Urteil des VG Darmstadt vom 07.02.2011

VG Darmstadt: wiederherstellung der aufschiebenden wirkung, öffentliches interesse, schutz der gläubiger, gewerbe, vorläufiger rechtsschutz, vollziehung, aufschiebende wirkung, stadt, verwaltungsakt

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Gericht:
VG Darmstadt 7.
Kammer
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
7 L 1768/10.DA
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
§ 35 Abs 2 InsO, § 35 Abs 1
GewO, § 12 GewO
Gewerbeuntersagung
Leitsatz
1. Das in § 12 GewO geregelte Anwendungsverbot greift nach Sinn und Zweck der
Vorschrift hinsichtlich der gemäß § 35 Abs. 2 InsO aus der Insolvenzmasse
freigegebenen gewerblichen Tätigkeit nicht ein.
2. Eine Gewerbeuntersagung kann in Bezug auf das freigegebene Gewerbe nicht auf
solche Tatsachen gestützt werden, die zum Insolvenzverfahren geführt haben.
Tenor
Der Antrag wird abgelehnt.
Die Kosten des Verfahrens hat der Antragsteller zu tragen.
Der Streitwert wird auf 10.000,-- € festgesetzt.
Gründe
I.
Der Antragsteller wendet sich im Wege des einstweiligen Rechtschutzes gegen die
sofort vollziehbare Untersagung seiner gewerblichen Tätigkeit.
Er ist gelernter Friseur und verfügt über eine Meisterausbildung. Seit 1996 führt er
einen Friseursalon in der Z.-Straße in A.-Stadt und firmiert unter der Bezeichnung
„A.“. Im Jahr 2000 eröffnete der Antragsteller einen weiteren Friseursalon im „Y.“
in A.-Stadt, dessen Betrieb wegen rückständiger Mietzinszahlungen zum
04.06.2009 eingestellt wurde. Bereits im Juni 2008 eröffnete der Antragsteller nach
erfolgtem Umbau im Rahmen einer Neukonzeption ein Haarstudio in der Z.-Straße
in A.-Stadt unter der Bezeichnung „X.“.
Mit Schreiben vom 07.12.2009 beantragte die Deutsche BKK als
Sozialversicherungsträgerin die Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das
Vermögen des Antragstellers. Mit Beschluss vom 15.01.2010 ordnete das
Amtsgericht A. als Insolvenzgericht gem. §§ 21, 22 InsO zur Sicherung der Masse
und zum Schutz der Gläubiger die vorläufige Verwaltung des Vermögens an. Bis zu
diesem Zeitpunkt waren Steuerrückstände beim Finanzamt A. in Höhe von
144.624,98 Euro entstanden. Des Weiteren bestanden Gewerbesteuerrückstände
bei der Stadt A. in Höhe von 2.390 Euro und rückständige Kammerbeiträge der
Handwerkskammer in Höhe von 1.908 Euro. Außerdem waren
Sozialversicherungsbeträge bei 10 verschiedenen Sozialversicherungsträgern in
Höhe von insgesamt ca. 62.000 Euro nicht abgeführt worden. Mit Beschluss vom
01.03.2010 – W. - eröffnete das Amtsgericht A. als Insolvenzgericht das
Insolvenzverfahren über das Vermögen des Antragstellers und bestellte Herrn
Rechtsanwalt V. als Insolvenzverwalter. Dieser erklärte unter Bezugnahme auf § 35
Abs. 2 InsO gegenüber dem Antragsteller, dass das Vermögen aus der
selbstständigen Tätigkeit nicht zur Insolvenzmasse gehört und Ansprüche aus
dieser Tätigkeit nicht im Insolvenzverfahren geltend gemacht werden können.
Diese Erklärung wurde vom Amtsgericht A unter dem 03.03.2010 öffentlich
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Diese Erklärung wurde vom Amtsgericht A unter dem 03.03.2010 öffentlich
bekanntgemacht.
Mit Schreiben vom 18.10.2010 regte die Deutsche BKK die Einleitung eines
gewerberechtlichen Untersagungsverfahrens an, da für den Zeitraum vom
01.03.2010 bis 30.09.2010 erneut Beitragsrückstände in Höhe von 10.756,82 Euro
entstanden seien, wobei Säumniszuschläge, Kosten und sonstige
Nebenforderungen in diesem Betrag noch nicht enthalten seien. Das Finanzamt A.
teilte auf Anfrage unter Vorlage einer Aufstellung vom 22.11.2010 mit, dass für
den Zeitraum nach Freigabe der selbstständigen Tätigkeit erneut Rückstände in
Höhe von insgesamt 3.564,10 Euro angefallen seien.
Nach vorheriger Anhörung untersagte das Regierungspräsidium Darmstadt dem
Antragsteller mit Bescheid vom 23.11.2010 unter Anordnung der sofortigen
Vollziehung die Ausübung des Gewerbes „Friseur“ und jede selbstständige
gewerbliche Tätigkeit, soweit diese unter § 35 Abs. 1 GewO falle. Die Untersagung
wurde auch auf die Tätigkeit als Vertretungsberechtigter eines Gewerbetreibenden
oder als mit der Leitung eines Gewerbebetriebs beauftragte Person bezogen. Dem
Antragsteller wurde aufgegeben, die untersagte gewerbliche Tätigkeit nach Ablauf
von zwei Wochen ab Zustellung der Verfügung einzustellen. Für die
Zuwiderhandlung wurde ihm die zwangsweise Betriebsschließung durch
Versiegelung angedroht und für diese Vollstreckungsmaßnahme vorläufig Kosten
in Höhe von 500 Euro veranschlagt. Der Bescheid wurde mit den rückständigen
Sozialversicherungsbeiträgen bei der Deutschen BKK in Höhe von insgesamt
12.272,42 Euro und den rückständigen Steuern beim Finanzamt A. in Höhe von
3.564,10 Euro begründet, die aus der zum 01.03.2010 aus dem
Insolvenzverfahren W. nach § 35 Abs. 2 freigegebenen selbstständigen Tätigkeit
entstanden waren. Weiterhin sind dem Antragsteller die öffentlich-rechtlichen
Rückstände vorgehalten worden, die in der Gesamtforderung der Gläubiger im
Insolvenzverfahren enthalten sind. Die Anordnung der sofortigen Vollziehung
wurde damit begründet, dass der bereits eingetretene Schaden so erheblich sei,
dass ein weiterer Schaden nicht mehr hingenommen werden könne, wobei mit
einer erheblichen Vergrößerung des Schadens für die Allgemeinheit zu rechnen
sei. Dieser könne auf andere Weise nicht abgewehrt werden. Die eingeräumte
Abwicklungsfrist sei ausreichend bemessen.
Gegen den am 25.11.2010 zugestellten Bescheid hat der Antragsteller am
07.12.2010 Klage erhoben und gleichzeitig den vorliegenden Antrag auf
vorläufigen Rechtsschutz gestellt.
Der Antragsteller macht geltend, die Anordnung der sofortigen Vollziehung
innerhalb einer Frist von vierzehn Tagen sei ermessensfehlerhaft und
unverhältnismäßig. Vielmehr müsse bei einer halbwegs geordneten Abwicklung
eines auch kleinen Gewerbebetriebs mindestens eine Frist von drei bis vier
Monaten als angemessen vorausgesetzt werden. Gegen die sofortige
Vollziehbarkeit spreche zudem, dass auch Umstände zur Begründung
herangezogen worden seien, die aus der Zeit vor Insolvenzeröffnung stammten.
Dies sei jedoch nach den Vorschriften der Gewerbeordnung unzulässig.
Der Antragsteller beantragt,
die aufschiebende Wirkung der am 07.12.2010 gegen den
Gewerbeuntersagungsbescheid des Antragsgegners vom 23.11.2010 erhobenen
Anfechtungsklage wieder herzustellen.
Der Antragsgegner beantragt,
den Antrag abzulehnen.
Er ist der Ansicht, der Antragsteller erweise sich in einem solchen Umfang als
unzuverlässig, dass es zum Schutz der Allgemeinheit geboten sei, diesem die
gewerbliche Tätigkeit mit sofortiger Wirkung zu untersagen. Er habe den
Gewerbebetrieb mit nicht gezahlten Steuern und Sozialversicherungsbeiträgen
unter Erfüllung der Straftatbestände der Vorenthaltung von
Sozialversicherungsbeiträgen und des Verdachts der Steuerhinterziehung in die
Insolvenz geführt, ohne selbst den erforderlichen Insolvenzantrag zu stellen.
Danach habe der Antragsteller entgegen der wirtschaftlichen Empfehlung des
Insolvenzverwalters den Gewerbebetrieb aus dem Insolvenzverfahren sich
freigeben lassen und umgehend die aus dem sogenannten „Neuerwerb“
entstehenden Pflichten im steuerlichen und Sozialversicherungsbereich erneut
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entstehenden Pflichten im steuerlichen und Sozialversicherungsbereich erneut
nicht erfüllt. Des Weiteren vertritt der Antragsgegner die Auffassung, dass die
Sperrwirkung des § 12 GewO hinsichtlich der gemäß § 35 Abs. 2 InsO
freigegebenen gewerblichen Tätigkeit nicht greift.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt
der Gerichtsakten des vorliegenden und des Klageverfahrens 7 K 1769/10.DA
sowie der beigezogenen Behördenakte verwiesen, der Gegenstand der Beratung
war.
II.
Der Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung nach § 80 Abs. 5
Satz 1 VwGO ist zulässig, aber unbegründet.
Die Anordnung der sofortigen Vollziehung der mit Bescheid vom 23.11.2010
ausgesprochenen Gewerbeuntersagung ist formell nicht zu beanstanden. Sie ist
durch den Antragsgegner gemäß § 80 Abs. 3 VwGO ausreichend begründet
worden. Die aus § 80 Abs. 3 VwGO folgende Begründungspflicht fordert eine auf
den Einzelfall abstellende Darlegung des besonderen Vollzugsinteresses. Die auf
Seite 5 des Bescheids gegebene Begründung, wonach der bereits eingetretene
Schaden so erheblich sei, dass ein weiterer – nach Sachlage zu erwartender -
Schaden nicht mehr hingenommen werden könne, genügt diesen Anforderungen.
Es wird ausreichend deutlich, auf Grund welcher Erwägungen im vorliegenden Fall
ein besonderes Vollzugsinteresse angenommen wird und erkennbar eine
Abwägung der betroffenen Belange des Antragstellers einerseits und dem Wohl
der Allgemeinheit andererseits vorgenommen.
Die Anordnung der sofortigen Vollziehung ist auch materiell rechtmäßig. Bei der im
Rahmen des § 80 Abs. 5 VwGO durch das Gericht vorzunehmenden
Interessensabwägung ist das öffentliche Vollzugsinteresse an der Einstellung und
dem Unterlassen jeglicher selbständiger gewerblicher Tätigkeit und jeglicher
Tätigkeit des Antragstellers als Vertretungsberechtigter eines Gewerbetreibenden
oder als mit der Leitung eines Gewerbebetriebs beauftragten Person höher zu
bewerten als das private Interesse des Antragstellers daran, von den
Vollzugsmaßnahmen vorübergehend verschont zu bleiben.
Vorläufiger Rechtsschutz ist dann zu gewähren, wenn das private
Aufschubinteresse das öffentliche Interesse am Vollzug des Verwaltungsakts
überwiegt. Erweist sich ein Verwaltungsakt nach summarischer Prüfung als
offensichtlich rechtswidrig, ist dem Antrag stattzugeben, da kein öffentliches
Interesse am Vollzug eines offensichtlich rechtswidrigen Verwaltungsakts besteht.
Ist dagegen ein Verwaltungsakt offensichtlich rechtmäßig und besteht ein
öffentliches Interesse an seinem sofortigen Vollzug, überwiegt grundsätzlich dieses
Vollzugsinteresse das private Aufschubinteresse. Ist ein Verwaltungsakt weder
offensichtlich rechtmäßig noch offensichtlich rechtswidrig so entscheidet das
Gericht allein auf Grund einer Interessensabwägung zwischen dem privaten
Interesse an der Aussetzung der Vollziehung und dem öffentlichen
Vollzugsinteresse.
Nach der im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes gebotenen
summarischen Prüfung der Sachlage erweist sich die vorliegende
Gewerbeuntersagung als offensichtlich rechtmäßig.
Gem. § 35 Abs. 1 GewO ist die Ausübung eines Gewerbes von der zuständigen
Behörde ganz oder teilweise zu untersagen, wenn Tatsachen vorliegen, welche die
Unzuverlässigkeit des Gewerbetreibenden in Bezug auf dieses Gewerbe dartun,
sofern die Untersagung zum Schutz der Allgemeinheit oder der im Betrieb
Beschäftigten erforderlich ist. Die Untersagung kann auch für einzelne andere oder
für alle Gewerbe und auch auf die Tätigkeit als Vertretungsberechtigter oder als
mit der Leitung eines Gewerbebetriebes beauftragten Person ausgesprochen
werden, wenn die festgestellten Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass der
Gewerbetreibende auch für diese Gewerbe bzw. Tätigkeiten unzuverlässig ist.
Abzustellen ist dabei auf die Verhältnisse im Zeitpunkt der letzten
Verwaltungsentscheidung, vorliegend mithin auf den Zeitpunkt der
Gewerbeuntersagung mit Bescheid vom 23.11.2010 (vgl. BVerwG, Urt. v. 2.2.1982
– 1 C 146/80 -, BVerwGE 65, 1; Urt. v. 19.12.1995 – 1 C 3/93 -, GewArch 1996, S.
241).
Dem Erlass der Gewerbeuntersagung steht vorliegend nicht die Sperrwirkung des §
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Dem Erlass der Gewerbeuntersagung steht vorliegend nicht die Sperrwirkung des §
12 GewO entgegen, da diese Vorschrift hinsichtlich der gemäß § 35 Abs. 2 InsO
freigegebenen gewerblichen Tätigkeit keine Anwendung findet. Nach der Regelung
des § 12 GewO finden Vorschriften, welche die Untersagung eines Gewerbes
wegen Unzuverlässigkeit des Gewerbetreibenden, die auf ungeordnete
Vermögensverhältnisse zurückzuführen ist, ermöglichen, während eines
Insolvenzverfahrens, während der Zeit, in der Sicherungsmaßnahmen nach § 21
InsO angeordnet sind und während der Überwachung der Erfüllung eines
Insolvenzplans (§ 260 InsO) keine Anwendung in Bezug auf das Gewerbe, das zur
Zeit des Antrags auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens ausgeübt wurde.
Bei § 12 GewO handelt es sich um eine materiell-rechtliche Vorschrift des
Gewerberechts. Aus der Formulierung, wonach Vorschriften, welche die
Untersagung eines Gewerbes ermöglichen, während eines Insolvenzverfahrens
„keine Anwendung finden“, ergibt sich, dass während eines bereits laufenden
Insolvenzverfahrens keine Gewerbeuntersagungsverfügung erlassen oder – bei
bereits vorher erlassener Gewerbeuntersagungsverfügung – keine Maßnahmen zur
Vollziehung einer Gewerbeuntersagungsverfügung getroffen werden dürfen. Da im
Zeitpunkt der Gewerbeuntersagung am 23.11.2010 ein Insolvenzverfahren über
das Vermögen des Antragstellers eröffnet war, hätte nach dem reinen Wortlaut
der Vorschrift die Verfügung nicht ergehen dürfen. Das in § 12 GewO geregelte
Anwendungsverbot greift aber nach Sinn und Zweck der Vorschrift hinsichtlich der
am 03.03.2010 gemäß § 35 Abs. 2 InsO aus der Insolvenzmasse freigegebenen
gewerblichen Tätigkeit nicht ein.
Durch die Erklärung des Insolvenzverwalters nach § 35 Abs. 2 InsO, dass das
Vermögen aus der selbstständigen Tätigkeit nicht zur Insolvenzmasse gehört und
Ansprüche aus dieser Tätigkeit nicht im Insolvenzverfahren geltend gemacht
werden können, wird das Insolvenzverfahren zwar nicht beendet. Es handelt sich
um eine Erklärung im Rahmen des laufenden Insolvenzverfahrens und betrifft
lediglich die haftungsmäßige Zuordnung des Neuerwerbs (so zutreffend VG Trier,
Urt. v. 14.04.2010 - 5 K 11/10.TR, zitiert nach juris). Sie hat den Zweck, den Betrieb
aus der Insolvenzmasse zu entlassen, dessen Verwertung keinen Gewinn ergibt
oder die Insolvenzmasse zusätzlich belastet. Gleichzeitig wird dem Schuldner die
Möglichkeit eingeräumt, mit dem freigegebenen Gewerbe seine wirtschaftliche
Existenz zu sichern. Die Freigabe hat mithin einerseits zur Folge, dass der erzielte
Neuerwerb abweichend von § 35 Abs. 1 InsO nicht zur Insolvenzmasse gehört. Der
Schuldner hat lediglich eine Abführungspflicht entsprechend § 295 Abs. 2 InsO, um
selbständig tätige Schuldner und abhängig Beschäftigte gleichzustellen.
Andererseits haftet die Insolvenzmasse auch nicht für die im Rahmen der
freigegebenen Tätigkeit entstandenen Neuverbindlichkeiten (vgl. BT-Drucks.
16/3227, S. 11 und 17; VG Gelsenkirchen, Beschluss vom 15.11.2010, - 7 L
1045/10 -, zitiert nach juris).
Die in der Rechtsprechung vertretene Auffassung, wonach auf den Wortlaut des §
12 GewO abzustellen ist mit der Folge, dass während eines laufenden
Insolvenzverfahrens diese Vorschrift auch bei einer Freigabe des Gewerbebetriebs
aus der Insolvenzmasse einer Gewerbeuntersagung entgegensteht (vgl. VG Trier,
Urteil vom 14. April 2010 - 5 K 11/10.TR -; VG Oldenburg, Beschluss vom 14. Juli
2008 - 12 B 1781/08 -; VG München, Urteil vom 12. Mai 2009 - M 16 K 09.923 -; zur
"unechten" Freigabeerklärung: Bayerischer VGH, Urteil vom 5. Mai 2009 - 22 BV
07.2776 -; jeweils zitiert nach juris) greift jedoch unter Berücksichtigung von Sinn
und Zweck der Sperrklausel sowie der Gefahrenabwehrfunktion einer
Gewerbeuntersagung zu kurz. Durch § 12 GewO soll sichergestellt werden, dass
keine dem Insolvenzverfahren zuwiderlaufende Entscheidung getroffen wird. Aus
diesem Grund wird die Anwendung der gewerberechtlichen
Untersagungsvorschriften für die Dauer des Insolvenzverfahrens ausgeschlossen.
Der Gesetzgeber sah den Geschäftsverkehr durch das Insolvenzverfahren als
ausreichend geschützt an (vgl. BT-Drucks. 12/3803 S. 103). Denn nach § 80 Abs. 1
InsO geht die Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis bezüglich des zur
Insolvenzmasse gehörenden Vermögens auf den Insolvenzverwalter über. Zur
Insolvenzmasse gehört gemäß § 35 Abs. 1 InsO grundsätzlich das gesamte
Vermögen des Schuldners einschließlich des während des Verfahrens erlangten.
Verfügungen des Schuldners sind gemäß § 81 InsO unwirksam. Durch die Freigabe
gemäß § 35 Abs. 2 InsO wird der Geschäftsbetrieb jedoch vollständig aus der
Insolvenzmasse ausgliedert. Der Insolvenzverwalter ist insoweit nicht mehr
verwaltungs- und verfügungsbefugt. Ein Konflikt der gewerberechtlichen
Vorschriften mit den Zielen des Insolvenzverfahrens ist im Fall der Freigabe nicht
ersichtlich. Vielmehr lebt die Verwaltungs- und Verfügungsgewalt des selbständig
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ersichtlich. Vielmehr lebt die Verwaltungs- und Verfügungsgewalt des selbständig
tätigen Schuldner hinsichtlich des freigegebenen Betriebs in vollem Umfang wieder
auf und mit ihr das Bedürfnis, gewerberechtliche Maßnahmen zum Schutz der
Allgemeinheit vor unzuverlässigen Gewerbetreibenden treffen zu können (so auch
VG Gelsenkirchen, Beschluss vom 15.11.2010, – 7 L 1045/10 –, zitiert nach juris).
Außerdem ist das Anwendungsverbot nach § 12 GewO auch nach seinem Wortlaut
nicht allumfassend und damit einer einschränkenden Auslegung zugänglich. So
greift die Regelung nur ein, wenn die gewerberechtliche Unzuverlässigkeit auf
ungeordnete Vermögensverhältnisse zurückzuführen ist. Daraus folgt, dass § 12
GewO dem Erlass einer Gewerbeuntersagung nicht entgegensteht, wenn die
Unzuverlässigkeit auf anderen Umständen, beispielsweise auf einem Verhalten,
beruht (vgl. OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 03.11.2010, - 6 A 10676/10 -, zitiert
nach juris). Des Weiteren bezieht sich der Anwendungsausschluss nur auf das
Gewerbe, das zur Zeit des Antrags auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens
ausgeübt wurde. Denn dem Schuldner sollte es nicht ermöglicht werden, trotz
mangelnder wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit weitere Gewerbebetriebe zu
eröffnen (vgl. BT-Drucks. 12/3803, S. 103). Erweist sich der Schuldner in einem
dennoch neu gegründeten Gewerbe als unzuverlässig, darf mithin die
Gewerbeuntersagung ausgesprochen werden. Bei der gemäß § 35 Abs. 2 InsO
freigegebenen gewerblichen Tätigkeit handelt es sich zwar nicht um ein neues
Gewerbe. Das im Zeitpunkt der Insolvenzeröffnung ausgeübte Gewerbe wird
lediglich fortgesetzt. Die Situation ist im Hinblick auf das Schutzbedürfnis der
Allgemeinheit jedoch vergleichbar. Es handelt sich um eine selbständige Tätigkeit
außerhalb des Insolvenzverfahren (vgl. BT-Drucks. 16/3227, S.17), auf die die den
Geschäftsverkehr schützenden Regeln der Insolvenzordnung nicht anwendbar sind.
Daraus ergibt sich ein Bedürfnis zum Erlass von Gefahrenabwehrmaßnahmen,
wenn sich der Schuldner im freigegebenen Gewerbebetrieb als unzuverlässig
erweist.
Allerdings kann eine Gewerbeuntersagung in Bezug auf das freigegebene Gewerbe
nicht auf solche Tatsachen gestützt werden, die zum Insolvenzverfahren geführt
haben. Da ein Insolvenzverfahren in der Regel Ausdruck ungeordneter
Vermögensverhältnisse ist (vgl. OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 03.11.2010, - 6 A
10676/10 -, zitiert nach juris), ließen diese Tatsachen regelmäßig den Schluss auf
eine gewerberechtliche Unzuverlässigkeit zu, so dass von daher stets eine
Gewerbeuntersagung veranlasst wäre. Dies hätte zur Folge, dass die Bestimmung
des § 35 Abs. 2 InsO letztlich in der Praxis bedeutungslos wäre, mit der der
Gesetzgeber u.a. den Schuldner zu einer selbstständigen Erwerbstätigkeit
motivieren wollte (vgl. BT-Drucks. 16/3227 S. 11; so auch VG Trier, Urteil vom
14.04.2010, - 5 K 11/10.TR -, zitiert nach juris.). Das VG Trier weist zudem
zutreffend darauf hin, dass es dem Schuldner ab Eröffnung des
Insolvenzverfahrens aus Rechtsgründen nicht mehr möglich ist, Verbindlichkeiten
zu begleichen. Dies aber verbietet es, die Unzuverlässigkeit mit einer vom
Insolvenzverfahren erfassten Nichterfüllung steuerlicher oder sonstiger öffentlich-
rechtlicher (Zahlungs-) Pflichten zu begründen.
Nach ständiger Rechtsprechung ist gewerberechtlich unzuverlässig, wer keine
Gewähr dafür bietet, dass er in Zukunft sein Gewerbe ordnungsgemäß ausüben
wird. Zum ordnungsgemäßen Betrieb eines Gewerbes gehört unter anderem, dass
der Gewerbetreibende die mit der Gewerbeausübung zusammenhängenden
steuerlichen und sonstigen öffentlich-rechtlichen Zahlungs- und
Erklärungspflichten erfüllt (vgl. BVerwG, Urt. v. 2.2.1982 - 1 C 146/80 -, BVerwGE
65, 1; Beschl. v. 22.06.1994 – 1 B 144/94 – GewArch 1995, S. 111).
Damit ist der Antragsteller als gewerberechtlich unzuverlässig anzusehen.
Steuerrückstände sind dann geeignet, einen Gewerbetreibenden als unzuverlässig
zu erweisen, wenn sie sowohl in ihrer absoluten Höhe als auch im Verhältnis zur
steuerlichen Gesamtbelastung des Gewerbetreibenden von Gewicht sind. Eine
feste Grenze, ab welcher Höhe der Steuerschuld Unzuverlässigkeit zu besorgen
ist, lässt sich nicht angeben; zumindest bei Hinzutreten weiterer Umstände kann
schon ein einmaliger Rückstand in Höhe von rund 5.000 DM (entspricht ca. 2.550
Euro) eine Gewerbeuntersagung rechtfertigen (vgl. BVerwG, Beschl. v. 28.9.1998 –
1 B 93/98 -, GewArch 1999, S. 31). Im maßgeblichen Zeitpunkt der
Gewerbeuntersagung waren für den kurzen Zeitraum nach Freigabe der
selbstständigen Tätigkeit erneut Steuerrückstände in Höhe von insgesamt
3.564,10 Euro angefallen. Allein dies rechtfertigt die Annahme der
gewerberechtlichen Unzuverlässigkeit. Noch gravierender erscheint jedoch, dass
für den Zeitraum vom 01.03.2010 bis 30.09.2010 erneut Beitragsrückstände bei
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für den Zeitraum vom 01.03.2010 bis 30.09.2010 erneut Beitragsrückstände bei
der Deutschen BKK in Höhe von 10.756,82 Euro ohne Säumniszuschläge, Kosten
und sonstige Nebenforderungen entstanden waren. Auch die Beitragsrückstände
beim gesetzlichen Sozialversicherungsträger rechtfertigen die Annahme der
Unzuverlässigkeit. Insbesondere die Nichtweiterleitung treuhänderisch
einbehaltener Arbeitnehmeranteile der Kranken- und Rentenversicherung gilt als
besonders schwerwiegender Pflichtverstoß.
Die Gewerbeuntersagung ist auch zum Schutz der Allgemeinheit erforderlich. Zum
Schutzgut des § 35 GewO gehört auch die öffentliche Hand, die ein Interesse
daran hat, die ihr zustehenden Steuergelder tatsächlich und rechtzeitig zugeführt
zu bekommen, um die ihr obliegenden öffentlichen Aufgaben im Interesse der
Allgemeinheit erfüllen zu können. Ebenso sind die gesetzlichen
Sozialversicherungsträger im Interesse ihrer Mitglieder auf die ihnen zustehenden
Beitragszahlungen angewiesen.
Da aus dem freigegebenen Gewerbebetrieb mithin erneut Beitragsrückstände bei
einem gesetzlichen Sozialversicherungsträger und Steuerrückstände in
beachtlicher Höhe angewachsen waren, liegen Tatsachen vor, die die
gewerberechtliche Unzuverlässigkeit des Antragstellers in Bezug auf die
freigegebene selbständige Tätigkeit begründen. Die gem. § 35 Abs. 1 S. 1 GewO
ausgesprochene Gewerbeuntersagung ist daher nicht zu beanstanden.
Aber auch soweit der Antragsgegner dem Antragsteller darüber hinaus jede
selbstständige gewerbliche Tätigkeit, soweit diese unter § 35 GewO fällt, sowie die
Tätigkeit als Vertretungsberechtigter eines Gewerbebetreibenden oder als mit der
Leitung eines Gewerbebetriebs beauftragte Person untersagt hat, erweist sich die
Verfügung als rechtmäßig. Die erweiterte Gewerbeuntersagung erfolgte aufgrund §
35 Abs. 1 S. 2 GewO ermessensgerecht. Die Vernachlässigung der steuerlichen
und sozialversicherungsrechtlichen Zahlungspflichten rechtfertigt die Annahme
der Unzuverlässigkeit auch in Bezug auf die weiter untersagten Betätigungen.
Es besteht im vorliegenden Fall auch ein besonderes, über das allgemeine
Interesse am Erlass der Untersagungsverfügung hinausgehendes Interesse an der
sofortigen Vollziehung, das das Aufschubinteresse des Antragstellers überwiegt.
Die Tatsache, dass der Antragsteller seinen Gewerbebetrieb mit nicht abgeführten
Steuern und Sozialversicherungsbeiträgen in die Insolvenz geführt hat und
anschließend nach Freigabe des Gewerbebetriebs in einem kurzen Zeitraum von 7
Monaten erneut Steuerrückstände und Rückstände an
Sozialversicherungsbeiträgen in beachtlicher Höhe hat entstehen lassen,
rechtfertig in hohem Maße die Prognose, dass alsbald mit weiteren
Pflichtverstößen zu rechnen ist. In Anbetracht des unmittelbar zu erwartenden
Schadens für die Allgemeinheit kann auch nach Auffassung des beschließenden
Gerichts nicht bis zu einer Entscheidung über die in der Hauptsache erhobenen
Klage abgewartet werden.
Die Anordnung der aufschiebenden Wirkung bezüglich der kraft Gesetzes sofort
vollziehbaren Betriebsschließungsandrohung kommt ebenfalls nicht in Betracht.
Sie beruht auf den im Ausgangsbescheid genannten Vorschriften des Hessischen
Verwaltungsvollstreckungsgesetzes und ist nicht zu beanstanden. Auch die
gesetzte Abwicklungsfrist von zwei Wochen ist in Anbetracht der gegebenen
Sachlage weder ermessensfehlerhaft noch unverhältnismäßig. Der Antragsteller
hat sich in einem Umfang als Unzuverlässig erwiesen, dass ein weiteres Zuwarten
zum Schutz der Allgemeinheit nicht mehr zu verantworten ist. Damit
einhergehende eventuelle Nachteile hat der Antragsteller hinnehmen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
Die Streitwertfestsetzung folgt aus § 52 Abs. 1 GKG. Die Kammer hat in Anlehnung
an Ziffer 54.2.2 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2004
(NVwZ 2004, S. 1327 ff.) für die erweiterte Gewerbeuntersagung den
Mindestbetrag von 20.000 Euro in Ansatz gebracht und diesen im Hinblick auf die
Vorläufigkeit des einstweiligen Rechtsschutzverfahrens auf die Hälfte reduziert.
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert. Darüber hinaus ist eine ergänzende Dokumentation durch
die obersten Bundesgerichte erfolgt.