Urteil des VG Düsseldorf vom 15.08.2006

VG Düsseldorf: politische verfolgung, bundesamt für migration, religion, auskunft, genfer konvention, amnesty international, persönliche freiheit, multiple sklerose, nationale sicherheit, christentum

Verwaltungsgericht Düsseldorf, 2 K 2682/06.A
Datum:
15.08.2006
Gericht:
Verwaltungsgericht Düsseldorf
Spruchkörper:
2. Kammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
2 K 2682/06.A
Tenor:
Die Beklagte wird unter entsprechend teilweiser Aufhebung des
Bescheides des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer
Flüchtlinge vom 16. September 2003 verpflichtet festzustellen, dass in
der Person der Kläger die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1
Aufenthaltsgesetz hinsichtlich des Irans vorliegen.
Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte
darf die Vollstreckung gegen Sicherheitsleistung in Höhe der
festgesetzten Kosten abwenden, wenn die Kläger nicht zuvor Sicherheit
in gleicher Höhe leisten.
Tatbestand:
1
Der am 0.00.1966 geborene Kläger und die am 00.00.1970 geborene Klägerin, seine
Ehefrau, sowie ihre gemeinsamen Kinder, die Kläger des abgetrennten Verfahrens 2 K
4685/06.A, sind iranische Staatsangehörige. Sie reisten eigenen Angaben zufolge am
12. November 2002 auf dem Landweg in die Bundesrepublik Deutschland ein und
stellten hier am 14. November 2002 einen Asylantrag, den sie im Wesentlichen darauf
stützten, dass der Kläger als Buchbinder am Forschungsinstitut L das Buch „E Die
satanischen Verse" in einer zweibändigen Ausgabe aus der Institutsbibliothek
geschmuggelt, im Keller seines Hauses kopiert, gebunden und über einen Freund an
Dritte weitergegeben habe. Mit Bescheid vom 16. September 2003 lehnte das
Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge, heute Bundesamt für
Migration und Flüchtlinge (Bundesamt), den Asylantrag als unbegründet ab und stellte
fest, dass weder die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 Ausländergesetz (AuslG) noch
Abschiebungshindernisse nach § 53 AuslG vorliegen. Zugleich forderte es die Kläger
unter Androhung der Abschiebung in den Iran auf, das Gebiet der Bundesrepublik
Deutschland innerhalb eines Monats nach Eintritt der Unanfechtbarkeit des Bescheides
des Bundesamtes zu verlassen. Der Bescheid wurde den Klägern am 24. September
2003 zugestellt. Sie haben am 7. Oktober 2003 Klage erhoben, zu deren Begründung
2
sie ergänzend im Wesentlichen Folgendes vortragen: Bei der Klägerin sei im Jahr 2003
Multiple Sklerose festgestellt worden. Den von der Klägerin vorgelegten fachärztlichen
Bescheinigungen zufolge sei eine präventive Therapie mangels Verträglichkeit in ihrem
Fall nicht möglich. Unter dem Eindruck dieser Diagnose habe sie häufiger christliche
Kirchen - zunächst nur allgemein als Gotteshäuser - besucht, um zu beten. Dadurch
habe sie eine iranische Familie katholischen Glaubens und später die Freie
Christengemeinde B kennen gelernt. In dieser Gemeinde habe sie zusammen mit dem
Kläger an Bibelstunden in persischer Sprache teilnehmen können. Am 9. Juli 2005
seien beide in der Freien Christengemeinde B getauft worden. Der Kläger sei ferner
aktives Mitglied der NID und ab Mai 2006 für ein Jahr Repräsentant der Partei für den
Raum B und Umgebung. Er habe im Juni und Juli 2006 an Demonstrationen in G
teilgenommen. Die Kläger haben entsprechende Bescheinigungen betreffend ihre
Taufe, die Erkrankung der Klägerin und die exilpolitischen Aktivitäten des Klägers
vorgelegt.
Die Kläger beantragen,
3
die Beklagte unter Abänderung des Bescheides des Bundesamtes vom 16. September
2003 zu verpflichten festzustellen, dass im Hinblick auf Nachfluchtgründe die
Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 Aufenthaltsgesetz in der Person der Kläger
hinsichtlich des Iran vorliegen.
4
Die Beklagte beantragt schriftsätzlich,
5
die Klage abzuweisen.
6
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird ergänzend auf den
Inhalt der Gerichtsakten und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge sowie auf die der
Kammer vorliegenden Auskünfte und Erkenntnisse, auf die der Prozessbevollmächtigte
der Kläger hingewiesen worden sind und die zum Gegenstand der mündlichen
Verhandlung gemacht worden ist, Bezug genommen.
7
Entscheidungsgründe
8
Die zulässige Klage ist begründet.
9
Der angegriffene Bescheid ist rechtswidrig und verletzt die Kläger in ihren Rechten (§
113 Abs. 1 und Abs. 5 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO).
10
Nach § 60 Abs. 1 Satz 1 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) darf ein Ausländer nicht in einen
Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner
Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten
sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Eine
Verfolgung wegen Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe kann auch dann
vorliegen, wenn die Bedrohung des Lebens, der körperlichen Unversehrtheit oder der
Freiheit allein an das Geschlecht anknüpft (§ 60 Abs. 1 Satz 3 AufenthG). Eine
Verfolgung im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG kann ausgehen von a) einem
Staat, b) Parteien oder Organisationen, die den Staat oder wesentliche Teile des
Staatgebietes beherrschen oder c) von nichtstaatlichen Akteuren, sofern die zu a) und b)
genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen
nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor der Verfolgung zu bieten, und dies
11
unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder
nicht, es sei denn, es besteht eine innerstaatliche Fluchtalternative (§ 60 Abs. 1 Satz 4
AufenthG).
Die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG sind im Wesentlichen deckungsgleich
mit denjenigen des Asylanspruchs aus Art. 16 a Abs. 1 GG, soweit es die
Verfolgungshandlung, das geschützte Rechtsgut und den politischen Charakter der
Verfolgung betrifft,
12
vgl. für die Vorgängervorschrift des § 51 Abs. 1 AuslG: Bundesverwaltungsgericht
(BVerwG), Urteil vom 18. Februar 1992 - 9 C 59.91 -, DVBl. 1992, 843 = DÖV 1992, 582
= NVwZ 1992, 892.
13
Unterschiede bestehen nur insoweit, als der Abschiebeschutz nach § 60 Abs. 1
AufenthG auch dann eingreift, wenn politische Verfolgung auf Grund des Geschlechts
oder eines asylrechtlich unbeachtlichen Nachfluchtgrundes droht oder der Asylanspruch
an der fehlenden Staatlichkeit bzw. Quasi-Staatlichkeit der Verfolgung oder an einer
früher bestehenden anderweitigen Verfolgungssicherheit scheitert,
14
vgl. für die Vorgängervorschrift des § 51 Abs. 1 AuslG: BVerwG, Urteil vom 18. Januar
1994 - 9 C 48/92 -, NVwZ 1994 S. 497.
15
Mit Blick darauf geht das Gericht auch im Rahmen des streitigen
Abschiebungsschutzbegehrens - vorbehaltlich der genannten Besonderheiten - von
denjenigen Grundsätzen aus, die für die Auslegung des Art. 16 a Abs.1 GG gelten,
16
vgl. insbesondere grundlegend: Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Beschluss vom
10. Juli 1989 - 2 BvR 502/86 u.a. -, BverfGE 80, 315 ff.; vgl. ferner zur
Deckungsgleichheit von Art. 16 a Abs. 1 GG und der Vorgängervorschrift des § 51 Abs.
1 AuslG mit dem Flüchtlingsbegriff der Genfer Konvention: BVerwG, Urteil vom 26.
Oktober 1993 - 9 C 50.92 u.a. -, NVwZ 1994, 500 (503); Urteil vom 18. Januar 1994 - 9 C
48.92 -, NVwZ 1994, 497 (498 ff.) = DVBl. 1994, 531 ff.
17
Hiernach ist eine politische Verfolgung dann anzunehmen, wenn dem Einzelnen in
Anknüpfung an asylerhebliche Merkmale - in der Regel - durch den Staat gezielt
Rechtsverletzungen zugefügt werden, die ihn ihrer Intensität nach aus der
übergreifenden Friedensordnung der staatlichen Einheit ausgrenzen. Dem liegt die von
der Achtung der Unverletzlichkeit der Menschenwürde bestimmte Überzeugung
zugrunde, dass kein Staat das Recht hat, Leib, Leben oder die persönliche Freiheit des
Einzelnen aus Gründen zu gefährden oder gar zu verletzen, die allein in dessen
politischer Überzeugung, seiner religiösen Grundentscheidung oder in Merkmalen
liegen, die für ihn unverfügbar sind und die sein Anderssein prägen (insbesondere
Rasse, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe),
18
vgl. BVerfG, Beschluss vom 10. Juli 1989 - 2 BvR 502/86 u.a. -, BVerfGE, 80, 315, 344;
BVerwG, Urteile vom 15. Mai 1990 - 9 C 17.89 -, BverwGE 85, 139, (140 f.), und vom 20.
November 1990 - 9 C 74.90 -, InfAuslR 1991, 145, (146).
19
Die Asylanerkennung setzt voraus, dass der Asylsuchende bei der Rückkehr in sein
Heimatland der Gefahr politischer Verfolgung ausgesetzt wäre, wobei auf den
Sachstand im Zeitpunkt der letzten gerichtlichen Tatsachenentscheidung abzustellen
20
ist. Ist der Asylbewerber hingegen unverfolgt ausgereist - wovon im vorliegenden Fall
auszugehen ist, nachdem die Kläger ihren Antrag nur noch auf Nachtfluchtgründe
stützen -, hat er einen Anspruch auf Schutz nur, wenn ihm aufgrund asylrechtlich
beachtlicher Nachfluchttatbestände mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit politische
Verfolgung droht (gewöhnlicher Prognosemaßstab),
vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 26. November 1986 - 2 BvR 1985/85 -, BverfGE 74, 51
und vom 10. Juli 1989 - 2 BvR 502, 1000, 961/86 -, BverfGE 80, 315; BVerwG, Urteil
vom 5. November 1991 - 9 C 118.90 -, BverwGE 89, 162 (163).
21
Dazu reicht es nicht aus, wenn eine Verfolgung nur im Bereich des Möglichen liegt;
vielmehr müssen bei zusammenfassender Bewertung des zur Prüfung gestellten
Sachverhalts die für eine landesweite politische Verfolgung bei Rückkehr sprechenden
Umstände ein größeres Gewicht als die dagegen sprechenden Tatsachen besitzen.
Entscheidend ist, ob aus der Sicht eines besonnenen und vernünftigen Menschen in der
Lage des Asylsuchenden nach Abwägung aller bekannten Umstände die Rückkehr in
den Heimatstaat als unzumutbar erscheint. Dabei ist die Schwere des befürchteten
Eingriffs in die Betrachtung einzubeziehen,
22
vgl. BVerfG, Beschluss vom 2. Juli 1980 a.a.O., BVerwG, Urteil vom 5. November 1991 -
9 C 118.90 -, BverwGE 89, 162 (169 f.).
23
Ausgehend von diesen Grundsätzen besteht der geltend gemachte
Feststellungsanspruch nach § 60 Abs. 1 AuslG, weil das Gericht die notwendige
Überzeugung gewinnen konnte, dass den Klägern zu 1. und 2. bei der Rückkehr mit
beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine asylrelevante Verfolgung droht.
24
Diese Befürchtung besteht allerdings nicht im Hinblick auf die exilpolitischen Aktivitäten
des Klägers zu 1.. Sein Engagement für die monarchistische Partei NID/OIK stellt kein
nach außen hin in exponierter Weise für eine regimefeindliche Organisation erfolgtes
Auftreten dar, das die beachtliche Gefahr politischer Verfolgung begründen kann,
25
vgl. Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen (OVG NRW), Beschlüsse
vom 21. August 1997 - 9 A 3502/97.A -, vom 17. April 1998 - 9 A 345/98.A -, vom 16.
April 1999 - 9 A 5338/98.A -, S. 10 ff. BA, vom 15. Februar 2000 - 9 A 4615/98.A -, S. 20
ff. BA, vom 29. April 2004 - 5 A 1672/04.A -; ebs. Niedersächsisches
Oberverwaltungsgericht (Nds. OVG), Urteil vom 26. Oktober 1999 - 5 L 3180/99 -, S. 14
ff. UA, Beschlüsse vom 4. April 2001 - 6 A 1064/01.A - und 29. April 2004 - 5 A
1672/04.A -.
26
Dieser Rechtsprechung folgt das erkennende Gericht, zumal auch neuere Erkenntnisse
bestätigen, dass nicht jeder Iraner, der sich im Ausland an regimekritischen Aktivitäten
monarchistischer Prägung beteiligt hat, bei einer Rückkehr in den Iran einer reellen
Gefährdung ausgesetzt ist, sondern allenfalls dauerhaft hervorstehende
Persönlichkeiten, die auch namentlich in Erscheinung treten, oder Einzelpersonen mit
Außenwirkung. Der aktuellen Auskunftslage zufolge haben die Monarchisten darüber
hinaus mittlerweile keinen Rückhalt mehr in der iranischen Gesellschaft und von ihnen
geht aus iranischer Sicht keine ernstzunehmende Gefährdung aus,
27
vgl. Deutsches Orient-Institut, Auskünfte an Verwaltungsgericht (VG) Wiesbaden vom 3.
Februar 2006, an das VG Münster vom 4. Januar 2006, an das VG Sigmaringen vom 10.
28
Oktober 2005 und an das VG Ansbach vom 5. Oktober 2005.
Eine in dem oben genannten Sinne exponierte Tätigkeit ist bei dem Kläger nicht
gegeben. Er gehört nicht dauerhaft zur Führungselite der monarchistischen Partei, seine
Position als „Repräsentant" für den Bereich B und Umgebung ist vielmehr auf ein Jahr
befristet. Auch die Teilnahme an zwei Demonstrationen, bei denen der Kläger nach den
zu den Akten gereichten Fotografien keine herausragende Rolle gespielt hat, führt als
niedrig profilierte Unterstützungshandlung zu keinem anderen Ergebnis.
29
Den Klägern droht aber bei einer Rückkehr in den Iran wegen ihrer Konversion vom
Islam zum Christentum mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit politische Verfolgung.
Zunächst ist festzustellen, dass das Gericht keinen Zweifel an der Ernsthaftigkeit des
Übertritts der Kläger zum christlichen Glauben hat. Im Hinblick auf die Frage, ob ein
iranischer Asylbewerber tatsächlich aufgrund religiöser Überzeugung den christlichen
Glauben angenommen hat, ist allerdings zu berücksichtigen, dass nach der
Auskunftslage der Glaubenswechsel häufig auch aus asyltaktischen Erwägungen
vollzogen wird,
30
vgl. Deutsches Orient-Institut, Auskunft an das VG Münster vom 27. Februar 2003;
Bundesamt (BA), Der Einzelentscheider - Brief 2005 Heft 3, S.5.
31
Solche taktischen Konvertierungen finden wohl auch bereits im Iran zur Vorbereitung
von Asylverfahren statt. Unter anderem aus diesem Grund führen evangelikale
Gemeinden im Iran Taufen von Muslimen erst durch, wenn diese mehrere Jahre in der
Gemeinde aktiv gewesen sind, und stellen keine Taufzeugnisse aus,
32
vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Themenpapier Christen und Christinnen im Iran
vom 18. Oktober 2005.
33
Auch in der katholisch-chaldäisch-assyrischen Kirche geht der Taufe eines Moslems
eine strenge Prüfung und ein drei- bis vierjähriger Unterricht voraus,
34
vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe ebd.
35
Die Kläger, die in Deutschland zum Christentum übergetreten sind, haben sich zwar
nicht in vergleichbarer Weise auf ihre Taufe vorbereitet, das Gericht hält ihren
Glaubenswechsel aber dennoch aufgrund besonderer Umstände für ernsthaft. Die
Klägerin hat immerhin zunächst über anderthalb Jahre deutschen katholischen
Gottesdiensten beigewohnt, dann am iranischen Bibelkreis und an den sonntäglichen
Gottesdiensten der Freien Kirchengemeinde B teilgenommen und sich später
vorwiegend mit Hilfe eines christlichen Fernsehsenders informiert, weil sie wegen der
Kinder und ihrer Krankheit die Bibelstunden nur selten besuchen konnte. Der Kläger hat
vor der Taufe vier bis fünf Monate an den Bibelstunden in persischer Sprache und am
deutschsprachigen Gottesdienst der oben genannten Gemeinde teilgenommen. Das
Gericht ist trotz der verhältnismäßig kurzfristigen Auseinandersetzung insbesondere des
Klägers mit dem christlichen Glauben wegen der im vorliegenden Fall besonderen
Beweggründe davon überzeugt, dass die Kläger sich ernsthaft dem Christentum
zugewandt haben. Sie haben nämlich übereinstimmend angegeben haben, dass die
Erkrankung der Klägerin an Multipler Sklerose der Anlass gewesen sei, in der
christlichen Religion Halt zu suchen. Insbesondere die Klägerin hat überzeugend
geschildert, wie sie, nachdem sie die Diagnose erhalten habe, christliche Kirchen
36
zunächst nur allgemein als Gotteshaus besucht und dort gebetet habe. Dann habe sie
eine iranische Familie katholischen Glaubens kennen gelernt, mit der sie katholische
Gottesdienste besucht habe. Schließlich habe sie zusammen mit ihrem Mann Kontakt
zur Freien Kirchengemeinde B geknüpft, wo sie durch den iranischen Bibelkreis mehr
über das Christentum erfahren habe. Im Sommer 2005 hätten sie sich dann taufen
lassen. In der mündlichen Verhandlung haben die Kläger darüber hinaus - ihrem
jeweiligen intellektuellen Zugriff entsprechend - das Gericht von einer intensiven und
ernsthaften Beschäftigung mit dem Christentum überzeugt. Dass der Kläger anfänglich
auf abstrakte Fragen des Gerichts nicht antworten konnte, steht dieser Einschätzung
nicht entgegen, weil sich im Verlauf der Anhörung zeigte, dass er die wesentlichen
christlichen Glaubensinhalte verinnerlicht hat.
Den Klägern droht bei Rückkehr in den Iran wegen ihres Wechsels zur christlichen
Religion politische Verfolgung, weil sie, wenn sie ihren christlichen Glauben im Iran
nach außen erkennbar, etwa durch eine regelmäßige Teilnahme an öffentlichen
Gottesdiensten, praktizieren, mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit staatlichen
Zwangsmaßnahmen ausgesetzt sein werden. Dabei geht das erkennende Gericht
davon aus, dass asyl- bzw. abschiebungsrelevante Eingriffe wegen der Zugehörigkeit
zu einer bestimmten Religion nicht erst dann vorliegen, wenn die Religionsausübung im
privaten Bereich bedroht ist. Solche Eingriffe sind vielmehr bereits gegeben, wenn u.a.
die Teilnahme an religiösen Riten im öffentlichen Bereich in Gemeinschaft mit Anderen
mit drohender Gefährdung von Leben oder Freiheit verbunden ist. Das ergibt sich aus
einer Auslegung von § 60 Abs. 1 AufenthaltG im Lichte von Art. 10 Abs. 1 b) der
Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 über die Mindestnormen für die
Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als
Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und
über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. EG Nr. L 304/12 vom 30.
September 2004, im folgenden Richtlinie). Dieser Bestimmung zufolge haben die
Mitgliedsstaaten bei der Prüfung der Verfolgungsgründe zu berücksichtigen, dass der
Begriff „Religion" insbesondere umfasst „die Teilnahme bzw. Nichtteilnahme an
religiösen Riten im privaten und öffentlichen Bereich, allein oder in Gemeinschaft mit
anderen, sonstige religiöse Betätigungen und Meinungsäußerungen und
Verhaltensweisen Einzelner oder der Gemeinschaft, die sich auf die religiöse
Überzeugung stützen oder nach dieser vorgeschrieben sind." Dieses Verständnis des
Begriffs „Religion" bei der Prüfung von Verfolgungsgründen kann der Auslegung von §
60 Abs. 1 AufenthG auch bereits zum Zeitpunkt der vorliegenden Entscheidung
zugrundegelegt werden. Die Richtlinie, die gemäß ihres Art. 39 am zwanzigsten Tag
nach ihrer am 30. September 2004 erfolgten Veröffentlichung im Amtsblatt der
Europäischen Union in Kraft getreten ist, muss gemäß Art. 38 Abs. 1 der Richtlinie zwar
erst bis zum 10. Oktober 2006 umgesetzt werden und ist damit ist vor Ablauf der
Umsetzungsfrist nicht direkt anwendbar,
37
vgl. OVG NRW, Urteil vom 18. Mai 2005 - 11 A 533/05.A -; Verwaltungsgerichtshof
Baden-Württemberg (VGH BW), Beschluss vom 12. Mai 2005 - A 3 S 358/05 -;
Bayerischer Verwaltungsgerichtshof (Bay.VGH), Beschluss vom 2. Mai 2005 - 14 B
02.30703 -; Sächsisches Oberverwaltungsgericht (Sächs. OVG), Urteil vom 4. Mai 2005
- A 2 B 524/04 -; Hessischer Verwaltungsgerichtshof (Hess. VGH), Beschluss vom 9.
Februar 2006 - 2 ZU 3768/04.A -.
38
Die mitgliedsstaatlichen Gerichte sind aber berechtigt, sich bereits vor Ablauf der
Umsetzungsfrist bei der Auslegung nationalen Rechts an den Bestimmungen der
39
Richtlinie zu orientieren,
vgl. Bundesgerichtshof (BGH), Urteil vom 5. Februar 1998 - I ZR 211/95 -, NJW 1998, S.
2208 (2210 ff.), ebenso grundsätzlich VGH BW, Beschluss vom 12. Mai 2005 - A 3 S
358/05 -, allerdings ohne im Ergebnis die Richtlinie zu berücksichtigen; noch weiter der
2. Senat der VGH BW in seinem Urteil vom 21. Juni 2006 - A 2 S 571/05 -, der von
einem Gebot richtlinienkonformer Auslegung ausgeht; offen gelassen durch OVG NRW,
a.a.O.
40
Der Begriff „Religion" in § 60 Abs. 1 AufenthG ist auslegungsfähig, wie die
Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zeigt, das als „Religion" im Sinne von
Art. 16a GG und entsprechend von § 60 Abs. 1 AufenthG nur das religiöse
Existenzminimum ansieht und darunter die Möglichkeit von Gebet und Gottesdienst
abseits der Öffentlichkeit in persönlicher Gemeinschaft mit anderen Gläubigen versteht,
41
vgl. BVerfG, Beschluss vom 1. Juli 1987 - 2 BvR 478, 962/86 -, BverfGE 76, 143 (158 ff.).
42
An dieser Auslegung von Religion, die das Bundesverwaltungsgericht letztmalig vor
Inkrafttreten der oben genannten Richtlinie bestätigt hat,
43
vgl. BVerwG, Urteil vom 20. Januar 2004 - 1 C 9.03 -, BverwGE 120, S. 16,
44
kann im Hinblick auf Art. 10 Abs. 1 b) der Richtlinie nicht mehr festgehalten werden, weil
diese Bestimmung ausdrücklich die Teilnahme an religiösen Riten im öffentlichen
Bereich und in Gemeinschaft mit anderen als integralen Bestandteil von Religion im
Sinne des Asylrechts bezeichnet. Das erkennende Gericht hält es im vorliegenden Fall
im Hinblick auf den unmittelbar bevorstehenden Ablauf der Umsetzungsfrist auch für
geboten, Art. 10 Abs. 1 b) der Richtlinie bereits jetzt im Rahmen einer
richtlinienkonformen Auslegung des § 60 Abs. 1 AufenthG zu berücksichtigen und
drohende Gefährdungen im Fall der Teilnahme an öffentlichen christlichen
Gottesdiensten im Iran grundsätzlich als Verfolgungsgrund anzuerkennen,
45
vgl. ebs. VG Bayreuth, Urteil vom 27. April 2006 - B 3 K 06.30073 -.
46
Von einer solchen Gefährdung ist bei einer Rückkehr der Kläger als praktizierende
Christen in den Iran nach der aktuellen Auskunftslage auszugehen. Aus den neuesten
Erkenntnissen ergibt sich nämlich, dass konvertierte Muslime seit ca. zwei Jahren keine
öffentlichen christlichen Gottesdienste besuchen können, ohne sich der Gefahr
auszusetzen, festgenommen und möglicherweise unter konstruierten Vorwürfen zu
Haftstrafen verurteilt zu werden. Zunächst ist festzustellen, dass die Hinwendung zum
christlichen Glauben und die christliche Missionstätigkeit im Iran nicht deshalb verfolgt
werden, weil die Ausübung der persönlichen Gewissensfreiheit und die rein
persönliche, geistig-religiöse Entscheidung für einen anderen Glauben bekämpft
werden soll. Bekämpft werden soll die Apostasie vielmehr, soweit sie als Angriff auf den
Bestand der Islamischen Republik Iran gewertet werden kann. Der politische
Machtanspruch der im Iran herrschenden Mullahs ist absolut. Dieser Machtanspruch ist
religiös fundiert, d.h. die iranischen Machthaber verstehen die Ausübung der politischen
Macht als gleichsam natürliche Konsequenz ihrer Religion. Deshalb ist - weil dies den
Gesetzen des Islam entspricht - religiöse Toleranz der jüdischen und christlichen
Religionsgemeinschaften solange vorgesehen, wie deren Angehörige sich dem
unbedingten religiösen und politischen Herrschaftsanspruch unterwerfen. Ein
47
Ausbreiten dieser (Buch-) Religionsgemeinschaften in das „muslimische Staatsvolk"
hinein kann demgegenüber den im Iran bestehenden Führungsanspruch der Mullahs in
Frage stellen. Letztere differenzieren nämlich nicht zwischen Politik und Religion und
übertragen diese Gleichsetzung auf andere Religionsgemeinschaften, denen sie
unterstellen, ebenfalls Politik im religiösen Gewande zu betreiben,
vgl. Deutsches Orient-Institut, Auskunft vom 6. Dezember 2004 an das Sächs. OVG;
Auskunft vom 22. November 2004 an das VG Kassel; Auskunft vom 11. Dezember 2003
an das VG Wiesbaden; Auskunft vom 20. Dezember 1996 an das VG Leipzig.
48
Während die traditionellen ethnisch geprägten christlichen Glaubensgemeinschaften,
die armenisch-orthodoxe, armenisch-evangelische, die römisch-katholische und die
assyrisch-chaldäische Kirche unbehelligt im Iran ihren Glauben praktizieren können,
stellt sich die Situation der demgegenüber auch für muslimische Konvertiten offenen
Gemeinden im Iran, zu denen die Kläger als Apostaten allein Zugang haben würden,
folgendermaßen dar: Einem Sonderbericht des Bundesamtes über die Situation
christlicher Religionsgemeinschaften im Iran von Januar 2005 zufolge soll sich die
Situation der Gemeinde „B1" nach der Ermordung von fünf Priestern zwischen 1990 und
1996 unter der Präsidentschaft Khatamis deutlich entspannt haben. Seit 2001 sei sogar
offen missioniert worden. Im Sommer 2004 wurden jedoch bei einem Treffen von
Referenten und Priestern in L1 86 Personen festgenommen und inhaftiert. 76 Personen
wurden nach kurzer Befragung am gleichen Tag entlassen, die restlichen zehn
Personen wurden über 72 Stunden zu Zusammensetzung, Kreis der Angehörigen und
Arbeitsweise der Gemeinde befragt. Unter den Inhaftierten war auch der Priester Q, der
weiter inhaftiert blieb. Seit diesem Ereignis werden keine Taufen von Muslimen
vorgenommen und ehemalige Muslime besuchen keine Gottesdienste mehr. Hinzu
kommt, dass im Mai 2004 die Familie des Pastors Z in D anlässlich eines privaten
Treffens mit zwölf Gläubigen verhaftet worden ist,
49
vgl. BA, Sonderbericht über die Situation christlicher Religionsgemeinschaften im Iran,
Januar 2005; Auswärtiges Amt (AA), Lagebericht, Juli 2005, S. 19; AA, Auskunft vom 15.
Dezember 2004 an das Sächs. OVG.
50
Die Familie ist zwar nach zehn Tagen wieder entlassen worden, der christliche
Hauskreis wurde aber aufgelöst, und Herr Z musste seine Tätigkeit als Priester
einstellen,
51
vgl. BA ebd.
52
Diese Erkenntnisse werden durch die Angaben im Themenpapier der Schweizerischen
Flüchtlingshilfe zu Christen und Christinnen im Iran vom 18. Oktober 2005 bestätigt. Aus
diesem Papier ergibt sich darüber hinaus, dass die Mitglieder evangelikaler Gemeinden
gezwungen werden, Ausweise bei sich zu tragen. Zusammenkünfte sind nur sonntags
erlaubt und teilweise werden die Anwesenden von Sicherheitskräften überprüft. Die
Kirchenführer sollen vor jeder Aufnahme von Gläubigen das Informationsministerium
und die islamische Führung benachrichtigen. Kirchenoffizielle müssen ferner
Erklärungen unterschreiben, dass ihre Kirchen weder Muslime bekehren noch diesen
Zugang in die Gottesdienste gewähren. Konvertiten müssen, sobald der Übertritt
Behörden bekannt wird, zum Informationsministerium, wo sie scharf verwarnt werden.
Durch diese Maßnahmen soll muslimischen Iranern der Zugang zu den evangelikalen
Gruppierungen versperrt werden. Sollten Konvertiten jedoch weiter in der Öffentlichkeit
53
auffallen, beispielsweise durch Besuche von Gottesdiensten, Missionsaktivitäten oder
ähnlichem, können sie mit Hilfe konstruierter Vorwürfe wie Spionage, Aktivitäten
illegaler Gruppen oder anderen Gründen vor Gericht gestellt werden. Als Beispiel
solcher staatlicher Willkür wird der Fall des bereits 1980 konvertierten Moslems P
angeführt. Er wurde, wie oben ausgeführt, anlässlich der Zusammenkunft in L1 im
Sommer 2004 verhaftet und später wegen Handlungen gegen die nationale Sicherheit
und wegen Verschleierung der Religionszugehörigkeit angeklagt. Trotz entlastender
Beweise wurde er zu drei Jahren Haft verurteilt. Verschiedene Gerichtsangestellte
äußerten im Februar 2005, dass Q Angehöriger einer Untergrundkirche sei. Der
Sprecher der iranischen Justiz gab demgegenüber im Mai 2005 an, Q werde wegen
Mitgliedschaft in politischer Gruppierung während seiner Armeezeit bestraft,
vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Themenpapier zu Christen und Christinnen im Iran,
18. Oktober 2005.
54
Dem Themenpapier zufolge werden darüber hinaus in neuerer Zeit mehrfach
protestantisch-freikirchliche Treffen aufgelöst mit der Begründung, es handle sich um
politisch illegale Gruppierungen. Konvertiten seien ferner wegen der Vermutung einer
regimekritischen Haltung in erhöhtem Maße gefährdet,
55
vgl. ebd.
56
Zu berücksichtigen ist außerdem, dass die Auskunftslage die Verfolgungssituation der
genannten protestantischen Gemeinden im Iran möglicherweise nur unvollständig
wiedergibt. Einer Auskunft von amnesty international zufolge stehen die christlichen
Gemeinden unter starkem Druck und geben keine genaue Auskunft über ihre Situation,
um jede öffentliche Aufmerksamkeit zu vermeiden,
57
vgl. ai, Auskunft an das Sächs. OVG vom 21. Juli 2004.
58
Für ein solches Informationsverhalten sprechen auch die Vorgänge, die der Ermordung
protestantischer Geistlicher 1994 vorausgegangen waren. Ende 1993 hatte nämlich der
armenisch-protestantische Bischof N2 öffentlich über intensive Verfolgungen
protestantischer Iraner und Iranerinnen berichtet. Daraufhin forderten die Behörden alle
Vertreter christlicher Glaubensgemeinschaften auf, schriftlich zu bestätigen, dass sie
keinen Repressionen ausgesetzt seien. Diese Bestätigungen wurden an
Menschenrechtsgruppierungen gesandt. Bischof N2 und andere Vertreter evangelikaler
Gruppierungen verweigerten die Bestätigung. Bischof N2 und sein Nachfolger
verschwanden und wurden wenig später tot aufgefunden,
59
vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Themenpapier zu Christen und Christinnen im Iran,
18. Oktober 2005.
60
Unabhängig davon, ob die Situation zum Christentum konvertierter Moslems tatsächlich
noch angespannter ist, als sich aus den oben genannten Sonderberichten ergibt, ist
bereits auf der Grundlage dieser Berichte beachtlich wahrscheinlich, dass die Kläger bei
einer Rückkehr in den Iran nicht regelmäßig an religiösen Riten, wie zum Beispiel
öffentlichen Gottesdiensten teilnehmen können, ohne dass ihnen Festnahme und
Inhaftierung drohen.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO und § 83b AsylVfG. Die
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Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit stützt sich auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708
Nr. 11, 711 ZPO.
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