Urteil des VG Darmstadt vom 11.12.2008

VG Darmstadt: aufenthaltserlaubnis, asylverfahren, ausländer, duldung, besitz, form, ermessen, vollstreckung, behörde, unterbrechung

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Gericht:
VG Darmstadt 7.
Kammer
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
7 E 1457/07
Dokumenttyp:
Urteil
Quelle:
Normen:
§ 55 Abs 3 AsylVfG 1992, §
102 Abs 2 S 2 AufenthG 2004,
§ 26 Abs 4 S 3 AufenthG 2004
(Erteilung einer Niederlassungserlaubnis - Anrechnung von
Aufenthaltszeiten eines vorangegangenen Asylverfahrens)
Leitsatz
Die Vorschrift des § 102 Abs. 2 AufenthG steht der Anrechnung von Aufenthaltszeiten
eines vorangegangenen Asylverfahrens nicht entgegen.
Zwischen dem anrechenbaren Asylverfahren und der Erteilung einer
Aufenthaltserlaubnis kann eine nicht in Form der Aufenthaltseralubnis geregelte
Zeitspanne liegen.
Tenor
Der Bescheid des Beklagten vom 23.07.2007 wird aufgehoben und der Beklagte
wird verpflichtet, über die vom Kläger am 25.03.2007 beantragte Erteilung einer
Niederlassungserlaubnis unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu
zu entscheiden. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen. Die Kosten des Verfahrens
haben der Kläger zu 1/4 und der Beklagte zu 3/4 zu tragen.
Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar.
Der jeweilige Kostenschuldner darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in
Höhe der festzusetzenden Kosten abwenden, falls nicht der jeweilige
Kostengläubiger vor der Vollstreckung Sicherheit in derselben Höhe leistet.
Tatbestand
Der Kläger begehrt die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis.
Der am 14.07.1979 geborene Kläger ist äthiopischer Staatsangehöriger. Er reiste
am 22.03.1996 in die Bundesrepublik Deutschland ein und beantragte am
03.05.1996 die Anerkennung als Asylberechtigter. Am gleichen Tag erhielt er eine
Aufenthaltsgestattung. Sein Asylantrag wurde mit Urteil des VG Frankfurt
09.07.2001, rechtskräftig seit 23.03.2005, abschlägig beschieden. In der Folgezeit
wurde der Kläger geduldet, weil eine Rückführung in sein Heimatland nicht möglich
gewesen ist.
Auf seinen Antrag vom 07.10.2005 erhielt der Kläger am 14.03.2007 gemäß § 23
Abs. 1 AufenthG eine befristete Aufenthaltserlaubnis.
Am 25.03.2007 beantragte er die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis. Diese
wurde mit Bescheid vom 23.07.2007 mit der Begründung abgelehnt, dass der
Kläger die zeitlichen Voraussetzungen einer Niederlassungserlaubnis nicht erfülle.
In der Zeit vom 11.05.2005 bis zur Erteilung der Aufenthaltserlaubnis sei eine
Unterbrechung von 22 Monaten eingetreten, die nicht nach der Vorschrift des § 85
AufenthG geheilt werden könne.
Gegen diesen Bescheid hat der Kläger mit bei Gericht am 07.09.2007
eingegangenem Schriftsatz Klage erhoben und trägt zur Begründung vor, der
Beklagte habe zu Unrecht die Befugnis zum Ermessen als nicht gegeben
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Beklagte habe zu Unrecht die Befugnis zum Ermessen als nicht gegeben
angesehen. Vorliegend gehe es nicht um die Anrechenbarkeit von Duldungszeiten,
entsprechend der Sonderregelung des § 26 Abs. 4 AufenthG seien die Zeiten des
der Erteilung der Aufenthaltserlaubnis vorangegangenen Asylverfahrens
anzurechnen. Welcher Zeitraum zwischen Abschluss des Asylverfahrens und dem
erlaubten Aufenthalt liege, sei nicht erheblich. Der Kläger habe ein Asylverfahren
durchlaufen, welches neun Jahre gedauert habe, mithin länger als die
"erforderlichen fünf Jahre".
Der Kläger beantragt,
den Bescheid vom 23.07.2007 aufzuheben und dem Kläger eine
Niederlassungserlaubnis zu erteilen.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Zur Begründung verweist der Beklagte auf seinen Bescheid vom 23.07.2007 und
führt ergänzend aus, dass einem Ausländer gemäß § 26 Abs. 4 AufenthG eine
Niederlassungserlaubnis erteilt werden könne, wenn er seit sieben Jahren eine
Aufenthaltserlaubnis nach diesem Abschnitt besitze. Dabei würden die
Aufenthaltszeiten des der Erteilung der Aufenthaltserlaubnis vorangegangenen
Asylverfahrens abweichend von § 55 Abs. 3 AsylVfG auf die Frist angerechnet. Bei
der Fristberechnung blieben Aufenthaltszeiten ohne rechtmäßigen Aufenthalt, z.B.
Zeiten einer Duldung, außer Betracht. Zeiten zwischen der Beendigung des
Asylverfahrens und der Erteilung der Aufenthaltserlaubnis seien anzurechnen,
wenn es sich um eine nach Sinn und Zweck der Aufenthaltserlaubnis gleichwertige
rechtmäßige Zeit des Aufenthalts handele, nicht dagegen Zeiten der Duldung. Im
Falle einer Aufenthaltsgestattung nach Satz 3 sei nur diejenige Aufenthaltszeit
anzurechnen, die im letzten Asylverfahren vor der Erteilung der
Aufenthaltserlaubnis vorangegangen sei, Aufenthaltszeiten von früheren, erfolglos
betriebenen Asylverfahren könnten bei der Berechnung der
aufenthaltsverfestigenden Frist nicht berücksichtigt werden. Nach § 102 Abs. 2
AufenthG werde auf die Frist für die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis nach §
26 Abs. 4 AufenthG die Zeit des Besitzes einer Aufenthaltsbefugnis oder einer
Duldung vor dem Januar 2005 angerechnet. Bei Verpflichtungsklagen müssten die
Anspruchsvoraussetzungen zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung
vorliegen und nicht zu einem fiktiven Zeitpunkt vor dem Jahre 2005.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung
einverstanden erklärt (Schriftsatz des Bevollmächtigten des Klägers vom
22.09.2008 und Erklärung des Beklagten vom 11.12.2008).
Wegen der Einzelheiten des Vorbringens der Beteiligten wird Bezug genommen auf
die zu den Akten gereichten Schriftsätze. Die Verwaltungsvorgänge des Beklagten
(2 Hefte) sind beigezogen und zum Gegenstand der Entscheidung gemacht
worden.
Entscheidungsgründe
Die Entscheidung konnte ohne mündliche Verhandlung ergehen, da sich die
Beteiligten damit einverstanden erklärt haben ( § 101 Abs. 2 VwGO).
Die Klage ist zulässig und in dem im Tenor niedergelegten Umfange auch
begründet.
Der Bescheid des Landrates des Kreises Offenbach vom 23.07.2007 ist
rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).
Dem Kläger steht ein Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung über
seinen Antrag auf Erteilung einer Niederlassungserlaubnis unter Beachtung der
Rechtsauffassung des Gerichts zu. Zu Unrecht hat der Beklagte das Vorliegen der
zeitlichen Voraussetzungen des § 26 Abs. 4 AufenthG verneint.
Rechtsgrundlage für einen diesbezüglichen Anspruch des Klägers ist § 26 Abs. 4
AufenthG. Danach kann einem Ausländer, der seit sieben Jahren eine
Aufenthaltserlaubnis nach diesem Abschnitt besitzt, eine Niederlassungserlaubnis
erteilt werden, wenn die in § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 bis 9 AufenthG bezeichneten
Voraussetzungen vorliegen. Die Aufenthaltszeit des der Erteilung der
Aufenthaltserlaubnis vorangegangenen Asylverfahrens wird abweichend von § 55
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Aufenthaltserlaubnis vorangegangenen Asylverfahrens wird abweichend von § 55
Abs. 3 AsylVfG auf die Frist angerechnet. § 55 Abs. 3 AsylVfG regelt, dass
grundsätzlich die Zeiten während eines Asylverfahrens, soweit sie für den Erwerb
oder die Ausübung eines Rechts oder einer Vergünstigung von der Dauer des
Aufenthalts im Bundesgebiet bedeutsam sind, nur angerechnet werden, wenn der
Ausländer unanfechtbar als Asylberechtigter anerkannt oder ihm unanfechtbar die
Flüchtlingseigenschaft zuerkannt worden ist. Anrechenbar ist demnach der
Zeitraum von der Stellung des Asylantrags an bis zum Eintritt der
Unanfechtbarkeit der Entscheidung des Bundesamts (Renner, AuslR, 8. Aufl. 2005,
§ 26 Rdnr. 11). Dem liegt die Überlegung zugrunde, dass der Ausländer die
Verfahrensdauer des Asylverfahrens mangels begrenzter Einflussmöglichkeiten
nicht zu vertreten hat (Burr in GK, § 26 AufenthG Rdnr. 28).
Unter Berücksichtigung seiner Aufenthaltszeit während des Asylverfahrens erfüllt
der Kläger die zeitlichen Voraussetzungen gemäß § 26 Abs. 4 Satz 1 AufenthG.
Ihm wurde erstmals am 14.03.2007 eine Aufenthaltserlaubnis nach § 23 Abs. 1
AufenthG erteilt. Bei der Beantragung der Niederlassungserlaubnis gem. § 26 Abs.
4 AufenthG am 25.03.2007 war der Kläger seit elf Tagen im Besitz einer
Aufenthaltserlaubnis nach diesem Abschnitt, wobei die Zeiten seines
Asylverfahrens von 03.05.1996 bis 23.05.2005 (über acht Jahre) gemäß § 26 Abs.
4 Satz 3 AufenthG angerechnet werden müssen, so dass die Frist von sieben
Jahren erreicht ist.
Dem Kläger kann nicht entgegen gehalten werden, dass eine Anrechnung der
Voraufenthaltszeiten nicht erfolgen könne, da er seit sieben Jahren
ununterbrochen im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis gewesen sein muss.
Zwar wird in der Rechtsprechung aus der Voraussetzung, dass der Ausländer "seit"
sieben Jahren im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis sein muss, unter
Berücksichtigung der Vorschrift des § 102 Abs. 2 AufenthG geschlussfolgert, dass
eine Anrechung von Duldungszeiten nur bei einem ununterbrochen Aufenthalt
möglich ist (VGH Baden-Württemberg, Beschl. v. 19.05.2008 - 11 S 942/08,
InfAuslR 2008, 300; Hess VGH, Beschl. v. 16.07.2007 - 11TP 1155/07- juris -; VG
Wiesbaden, Urt. v. 19.12.2007 - 4 E 1199/07- juris -). Vorliegend geht es jedoch
nicht um anrechenbare Duldungszeiten im Rahmen des § 102 Abs. 2 AufenthG,
sondern um die Anrechnung von berücksichtigungsfähigen Zeiten i.S. des § 26
Abs. 4 Satz 3 AufenthG, die hier den elf Tagen des Besitzes einer
Aufenthaltserlaubnis hinzugerechnet werden müssen.
Soweit in der Rechtssprechung die Auffassung (VGH Baden-Württemberg, Beschl.
v. 19.05.2008 - 11 S 942/08, a.a.O; Hess VGH, Beschl. v. 16.07.2007 - 11TP
1155/07, a.a.O. ; VG Wiesbaden, Urt. v. 19.12.2007 - 4 E 1199/07, a.a.O.) vertreten
wird, dass unter Berücksichtigung der Vorschrift des § 102 Abs. 2 AufenthG eine
Anrechnung von Duldungszeiten nur bei einem ununterbrochen Aufenthalt möglich
ist, ist zu berücksichtigen, dass diese Vorschrift als Übergangvorschrift konzipiert
ist und im Hinblick auf die veränderte Regelung entstehende Härten für eine
Übergangszeit ausgleichen wollte (OVG Nordrhein-Westfalen, Beschl. v.
04.09.2008 - 18 E 428/08 - juris -; VGH Baden-Württemberg, Beschl. v. 19.05.2008
- 11 S 942/08, a.a.O.; VG Wiesbaden, Urt. v. 19.12.2007 - 4 E 1199/07, a.a.O.) .
Denn gemäß § 102 Abs. 2 AufenthG wird auf die Frist des § 26 Abs. 4 AufenthG die
Zeit des Besitzes einer Duldung vor dem 1. Januar 2005 angerechnet.
Duldungszeiten bis zum 01. Januar 2005 sollen danach nur dann angerechnet
werden, wenn sich ihnen nahtlos eine Aufenthaltserlaubnis angeschlossen hat oder
wenn eine Aufenthaltserlaubnis nach dem 1. Januar 2005 nach nur unbedeutender
Unterbrechung von weniger als einem Jahr, also noch im Jahr 2006, erteilt wurde.
Die Vorschrift des § 102 Abs. 2 AufenthG ist deshalb nur für eine Übergangszeit
von weniger als einem Jahr ab dem 01. Januar 2005 von Bedeutung (VG
Wiesbaden, Urt. v. 19.12.2007 - 4 E 1199/07, a.a.O.). Diese Auslegung ist nach
Sinn und Zweck der gesetzlichen Regelung auch gerechtfertigt. Mit ihr soll nämlich
sichergestellt werden, dass diejenigen Ausländer, die durch die Neuregelungen des
Aufenthaltsgesetzes erstmals einen Anspruch auf Aufenthaltserlaubnis erlangten,
während sie bei unverändertem Sachverhalt zuvor nach den Regelungen des
Ausländergesetzes lediglich geduldet werden durften, diesen einheitlich zu
beurteilenden zusammenhängenden Zeitraum bei der Berechnung der 7-Jahres-
Frist angerechnet bekommen. Dieser Rechtsgedanke ist aber für die Vorschrift des
§ 26 Abs. 4 Satz 3 AufenthG nicht übertragbar. Für die im Rahmen des § 26 Abs. 4
Satz 3 AufenthG vorzunehmende Berechnung der Asylverfahrenszeiten findet sich
gerade keine Regelung, aus der ein Ausschluss der Anrechnung von
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gerade keine Regelung, aus der ein Ausschluss der Anrechnung von
Voraufenthaltszeiten abgeleitet werden könnte.
Dem Erreichen der zeitlichen Voraussetzungen steht auch nicht entgegen, dass
der Kläger zwischen dem Asylverfahren und der Erteilung einer
Aufenthaltserlaubnis nach diesem Abschnitt lediglich im Besitz einer Duldung war.
Da das Asylverfahren der Erteilung der Aufenthaltserlaubnis vorangegangen sein
muss, lässt der Wortlaut die Auslegung zu, dass zwischen dem anrechenbaren
Asylverfahren und der Erteilung der Aufenthaltserlaubnis eine nicht in Form der
Aufenthaltserlaubnis geregelte Zeitspanne liegen kann. Der Wortlaut verlangt nicht
eine unmittelbare zeitliche Aufeinanderfolge des Asylverfahrens und der Erteilung
der Aufenthaltserlaubnis (so auch für den wortgleichen § 35 AuslG: VGH Baden-
Württemberg, Urt. v. 13.10.1995 - 13 S 628/95 - InfAuslR 1996, 205).
Auch der Sinn und Zweck der Regelung gebietet keinen unmittelbaren Anschluss
der Erteilung eines Titels an das anzurechnende Asylverfahren. Der Zweck des §
26 Abs. 4 AufenthG besteht darin, nach langjährigem legalem Aufenthalt die
Möglichkeit einer Aufenthaltsverfestigung zu eröffnen (s.a. HessVGH, Beschl. v.
16.07.2007 - 11 TP 1155/07 - juris -; für den wortgleichen § 35 Abs. 1 AuslG: BT-
Drucks. 11/6321 [68]) und berücksichtigt, dass der Ausländer die Verfahrensdauer
des Asylverfahrens mangels begrenztem Einfluss nicht zu vertreten hat (Burr in
GK, § 26 AufenthG Rdnr. 28). Dieser Zweck entfällt nicht dadurch, dass die
Erteilung der Aufenthaltserlaubnis sich nicht unmittelbar an das Asylverfahren
anschließt.
Dem Klagebegehren konnte jedoch nicht in vollem Umfange entsprochen werden,
da der Behörde bei der Erteilung einer Niederlassungserlaubnis gemäß § 26 Abs. 4
AufenthG ein Ermessen zusteht. Die Behörde wird daher gemäß § 113 Abs. 5 Satz
2 VwGO gehalten sein, unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut
über die beantragte Niederlassungserlaubnis zu entscheiden.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 155 Abs.1 VwGO. Die Beteiligten haben die
Kosten des Verfahrens entsprechend ihrem Unterliegen zu tragen. Der Ausspruch
über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i. V. m. §§ 708 Nr. 11,
711 ZPO.
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert. Darüber hinaus ist eine ergänzende Dokumentation durch
die obersten Bundesgerichte erfolgt.