beiakte Heft 2 zur Klageakte)
entnommen werden kann, scheint Frau T zu einer derartigen Schlussfolgerung gelangt
zu sein. Danach sei das Problem der Legasthenie eher nachrangig, eine spezielle
Legastheniebehandlung habe in der Zukunft „an sich" keinen Sinn mehr. Vielmehr
suchten die Eltern Schlupflöcher, um der eigenen Verantwortung zu entgehen. Auch die
zentrale Fehlhörigkeit des Antragstellers hätten sie als ein solches Schlupfloch genutzt,
um die eigene Verantwortung in den Hintergrund zu schieben. Danach sah Frau T wohl
den Kern des Problems, die wirkliche Ursache der verstärkten Ängstlichkeit und der
Versagensängste, in einer Störung des Mutter- Vater-Kind-Verhältnisses, zumal nach
ihrer Einschätzung die seinerzeit besuchte Realschule sehr wohl auf die Bedürfnisse
des Kindes eingegangen sei.
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Aus Rechtsgründen wäre die „Eignung" ferner dann zu verneinen, wenn der
Privatschulbesuch nur ein notwendiges Element eines umfassenderen Konzeptes unter
Einbeziehung der Eltern im Rahmen der Hilfe zur Erziehung (vgl. § 35 a Abs. 4, § 27
SGB VIII) wäre, die Eltern aber eine über die Behandlung des Kindes hinausgehende
(Familien-) Therapie verweigern. Auch diesbezüglich wäre zunächst einmal durch
umfassende Ermittlungen der Behörde der genaue Bedarf abzuklären.
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Die „Notwendigkeit" des streitigen Privatschulbesuchs müsste trotz einer „Eignung"
verneint werden, wenn sich mit anderen Maßnahmen das anzustrebende Ziel - eine
drohende Behinderung zu verhüten und den Betroffenen in die Gesellschaft
einzugliedern ( § 35 a Abs. 3 SGB VIII iVm § 39 Abs. 3 BSHG) - besser oder z.B.
kostengünstiger erreichen ließe.
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Der Antragsgegner hätte die Möglichkeit gehabt haben müssen, Frau T hierzu als
Zeugin anzuhören (§ 21 Abs. 1 Nr. 2 SGB X), um die Entscheidung - nach Anhörung
weiterer Zeugen, etwa der maßgeblichen Lehrer der Realschule - und der Eltern ( vgl. §
24 SGB X, § 36 Abs. 1 SGB VIII) im Hilfeplangespräch seiner Fachleute (§ 36 Abs. 2
SGB VIII) vorzubereiten.
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Die Bescheinigung des Drs. H vom 27. Februar 2002 (Bl. 27 ff. der Klageakte) reicht zu
der gebotenen umfassenden Sachverhaltsermittlung nicht aus. Nach der ständigen
Verwaltungspraxis der Jugendämter sowie der Gerichte ist zur genauen Festlegung der
„geeigneten" und „notwendigen" Maßnahme eine möglichst lückenlose Aufklärung der
Vorgeschichte sowie des aktuellen - nicht nur psychiatrischen und
psychotherapeutischen - Befundes erforderlich. Dazu gehört, etwa auch in
Beweisverfahren des erkennenden Gerichts, in Fällen der vorliegenden Art die
Befragung von Fachleuten, die das Kind und seine Familie früher behandelt haben, und
ggf. ergänzend der Lehrer, auch solcher aus früheren Schuljahren. Bescheinigungen
von Ärzten und Psychologen, die sich wie der Bericht des Drs. H neben eigenen
Untersuchungs- und Testergebnissen nur auf die Angaben des Betroffenen und seiner
Eltern stützen, sind für sich allein regelmäßig keine zureichende
Entscheidungsgrundlage für Jugendämter und Verwaltungsgerichte.
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Sollten die Eltern des Antragstellers nunmehr Frau T von der Schweigepflicht
entbinden, wird der Antragsgegner - von diesem Zeitpunkt ab - den geltend gemachten
Anspruch umfassend prüfen müssen. Diesem Anspruch steht nicht entgegen, dass sich
die Betroffenen die Leistung bisher ohne Mitwirkung des Jugendamtes selbst beschafft
haben,
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vgl. zum sog. „Selbstbeschaffungsrecht" VG Düsseldorf, Urteil vom 22. Januar 2001 - 19
K 11140/98 - , ZfJ 2001, 196 (198 unten rechts, mit zahlreichen Nachweisen), sowie
ergänzend zum Mindesterfordernis eines Antrags bei der Behörde das seinerzeit noch
nicht bekannte Urteil des BVerwG vom 28. September 2000 - 5 C 29.99 - , BVerwGE
112, 98.
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Andererseits trägt der Antragsteller nach der Rechtsprechung insbesondere des
Bundesverwaltungsgerichts das volle Risiko der Selbstbeschaffung. Insbesondere muss
der Antragsgegner eine nicht „geeignete" oder nicht „notwendige" Maßnahme nicht etwa
deshalb übernehmen, weil der Abbruch mit Nachteilen für den Betroffenen verbunden
ist.
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Abschließend sei darauf hingewiesen, dass der Antragsteller und seine Eltern nicht die
Möglichkeit haben, rechtlich einwandfrei angebotene Hilfen nur selektiv in Anspruch
zunehmen. Sollten sich etwa der Besuch der D-Schule in Kombination mit einer
zusätzlichen Familientherapie als notwendig erweisen, können nicht etwa der
Schulbesuch akzeptiert und gleichzeitig die Familientherapie abgelehnt werden.
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Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1, § 188 Satz 2 VwGO.
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