Urteil des VG Darmstadt vom 08.02.2010

VG Darmstadt: aufschiebende wirkung, aufnahme einer erwerbstätigkeit, aufenthaltserlaubnis, anfechtungsklage, eugh, ermessen, duldung, ausländerrecht, erlöschen, einreise

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Gericht:
VG Darmstadt 5.
Kammer
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
5 L 1833/09.DA (3)
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
§ 84 Abs 2 S 1 AufenthG 2004,
§ 81 Abs 4 AufenthG 2004, Art
13 EWGAssRBes 1/80, § 81
Abs 5 AufenthG 2004, § 60a
Abs 2 AufenthG 2004
Fiktionsbescheinigung für türkischen
assoziationsberechtigten Arbeitnehmer nach erfolgreichem
Eilantrag gegen die Versagung der Verlängerung seiner
Aufenthaltserlaubnis
Leitsatz
1. Hat der Eilantrag eines türkischen Arbeitnehmers gegen die Versagung der Ver-
längerung seiner Aufenthaltserlaubnis Erfolg und ordnet das Verwaltungsgericht die
aufschiebende Wirkung seiner Klage an, hat die Ausländerbehörde dem türki-schen
Arbeitnehmer eine Fiktionsbescheinigung nach § 81 Abs. 4 und 5 AufenthG und nicht
nur eine Duldung nach § 60 a Abs. 2 AufenthG auszustellen.
2. § 84 Abs. 2 Satz 1 AufenthG ist mit Art. 13 ARB 1/80 unvereinbar und auf türkische
Arbeitnehmer nicht anwendbar.
Tenor
1. Das Verfahren wird eingestellt.
2. Die Kosten des Verfahrens hat der Antragsgegner zu tragen.
3. Der Streitwert wird auf 2.500,00 EUR festgesetzt.
Gründe
Nachdem die Beteiligten den Rechtsstreit in der Hauptsache übereinstimmend für
erledigt erklärt haben, ist das Verfahren in entsprechender Anwendung des § 92
Abs. 3 Satz 1 VwGO einzustellen und gemäß § 161 Abs. 2 VwGO nach billigem
Ermessen über die Kosten des Verfahrens zu entscheiden. Billigem Ermessen
unter Berücksichtigung des bisherigen Sach- und Streitstandes entspricht es, die
Kosten dem Antragsgegner aufzuerlegen, weil er bei Fortsetzung des Verfahrens
voraussichtlich unterlegen wäre. Der Antragsgegner ist verpflichtet, dem
Antragsteller nach Anordnung der aufschiebenden Wirkung seiner Klage
(Aktenzeichen: 5 L 436/09.DA [3]) eine Fiktionsbescheinigung nach § 81 Abs. 5
AufenthG mit dem Inhalt der Regelung des § 81 Abs. 4 AufenthG auszustellen.
Allerdings folgt diese Verpflichtung nicht schon aus dem vom Antragsteller
zitierten Beschluss des Bay. VGH v. 18.09.2009 – 19 CE 09.2038 -. Der Bayerische
Verwaltungsgerichtshof vertritt die Auffassung, die allgemeinen Grundsätze der
Vollziehbarkeitstheorie vermögen nichts daran zu ändern, dass aus dem Ende der
Fiktionswirkung für den Ausländer keine nachteiligen Schlüsse gezogen werden
dürften, wenn das Gericht die aufschiebende Wirkung seines Rechtsbehelfs
anordne. Er sei in diesem Falle nicht anders zu behandeln, wie wenn die
Fiktionswirkung noch fortbestünde.
Dieser Auffassung kann so generell nicht gefolgt werden. Sie ist unvereinbar mit §
84 Abs. 2 Satz 1 AufenthG, wonach Widerspruch und Anfechtungsklage die
Wirksamkeit eines aufenthaltsbeendenden Verwaltungsaktes unberührt lassen.
Diesem Verständnis folgend erlischt das bisherige Recht mit der Entscheidung der
Ausländerbehörde endgültig; es lebt nicht wieder auf, wenn die aufschiebende
Wirkung der Klage durch das Gericht angeordnet worden ist (so schon zu § 72 Abs.
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Wirkung der Klage durch das Gericht angeordnet worden ist (so schon zu § 72 Abs.
2 Satz 1 AuslG ausdrücklich BVerwG, Urt. v. 01.02.2000 – 1 C 14.99 –, NVwZ-RR
2000, 540 und Urt. v. 22.01.2002 – 1 C 6.01 –, NVwZ 2002, 867 [869]). Nach der
Vollziehbarkeitstheorie erlöschen bisherige Rechte; was bleibt, ist allein das
Verbot, vollstreckungsfähige Teile der Verfügung (z. B. die Verlassenspflicht nach §
50 Abs. 1 AufenthG) zu vollstrecken. Der erfolgreiche Eilantragsteller hat daher für
die Übergangszeit bis zur Klärung seines Aufenthaltsrechts im Klageverfahren kein
Aufenthaltsrecht mehr und muss sich mit einer Bescheinigung über die
Aussetzung seiner Abschiebung (= Duldung) nach § 60 a Abs. 2 AufenthG
begnügen (vgl. hierzu sehr kritisch Hofmann in Hofmann/Hoffmann,
Ausländerrecht, 2008, § 84 Rdnr. 22).
Hat der bisherige Aufenthaltstitel die Erwerbstätigkeit gestattet, greift allerdings
eine partielle Fortbestehensfiktion ein (§ 84 Abs. 2 Satz 2 AufenthG). Diese
Regelung, die am 01.01.2005 neu in das Aufenthaltsrecht aufgenommen worden
ist, berücksichtigt, dass dem erwerbstätigen Ausländer die bloße
Nichtvollziehbarkeit der aufenthaltsbeendenden Maßnahme nicht genügt; er
benötigt nämlich, um weiter arbeiten zu können, eine gültige
arbeitserlaubnisrechtliche Bewilligung, also das mit der Entscheidung der
Ausländerbehörde gerade entfallene Recht, eine Erwerbstätigkeit aufzunehmen. §
84 Abs. 2 Satz 2 AufenthG trägt dem Manko der Vollziehbarkeitstheorie Rechnung
und räumt über die Nichtvollziehbarkeit der angefochtenen Maßnahme hinaus
dem erwerbstätigen Ausländer das partielle Recht auf Aufnahme einer
Erwerbstätigkeit im bisherigen Umfang ein. Ein Aufenthaltsrecht wird jedoch
ausdrücklich nicht gewährt (vgl. den Wortlaut: „Für Zwecke der Aufnahme oder
Ausübung einer Erwerbstätigkeit ...“). Erst nach Aufhebung der Maßnahme durch
die Behörde oder das Gericht wird der bisherige rechtswidrige Aufenthalt
rückwirkend rechtmäßig. Denn eine Unterbrechung der Rechtmäßigkeit des
Aufenthaltes tritt dann nicht ein (§ 84 Abs. 2 Satz 3 AufenthG).
Ob die vom Gesetzgeber eingeführte Regelung des § 84 Abs. 2 Satz 1 AufenthG,
die schon in § 72 Abs. 2 Satz 1 AuslG einen wortgleichen Vorgänger hatte,
verfassungsgemäß ist (vgl. hierzu die gewichtigen Bedenken von Hofmann in
Hofmann/Hoffmann, Ausländerrecht, 2008, § 84 Rdnr. 28), bedarf vorliegend
keiner Entscheidung, denn dem Antragsteller ist aus einem anderen Grunde Recht
zu geben:
Als türkischer Arbeitnehmer hat der Antragsteller gemäß Art. 13 Beschluss Nr.
1/80 des Assoziationsrates EWG-Türkei über die Entwicklung der Assoziation
(ANBA 1981, 4) – im Folgenden kurz: ARB – in der Auslegung, die der Beschluss
durch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) erfahren hat
(vgl. insbes. Urt. v. 16.12.1992 – Rs. C-237/91 [Kus] –, NVwZ 1993, 258 ff.),
Anspruch, von neuen Beschränkungen für den Zugang zum Arbeitsmarkt
verschont zu werden. Maßgeblicher Bezugszeitpunkt ist der 01.12.1980 (Art. 16
Abs. 1 ARB). Am 01.12.1980 galt noch das Ausländergesetz vom 28.04.1965
(BGBl. I S. 353) – im Folgenden: AuslG 1965 –, das vergleichbare Regelungen wie §
84 Abs. 2 Satz 1 AufenthG und § 72 Abs. 2 Satz 1 AuslG nicht kannte. § 21 Abs. 3
AuslG 1965 bestimmte lediglich:
„Beantragt ein Ausländer nach der Einreise die Aufenthaltserlaubnis, so gilt sein
Aufenthalt bis zur Entscheidung der Ausländerbehörde vorläufig als erlaubt.
Widerspruch und Anfechtungsklage haben keine aufschiebende Wirkung. Das
gleiche gilt, wenn der Ausländer die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis
beantragt.“
Hieraus hat das BVerwG geschlossen, die Anordnung der aufschiebenden Wirkung
verlange, den Ausländer während der Geltung dieser Anordnung so zu behandeln,
als sei der ablehnende Bescheid nicht ergangen. Sein Aufenthalt sei daher
weiterhin entsprechend § 21 Abs. 3 Satz 1 AuslG 1965, der auch für die Fälle der
Versagung der Verlängerung einer Aufenthaltserlaubnis gelte (§ 21 Abs. 3 Satz 3
AuslG 1965), vorläufig als erlaubt anzusehen (BVerwG, Beschl. v. 14.07.1978 – 1
ER 301/78 –, NJW 1979, 505).
Demgemäß verpflichtet Art. 13 ARB, einen türkischen Arbeitnehmer im Falle des
Erfolgs seines Eilantrags nicht ungünstiger zu stellen als unter der Geltung des
AuslG 1965. Infolgedessen bleibt sein Aufenthalt nach Anordnung der
aufschiebenden Wirkung der Klage weiterhin vorläufig erlaubt und damit
rechtmäßig. Da dies für die arbeitserlaubnisrechtliche Seite durch § 84 Abs. 2 Satz
2 AufenthG ohnehin gesetzlich angeordnet ist, hat ein türkischer Arbeitnehmer im
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2 AufenthG ohnehin gesetzlich angeordnet ist, hat ein türkischer Arbeitnehmer im
Falle der Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis nach erfolgreichem Eilantrag
insgesamt einen Anspruch auf eine Fiktionsbescheinigung nach § 81 Abs. 5
AufenthG mit dem Inhalt von § 81 Abs. 4 AufenthG.
§ 84 Abs. 2 Satz 1 AufenthG ist in Bezug auf türkische Arbeitnehmer mit Art. 13
ARB unvereinbar. Nach der Rechtsprechung des EuGH sind nationale
Rechtsvorschriften, die europäischem Recht widersprechen, außer Anwendung zu
lassen.
Die Festsetzung des Streitwertes folgt aus §§ 52, 53 Abs. 3, 63 Abs. 2 GKG, wobei
das Gericht wegen der Vorläufigkeit der Entscheidung von der Hälfte des
Auffangstreitwertes ausgeht.
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert. Darüber hinaus ist eine ergänzende Dokumentation durch
die obersten Bundesgerichte erfolgt.