Urteil des VG Darmstadt vom 21.09.2010
VG Darmstadt: aufschiebende wirkung, besondere härte, öffentliches interesse, einberufung, interessenabwägung, aussetzung, berufsausbildung, vorrang, drucksache, behörde
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Gericht:
VG Darmstadt 1.
Kammer
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
1 L 1146/10.DA
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
§ 80 Abs 5 VwGO, § 12 Abs 4 S
2 Nr 3 Buchst c WehrPflG
(Aussetzung der Vollziehung einer Einberufung zum
Grundwehrdienst bei dualem Studiengang, wenn
Ausbildung sich durch Antritt zum Grundwehrdienst um ein
Jahr verzögert)
Leitsatz
1. Es bleibt offen, ob ein dualer Bildungsgang im Sinne des § 12 Abs. 4 Satz 2 Nr. 3 c)
WPflG nur dann vorliegt, wenn neben einem Hochschulabschluss durch die betriebliche
Ausbildung ein eigenständiger Abschluss erreicht wird.
2. Ist der Ausgang des den Einberufungsbescheid betreffenden Hauptsacheverfahrens
offen, muss bei der im Rahmen des § 80 Abs. 5 VwGO gebotenen Interessenabwägung
dem Umstand, dass in absehbarer Zeit die Wehrpflicht ausgesetzt wird, besondere
Bedeutung beigemessen werden.
3. Diese Interessenabwägung kann ausnahmsweise zu einem Vorrang der Interessen
des Wehrpflichtigen führen, wenn dieser infolge der Ableistung des Grundwehrdienstes
eine Verzögerung seiner Ausbildung um zumindest ein Jahr hinzunehmen hätte.
Tenor
Die aufschiebende Wirkung der Klage des Antragstellers vom 24.08.2010 gegen
den Einberufungsbescheid des Kreiswehrersatzamtes Y. vom 13.07.2010 in der
Fassung des Widerspruchsbescheides der Wehrbereichsverwaltung West vom
17.08.2010 wird angeordnet.
Die Kosten des Verfahrens hat die Antragsgegnerin zu tragen.
Der Streitwert wird auf 2.500,00 EUR festgesetzt.
Gründe
I.
Der am Z. geborene Antragsteller war mit Musterungsbescheid des
Kreiswehrersatzamtes Y. vom 16.10.2009 als „wehrdienstfähig, und zwar
verwendungsfähig mit Einschränkung für bestimmte Tätigkeiten“, gemustert
worden. Der hiergegen erhobene Widerspruch war mit Widerspruchsbescheid der
Wehrbereichsverwaltung West vom 07.01.2010 zurückgewiesen worden. Diese
Entscheidung wurde bestandskräftig.
Unter dem 01.07.2010 übersandte der Antragsteller dem Kreiswehrersatzamt Y.
Kopie seines Abiturzeugnisses sowie eines Ausbildungsvertrages mit der Firma X..
Hierbei handelt es sich um einen so genannten Studien- und Ausbildungsvertrag –
Studienbereich Technik -, wonach der Antragsteller an der Dualen Hochschule
Baden-Württemberg ein Studium in der Studienrichtung Elektrotechnik absolviert,
welches verbunden ist mit einer praxisorientierten Ausbildung bei der X. AG –
Schaltanlage Frankfurt –. Das Vertragsverhältnis beginnt am 01.10.2010 und
endet am 30.09.2013. Wegen weiterer Einzelheiten dieses Vertrages wird auf Blatt
30 bis 32 der vorgelegten Behördenakte verwiesen.
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Das Kreiswehrersatzamt Y. wertete dieses Vorbringen des Antragstellers als
Zurückstellungsantrag, den es mit Bescheid vom 06.07.2010 ablehnte. In der
Begründung wurde ausgeführt, eine Zurückstellung für ein duales Studium sei nur
möglich, wenn neben dem Hochschulabschluss zusätzlich eine selbständige
berufliche Qualifikation erworben werde, was hier jedoch nicht der Fall sei. Folglich
komme eine Zurückstellung nur in Betracht, wenn zum vorgesehenen
Diensteintritt das dritte Semester eines Hochschul- oder Fachhochschulstudiums
erreicht sei.
Hiergegen erhob der Antragsteller mit Schreiben vom 09.07.2010 – Eingang bei
der Behörde am 16.07.2010 – Widerspruch.
Mit Einberufungsbescheid des Kreiswehrersatzamtes Y. vom 13.07.2010 wurde der
Antragsteller zur Ableistung eines 9-monatigen Grundwehrdienstes ab dem
01.10.2010 einberufen.
Hiergegen erhob der Antragsteller am 22.07.2010 Widerspruch.
Mit Widerspruchsbescheid vom 17.08.2010 wies die Wehrbereichsverwaltung West
sowohl den Widerspruch gegen den Bescheid vom 06.07.2010 – Ablehnung des
Zurückstellungsbegehrens – als auch den Widerspruch gegen den
Einberufungsbescheid zurück. Wegen weiterer Einzelheiten dieser Entscheidung
wird auf Blatt 71 bis 74 der Behördenakte verwiesen.
Am 24.08.2010 hat der Antragsteller über seinen Bevollmächtigten Klage erhoben
(1 K 1147/10.DA) und zugleich um die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes
nachgesucht.
Zur Begründung wird im Wesentlichen vorgetragen, der vom Antragsteller am
01.08.2010 mit einem Vorpraktikum begonnene duale Studiengang gebiete die
Zurückstellung vom Wehrdienst. Die Auffassung der Antragsgegnerin, ein dualer
Bildungsgang in dem hier maßgeblichen Sinne liege nur dann vor, wenn neben
dem Studium auch eine betriebliche Berufsausbildung mit einem entsprechenden
Abschluss stattfinde, sei dem Gesetz nicht zu entnehmen. Insoweit sei auf den
entsprechenden Gesetzentwurf der Bundesregierung nebst Begründung zu
verweisen, wonach kein neuer Zurückstellungsgrund habe geschaffen werden
sollen, sondern lediglich eine Anpassung der vorhandenen Regelung an die Inhalte
der geänderten Studiengänge beabsichtigt gewesen sei. Auch der weitere Verlauf
des Gesetzgebungsverfahrens bestätige diese Auffassung; insbesondere sei
ausdrücklich betont worden, die in das Studium integrierte Berufsausbildung sei im
Hinblick auf die Zurückstellung ohne Bedeutung. Die Auslegungspraxis der
Behörde stimme daher mit dem Willen des Gesetzgebers nicht überein.
Bei diesen Gegebenheiten sei das Interesse des Antragstellers, vorläufig vom
Vollzug des Einberufungsbescheides verschont zu bleiben, höher zu gewichten als
das bei Einberufungsverfahren üblicherweise überwiegende öffentliche Interesse.
Dies gelte insbesondere deshalb, weil ansonsten dem Antragsteller nicht
reversible Nachteile drohten, denn der hier in Rede stehende Ausbildungsgang
werde nur bei einem entsprechenden Bedarf ausgeschrieben. Zumindest müsse
mit einem Zeitverlust von einem Jahr gerechnet werden.
Unzutreffend sei die Argumentation der Antragsgegnerin, die Ausbildung des
Antragstellers habe bereits zum 01.06.2010 begonnen, so dass schon von daher
eine Zurückstellung ausscheide, da das Studium nicht spätestens drei Monate
nach Beginn der betrieblichen Ausbildung aufgenommen werde, denn aus den
vorgelegten Unterlagen ergebe sich unzweifelhaft, dass die Ausbildung zum
01.08.2010 aufgenommen worden sei.
Der Antragsteller beantragt,
die aufschiebende Wirkung der Klage gegen den Einberufungsbescheid des
Kreiswehrersatzamtes Y. vom 13.07.2010 in der Fassung des
Widerspruchsbescheides der Wehrbereichsverwaltung West vom 17.08.2010
anzuordnen.
Die Antragsgegnerin beantragt,
den Antrag abzulehnen.
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Zur Begründung verweist sie auf ihre Ausführungen im Verwaltungsverfahren,
insbesondere auf den Inhalt des Widerspruchsbescheides, sowie einschlägige
verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung, die ihre Auffassung stütze.
Hinsichtlich weiterer Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt
der Gerichtsakte sowie denjenigen der Akte des Verfahrens 1 K 1147/10.DA
verwiesen. Dem Gericht liegt ein Hefter Behördenvorgänge vor, der ebenfalls zum
Gegenstand der Beratung gemacht worden ist.
II.
Der Antrag, der in Ansehung der Regelung des § 35 Satz 1 WPflG statthaft ist und
gegen dessen Zulässigkeit auch ansonsten Bedenken nicht bestehen, ist
begründet.
Vorläufigen Rechtsschutz gewährt die Kammer in Fällen der vorliegenden Art
regelmäßig dann, wenn sich der angefochtene Einberufungsbescheid als
offensichtlich rechtswidrig erweist, denn am sofortigen Vollzug eines fehlerhaften
Verwaltungsaktes besteht kein vorrangig zu beachtendes öffentliches Interesse.
Ergibt die im Eilverfahren alleine mögliche summarische Betrachtungsweise weder
die offensichtliche Rechtmäßigkeit noch die offensichtliche Rechtswidrigkeit des
Einberufungsbescheides, ist also der Ausgang des Hauptsacheverfahrens als offen
zu bezeichnen, hängt die Entscheidung über das Eilrechtsgesuch von einer
Abwägung der einander widerstreitenden Interessen unter Berücksichtigung der
gesetzgeberischen Grundentscheidung (§ 35 Satz 1 WPflG) sowie der
maßgeblichen Wertentscheidungen des Grundgesetzes ab.
Nach Auffassung der Kammer ist, was die Auslegung des § 12 Abs. 4 Satz 2 Nr. 3
c) WPflG anbelangt, von einem offenen Verfahrensausgang auszugehen.
Ausgangspunkt der rechtlichen Würdigung ist zunächst das Urteil des
Bundesverwaltungsgerichts vom 24.10.2007 (6 C 9/07 –, zitiert nach juris). In
jenem Fall war zu entscheiden, ob dem Kläger, der im Rahmen der dualen
Ingenieurausbildung ein Studium an der Fachhochschule absolvierte und parallel
hierzu in Abstimmung mit der Industrie- und Handelskammer bei der X. AG zum
Mechatroniker mit abschließender Facharbeiterprüfung ausgebildet wurde, ein
Anspruch auf Zurückstellung bereits mit dem Beginn der Berufsausbildung gemäß
§ 12 Abs. 4 Satz 2 Nr. 3 c) WPflG a.F. zusteht, oder ob eine Zurückstellung nur
nach Maßgabe des § 12 Abs. 4 Satz 2 Nr. 3 b) WPflG a.F. (Erreichen des 3.
Semesters eines Hochschul- oder Fachhochschulstudiums) in Betracht kommt.
Das Bundesverwaltungsgericht vertrat die Auffassung, die Zurückstellung wegen
einer Ausbildung im dualen Studiengang richte sich nach den Anforderungen an
Studierende in § 12 Abs. 4 Satz 2 Nr. 3 b) Alt. 1 WPflG. Insbesondere Sinn und
Zweck der Regelung des
§ 12 Abs. 4 Satz 2 Nr. 3 b) Alt. 1 WPflG führten zu der Annahme, der duale
Studiengang sei diesem Zurückstellungstatbestand zuzuordnen; aber auch
Erwägungen zur Wehrgerechtigkeit bestätigten diese Auslegung.
In Konsequenz dieser Entscheidung erhielt § 12 Abs. 4 Satz 2 WPflG durch das
Wehrrechtsänderungsgesetz 2008 – soweit hier von Interesse – mit Wirkung vom
09.08.2008 (BGBl. I S. 1886) folgende Fassung:
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In dieser Form gilt die Vorschrift auch derzeit (vgl. BGBl. I 2009 S. 1229); auch
durch das Wehrrechtsänderungsgesetz 2010, das am 01.12.2010 in Kraft tritt
(BGBl. I S. 1052) ergibt sich keine Änderung.
Bezüglich der Auslegung dieser Vorschrift mit Blick auf den Willen des
Gesetzgebers ergibt sich Folgendes:
In dem Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Änderung wehrrechtlicher und
anderer Vorschriften (BT-Drucksache 16/7955) war zunächst vorgesehen, § 12
Abs. 4 Satz 2 Nr. 3 b) WPflG wie folgt zu fassen:
In der Begründung hierzu (BT-Drucksache 16/7955 S. 25; siehe auch S. 27) führte
die Bundesregierung aus, angesichts dessen, dass ein Studium zunehmend mit
einer studienbegleitenden praktischen Ausbildung verbunden sei, sei in § 12 Abs. 4
Satz 2 eine Klarstellung dahingehend erforderlich, dass sich auch bei dualen
Ausbildungen die Entscheidung über die beantragte Zurückstellung ausschließlich
danach richte, ob ein Studium an einer Fachhoch- oder Hochschule aufgenommen
wurde. Die in das Studium integrierte Berufsausbildung könne für die Entscheidung
über die Zurückstellung wehrpflichtrechtlich keine Bedeutung haben.
Gegen eine derartige Regelung sprach sich der Bundesrat (BT-Drucksache
16/7955 S. 46, 47) aus. Die angestrebte Gleichbehandlung von Studierenden im
dualen Studium (dualer Bildungsgang) mit „normalen“ Studierenden sei nicht
vertretbar. Jene müssten vielmehr wie andere Auszubildende behandelt werden.
Bei den dualen Studiengängen handele es sich um sehr komprimierte,
anspruchsvolle Ausbildungen, die besonders leistungsfähige Personen
ansprächen…Gerade die enge Vernetzung von Studium und Ausbildung
rechtfertige es, diese Studierenden wie andere Auszubildende zu behandeln, so
dass sie ihre Ausbildung insgesamt nicht unterbrechen müssten.
Die Bundesregierung wies in ihrer Gegenäußerung (BT-Drucksache 16/7955)
darauf hin, der Vorschlag des Bundesrates, duale Bildungsgänge
wehrpflichtrechtlich den rein beruflichen Ausbildungen gleichzustellen und die
Wehrpflichtigen dementsprechend bereits von der rechtsverbindlichen
Einstellungszusage eines Arbeitgebers an vom Wehrdienst für den gesamten
dualen Bildungsgang zurückzustellen, sei zu weitgehend. Aufgrund der Dauer
dieser Ausbildungsgänge würde damit eine nicht gerechtfertigte faktische
Wehrdienstausnahme für Absolventen derartiger Bildungsgänge geschaffen.
Allerdings werde nicht verkannt, dass die Unterbrechung eines Studiums, bei dem
betriebliche Anteile mit Ausbildungsabschnitten an Hochschulen verknüpft seien,
organisatorisch schwieriger zu handhaben sei als die eines reinen Studiums und
den dual Studierenden stärker belasten könne als einen Studierenden in einem
Studium herkömmlicher Art. Zur Kompensation dieser Nachteile könne eine
begrenzte Privilegierung der dual Studierenden beitragen. Absolventen eines
dualen Bildungsgangs, bei dem im Ausbildungsvertrag sowohl das Studium als
auch eine betriebliche Ausbildung vereinbart würden, sollten deshalb ab dem
Beginn des dualen Bildungsgangs zurückgestellt werden, wenn das Studium nicht
mehr als acht Semester Regelstudienzeit umfasse und spätestens drei Monate
nach dem Ausbildungsbeginn angetreten werde.
Den Gesetzesmaterialien ist demzufolge nichts Greifbares für die Frage zu
entnehmen, ob eine Zurückstellung nach § 12 Abs. 4 Satz 2 Nr. 3 c) WPflG nur
dann in Betracht kommt, wenn die betriebliche Ausbildung zu einem
eigenständigen Abschluss führt, oder bereits dann, wenn es sich um eine
Ausbildung in einem dualen Bildungsgang handelt, die (nur) zu einem
Hochschulabschluss führt. Diese differenzierende Betrachtungsweise ist im
Gesetzgebungsverfahren offenkundig nicht thematisiert worden.
In Literatur und Rechtsprechung werden zur Auslegung des § 12 Abs. 4 Satz 2 Nr.
3 c) WPflG unterschiedliche Auffassungen vertreten.
Bei Boehm-Tettelbach, Wehrpflichtgesetz, Kommentar, heißt es hierzu unter der
Randnummer 29 lapidar und ohne weitere Begründung, Ziel der beiden
miteinander verknüpften Ausbildungen sei der Erwerb eines doppelten
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miteinander verknüpften Ausbildungen sei der Erwerb eines doppelten
Abschlusses. Zu der Frage, ob von einem dualen Bildungsgang im Sinne der
genannten Norm auch dann gesprochen werden kann, wenn die betriebliche
Ausbildung nicht auf die Erlangung eines eigenständigen Abschlusses zielt, verhält
sich der Autor nicht.
In der aktuellen Rechtsprechung führt das Bundesverwaltungsgericht in seinem
Urteil vom 11.06.2008 (6 C 35/07 – zitiert nach juris) zwar aus, duale Studiengänge
seien durch den Erwerb eines Berufsabschlusses in einem anerkannten
Ausbildungsberuf während des Studiums gekennzeichnet. In dualen
Studiengängen würden zwei Ausbildungen nebeneinander durchgeführt, das Ziel
dieser besonderen Ausbildungsform sei die Erlangung von zwei verschiedenen
Abschlüssen. Diese Doppelqualifikation kennzeichne den dualen Studiengang. Bei
der Frage der Aussagekraft dieser Entscheidung für die hier zu erörternde
Problematik ist indes zu bedenken, dass der duale Bildungsgang in den
wehrrechtlichen Vorschriften über die Zurückstellung in dem für die Entscheidung
des Bundesverwaltungsgerichts maßgeblichen Zeitpunkt noch keinen
Niederschlag gefunden hatte und das Bundesverwaltungsgericht sich in dieser
Entscheidung in Fortführung des Urteils vom 24.10.2007 (a.a.O.) mit der Frage zu
beschäftigen hatte, ab welchem Zeitpunkt die Zählung der Semester in
Anwendung des § 12 Abs. 4 Satz 2 Nr. 3 b) 1. Alt. WPflG zu laufen beginnt. Von
daher ist die Annahme, nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts
könne von einem die Zurückstellung nach Maßgabe des § 12 Abs. 4 Satz 2 Nr. 3 c)
WPflG rechtfertigenden dualen Bildungsgang nur dann gesprochen werden, wenn
zwei verschiedene Abschlüsse zu erlangen seien, jedenfalls nicht zwingend.
In der erstinstanzlichen Verwaltungsrechtsprechung sind die Auffassungen zu der
hier entscheidenden Frage geteilt.
Das Verwaltungsgericht Braunschweig (Beschluss vom 26.09.2008 – 7 B 182/08 –,
zitiert nach juris), das Verwaltungsgericht Neustadt (Weinstraße) (Urteil vom
14.06.2010 – 3 K 939/09 –, zitiert nach juris) und das Verwaltungsgericht Ansbach
(Beschluss vom 16.07.2010 – AN 15 E 10.01420 –, zitiert nach juris) vertreten die
Ansicht, von einem dualen Bildungsgang im Sinne der genannten Norm könne nur
dann gesprochen werden, wenn neben dem Studienabschluss auch ein Abschluss
in einem staatlich anerkannten Ausbildungsberuf vermittelt werde.
Demgegenüber lassen es das Verwaltungsgericht Stuttgart (Beschluss vom
01.03.2010 – 13 K 499/10 –, zitiert nach juris), das Verwaltungsgericht Karlsruhe
(Urteile vom 10.06.2010 – 9 K 1357/09 –, 9 K 503/10 –, 9 K 536/10 –; Beschluss
vom 18.06.2010 – 9 K 518/10 –, alle zitiert nach juris) und das Verwaltungsgericht
Sigmaringen (Urteil vom 16.06.2010 – 5 K 274/10 –; Beschluss vom 28.06.2010 – 7
K 1320/10 –, alle zitiert nach juris) für die Annahme eines dualen Bildungsganges
in dem hier interessierenden Sinne ausreichen, wenn eine studienbegleitende
betriebliche Ausbildung stattfindet, ohne dass eine formale Doppelqualifikation zu
fordern wäre.
Zusammenfassend ist daher insoweit festzustellen, dass jedenfalls im Rahmen
dieses Eilverfahrens hinsichtlich der Auslegung des Begriffs des dualen
Bildungsgangs im Sinne des § 12 Abs. 4 Satz 2 Nr. 3 c) WPflG von einem offenen
Verfahrensausgang gesprochen werden muss, denn beide vorstehend
beschriebenen Rechtsauffassungen erscheinen gut vertretbar.
Bei der somit gebotenen Interessenabwägung ist zunächst zu berücksichtigen,
dass der in § 35 Satz 1 WPflG normierte Ausschluss der aufschiebenden Wirkung
der Klage gegen den Einberufungsbescheid dem Umstand Rechnung trägt, dass
die Einberufung eines Wehrpflichtigen Ausfluss des sehr weiten
personalplanerischen Auswahlermessens der Behörde und ausschließlich
öffentlichen Interessen zu dienen bestimmt ist. Nur in Ausnahmefällen vermag
daher das private Interesse eines Wehrpflichtigen eine ihm günstige
Interessenabwägung zu rechtfertigen (vgl. hierzu Boehm-Tettelbach a.a.O.
Randnummer 2 ff. zu § 35 WPflG). Regelmäßig wird daher bei Konstellationen der
hier vorliegenden Art dem öffentlichen Interesse an der sofortigen Vollziehbarkeit
des Einberufungsbescheides der Vorrang einzuräumen sein.
Allerdings ist weiter zu bedenken, dass es sich bei der Wehrpflicht um einen
schwerwiegenden Eingriff in die Freiheit und auch die Würde jedes einzelnen
Wehrpflichtigen handelt. Seine verfassungsmäßige Legitimation findet dieser
Eingriff darin, dass der Staat seiner in der Verfassung übernommenen
Verpflichtung, die verfassungsmäßige Ordnung, insbesondere die Grundrechte
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Verpflichtung, die verfassungsmäßige Ordnung, insbesondere die Grundrechte
seiner Bürger zu schützen, nur mit Hilfe dieser Bürger und ihres Eintretens für den
Bestand der Bundesrepublik Deutschland nachkommen kann. Mit dem
Schutzanspruch des Einzelnen korrespondiert daher die Verpflichtung, sich auch
seinerseits für die Belange der Gemeinschaft einzusetzen und seinen Beitrag für
die Verteidigung dieser Ordnung zu leisten. Dementsprechend ist die allgemeine
Wehrpflicht Ausdruck des Gleichheitsgedankens und steht unter der Herrschaft
des Art. 3 Abs. 1 GG (so BVerwG, Urteil vom 19.01.2005 – 6 C 9/04 –, BVerwGE
122, 331, mit zahlreichen weiteren Nachweisen; siehe auch BVerfG, Beschluss
vom 22.07.2009 – 2 BvL 3/09 –, zitiert nach juris).
Im Zusammenhang mit der Würdigung dieser verfassungsrechtlichen
Grundentscheidung darf hier aber auch nicht außer Betracht bleiben, dass die
Wehrpflicht in ihrer herkömmlichen Form aller Voraussicht nach in sehr absehbarer
Zeit der Vergangenheit angehören wird; ferner wird es zu einer drastischen
Reduzierung der Truppenstärke kommen (vgl. hierzu statt aller nur Darmstädter
Echo vom 03.09.2010: „Der lange Abschied von der Wehrpflicht“; inFranken.de
vom 07.09.2010: „Guttenberg setzt sich durch“; Rheinischer Merkur vom
09.09.2010:“Der Freiherr wirbelt Staub auf“; Welt Online vom 10.09.2010:
“Mehrheit in der CSU unterstützt Guttenbergs Wehrpflicht-Pläne“; Focus Online
vom 13.09.2010: “Union umgeht Streit um die Wehrpflicht“). Aktuellen
Informationen zufolge (siehe nur Spiegel Online vom 13.09.2010: „CDU-Präsidium
stützt Guttenberg-Pläne“) ist mit einer abschließenden Beschlussfassung noch in
diesem Monat zu rechnen, so dass auch die Einleitung des parlamentarischen
Gesetzgebungsverfahrens alsbald zu erwarten ist und es daher keineswegs
fernliegend erscheint, von einer Aussetzung der Wehrpflicht bereits in der ersten
Hälfte des nächsten Jahres auszugehen. Gemäß der bislang geübten und dem
Prinzip der Wehrgerechtigkeit geschuldeten Praxis, auch bereits einberufene
Wehrpflichtige in den Genuss der neuen (günstigeren) Regelungen kommen zu
lassen (vgl. beispielsweise Art. 1 Nr. 11 des Gesetzes zur Änderung wehr- und
zivildienstrechtlicher Vorschriften 2010 vom 31.07.2010 – BGBl. I S. 1052), kann
weiter davon ausgegangen werden, dass mit dem Zeitpunkt der Aussetzung der
Wehrpflicht auch die sich im Grundwehrdienst befindenden Wehrpflichtigen aus
dem Wehrdienstverhältnis entlassen werden.
In Bezug auf den Antragsteller ergibt sich demzufolge, dass dieser zum
01.10.2010 zur Erfüllung einer ihm (noch) obliegenden staatsbürgerlichen Pflicht
einberufen wird, obwohl gegenwärtig kein Zweifel mehr daran bestehen kann, dass
diese Pflicht in absehbarer Zeit suspendiert sein wird.
Daher ist es nach Auffassung der Kammer geboten, die Bedeutung der gemäß
den obigen Ausführungen alleine öffentlichen Interessen dienenden
staatsbürgerlichen Pflicht da relativierend zu bewerten, wo auf Seiten des
Wehrpflichtigen persönliche Interessen zu berücksichtigen sind, die im konkreten
Einzelfall Vorrang verdienen können.
Aus dem unwidersprochen gebliebenen Vortrag des Antragstellers ist zu
entnehmen, dass die Aufnahme des Studiums innerhalb des dualen
Bildungsgangs nur einmal im Jahr, nämlich zum 01.10., möglich ist. Der
Antragsteller würde daher, so er jetzt seinen Grundwehrdienst antreten müsste, in
der Durchführung seiner Ausbildung um exakt ein Jahr zurückgeworfen. Dies ist –
was keiner weiteren Erörterung bedarf – einem Wehrpflichtigen grundsätzlich
zuzumuten und vermag eine besondere, eine Zurückstellung rechtfertigende
Härte nicht zu begründen. Erfolgt die Einberufung jedoch um der Erfüllung eines
Prinzips willen, dem nach dem Willen der politisch Verantwortlichen in absehbarer
Zeit keine Bedeutung mehr zukommen soll, so kommt der damit einhergehenden
Verzögerung der Ausbildung im Rahmen der hier vorzunehmenden
Interessenabwägung eine besondere Bedeutung zu.
Zur Vermeidung jedweden Missverständnisses sei an dieser Stelle ausdrücklich
betont, dass die Kammer auch unter Berücksichtigung der zu erwartenden, oben
beschriebenen
Veränderungen im Bereich der Wehrpflicht keineswegs die Auffassung vertritt,
gegenwärtig müsse jede Einberufung wegen der nicht mehr zu rechtfertigenden
Eingriffe in grundgesetzlich geschützte Positionen eines Wehrpflichtigen
unterbleiben. Gerade mit Blick auf die der Bundesrepublik Deutschland
obliegenden Verpflichtungen auch den Bündnispartnern gegenüber ist es
unabdingbar, für eine Übergangszeit bis zur entsprechenden Umstrukturierung der
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unabdingbar, für eine Übergangszeit bis zur entsprechenden Umstrukturierung der
Bundeswehr auf den Einsatz Wehrpflichtiger zu bauen. Eine andere
Betrachtungsweise ist allerdings dann angebracht, wenn die Rechtmäßigkeit einer
Einberufung unter (sonstigen) materiellen Gesichtspunkten schwierige Fragen
aufwirft, die Anlass zu einer an den konkreten Umständen des Einzelfalles
orientierten Interessenabwägung geben.
So liegt der Fall des Antragstellers:
Ob in seiner Person die Voraussetzungen für eine Zurückstellung nach Maßgabe
des § 12 Abs. 4 Satz 2 Nr. 3 c) WPflG wegen eines zum Zeitpunkt des
Diensteintritts begonnen dualen Bildungsgangs vorliegen, ist offen. Somit ist eine
Abwägung der einander widerstreitenden Interessen geboten. Das üblicherweise
Vorrang verdienende öffentliche Interesse an der Erfüllung der dem Antragsteller
obliegenden staatsbürgerlichen Pflicht ist angesichts der anstehenden Reform der
Bundeswehr und der damit einhergehenden Aussetzung der Wehrpflicht
gewichtend den persönlichen Interessen des Antragstellers gegenüber zu stellen.
Diese Interessen bestehen darin, umgehend das Studium aufnehmen zu können,
da andernfalls ein Zeitverlust von einem Jahr droht.
Nach Auffassung der Kammer liegen demnach hier Besonderheiten vor, die es
ausnahmsweise gebieten, bei offenem Verfahrensausgang den persönlichen
Interessen des Antragstellers, vorläufig von einem Vollzug des
Einberufungsbescheides verschont zu bleiben, Vorrang einzuräumen vor den
öffentlichen Interessen.
Als unterlegene Beteiligte hat die Antragsgegnerin die Kosten des Verfahrens zu
tragen (§ 154 Abs. 1 VwGO).
Die Festsetzung des Streitwertes beruht auf §§ 53 Abs. 2, 52 Abs. 2 GKG.
Hinweis: Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 34 WPflG).
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert. Darüber hinaus ist eine ergänzende Dokumentation durch
die obersten Bundesgerichte erfolgt.