Urteil des VG Darmstadt vom 07.12.2007

VG Darmstadt: aufschiebende wirkung, wiederherstellung der aufschiebenden wirkung, vollstreckung der strafe, schutz des privatlebens, ausweisung, öffentliche sicherheit, familienangehöriger, verfügung

1
2
3
4
Gericht:
VG Darmstadt 8.
Kammer
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
8 G 1624/07
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
§ 3 Abs 2 FreizügG/EU, § 4a
FreizügG/EU, § 6 Abs 5
FreizügG/EU, § 54 Nr 1
AufenthG, § 56 Abs 1 S 1 Nr 1
AufenthG
(Ausländerrecht: Begründung eines Aufenthaltsrechts eines
Familienangehörigen eines EU-Bürgers; Anforderungen an
den Familiennachzug; Pflicht zur Befristung der Wirkung
einer Ausweisungsverfügung)
Leitsatz
Ein Daueraufenthaltsrecht nach §§ 2, 4a FreizügG/EU erwirbt ein Drittstaatsangehöriger
nur, wenn er sich für die Dauer von 5 Jahren "als" Familienangehöriger eines
Unionsbürgers im Bundesgebiet aufgehalten hat.
Tenor
Der Antrag wird abgelehnt.
Die Kosten des Verfahrens hat der Antragsteller zu tragen.
Der Streitwert wird auf 2.500,00 EUR festgesetzt.
Gründe
Der am 08.10.2007 (Eingang bei Gericht) sinngemäß gestellte Antrag auf
Wiederherstellung beziehungsweise Anordnung der aufschiebenden Wirkung der
Klage des Antragstellers gegen die Verfügung des Landrates des Landkreises
Darmstadt-Dieburg vom 11.09.2007 hat in Ermangelung des Vorliegens der
Voraussetzungen für die Gewährung des nachgesuchten Rechtsschutzes keinen
Erfolg.
Es kann dabei dahingestellt bleiben, ob der Antrag schon mangels
Rechtsschutzbedürfnisses des Antragstellers abzulehnen ist, nachdem dieser das
Verfahren trotz Aufforderung durch das Gericht nicht mehr betrieben hat. Hierauf
kommt es im Ergebnis nicht an, weil die Voraussetzungen für die Gewährung
vorläufigen Rechtsschutzes auch im Übrigen nicht vorliegen.
1. Soweit der Antragsteller die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung
seiner ebenfalls am 08.10.2007 erhobenen Klage, soweit sich diese gegen die mit
dem Bescheid des Landrates des Landkreises Darmstadt-Dieburg verfügte
Ausweisung richtet, begehrt, ist der Antrag zwar infolge der Anordnung des
Sofortvollzuges nach § 80 Abs. 5 S. 1 2. Alt. VwGO statthaft, aber nicht begründet.
Das Privatinteresse des Antragstellers, bis zum Abschluss des
Hauptsacheverfahrens von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen verschont zu
bleiben, hat hinter dem öffentlichen Vollzugsinteresse zurückzustehen, weil sich
die Ausweisungsverfügung des Landrates des Landkreises Darmstadt-Dieburg
vom 11.09.2007 offensichtlich als rechtmäßig und ihre Vollziehung als eilbedürftig
erweist.
Die Ausweisungsverfügung begegnet zunächst nicht schon deshalb rechtlichen
Bedenken, weil der Antragsgegner nicht auch die Wirkung der Ausweisung befristet
hat. Da nicht ersichtlich ist, dass der Antragsteller im Bundesgebiet
schützenswerte familiäre oder sonstige soziale Bindungen hat, die es gemäß Art. 8
EMRK gebieten könnten, ihm bereits mit der Ausweisung für eine mögliche
5
6
7
8
9
EMRK gebieten könnten, ihm bereits mit der Ausweisung für eine mögliche
Wiedereinreise eine zeitliche Perspektive zu geben, ist es nämlich zulässig, den
Antragsteller hinsichtlich der Befristung der Wirkung seiner Ausweisung und
etwaigen Abschiebung auf die Durchführung des Verfahrens nach § 11 Abs. 1 Satz
3 AufenthG zu verweisen, wonach die Befristung grundsätzlich erst auf Antrag
erfolgt.
Der auf § 54 Nr. 1 2. Alt., § 56 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und 56 Abs. 1 Satz 2 und 5
AufenthG gestützten Ausweisung des Antragstellers steht auch nicht schon ein
sich aus § 9a AufenthG (i.V.m. der Richtlinie 2003/109/EG des Rates vom
25.11.2003 betreffend die Rechtsstellung der langfristig aufenthaltsberechtigten
Drittstaatsangehörigen; Daueraufenthaltsrichtlinie) ergebender etwaiger
Ausweisungsschutz entgegen. Dies ergibt sich schon daraus, dass der
Antragsteller keinen Antrag auf Zuerkennung einer entsprechenden
Rechtsstellung gestellt hat. Es ist zudem auch nicht ersichtlich, dass der
Antragsteller im Sinne dieser Rechtsvorschrift daueraufenthaltsberechtigt sein
könnte, und zwar auch unbeschadet der von ihm begangenen Straftaten. Es fehlt
nämlich schon an einer Sicherung des Lebensunterhaltes des Antragstellers durch
feste und regelmäßige Einkünfte.
Der Antragsteller kann sich auch nicht mit Erfolg darauf berufen, dass sein
Aufenthalt im Bundesgebiet nur nach § 6 FreizügG/EU beendet werden dürfe und
dass dessen Voraussetzungen in seinem Fall nicht vorlägen.
Der Vater des Antragstellers ist zwar britischer Staatsangehöriger und hielt sich im
Zeitpunkt der Einreise des Antragstellers rechtmäßig im Bundesgebiet auf. Auch
war der Antragsteller am 22.01.1988 im Alter von 17 Jahren ins Bundesgebiet
eingereist, mithin vor Vollendung des 21. Lebensjahres. Gleichwohl fällt der
Antragsteller nicht unter den besonderen Schutz des § 6 Abs. 5 FreizügG/EU. Dies
begründet sich daraus, dass der Antragsteller nur unter dessen Regelung fiele,
wenn er als Familienangehöriger eines Unionsbürgers gemäß § 2 Abs. 1 und 2 Nr.
1 FreizügG/EU freizügigkeitsberechtigt wäre, oder wenn er eine Rechtsposition
nach § 4a FreizügG/EU erlangt hätte. Beides ist jedoch nicht der Fall. So sind
Abkömmlinge eines Unionsbürgers (und nur als solcher könnte der Antragsteller
eine Freizügigkeitsberechtigung erlangt haben) gemäß der (richtlinienkonformen)
Legaldefinition des § 3 Abs. 2 FreizügG/EU nur bis zur Vollendung des 21.
Lebensjahres Familienangehörige im Sinne des Gesetzes. Der Antragsteller hat
aber bereits im Jahr 1991 das 21. Lebensjahr vollendet und ist demzufolge
seitdem kein Familienangehöriger im Sinne des Freizügigkeitsgesetzes/EU i.V.m.
der Freizügigkeitsrichtlinie mehr.
Der Antragsteller hat zur Überzeugung des Gerichts auch keine Rechtsposition aus
§ 4a FreizügG/EU erlangt, allein dessen Absatz 1 vorliegend einschlägig ist. Nach
dessen Wortlaut erwerben die Familienangehörigen eines Unionsbürgers ein
unabhängiges Aufenthaltsrecht, die sich seit 5 Jahren ständig rechtmäßig im
Bundesgebiet aufgehalten haben. Mit diesem Wortlaut erfasst diese Regelung nur
aktuelle Familienangehörige. Da Abkömmlinge eines Unionsbürgers aber nur bis
zur Vollendung des 21. Lebensjahres Familienangehörige sind, erfüllt der
Antragsteller folglich nicht die Voraussetzungen des § 4a Abs. 1 FreizügG/EU.
Dabei kann es dahingestellt bleiben, ob die Eigenschaft "Familienangehöriger"
noch im Zeitpunkt des Inkrafttretens des § 4a FreizügG/EU bzw. des Ablaufens der
Umsetzungsfrist der Freizügigkeitsrichtlinie fortbestanden haben muss, oder ob es
genügt, dass der Ausländer für die Dauer von 5 Jahren einen rechtmäßigen
Aufenthalt "als" Familienangehöriger eines Unionsbürgers hatte. Hierauf kommt es
vorliegend nicht an, weil sich der Antragsteller nach seiner Einreise am 22.01.1988
bis zur Vollendung des 21. Lebensjahres nur für 3 Jahre und 8 Monate rechtmäßig
im Bundesgebiet aufgehalten hat.
Dem Erwerb eines Daueraufenthaltsrechtes nach § 4a Abs. 1 FreizügG/EU steht
zudem auch entgegen, dass der Antragsteller nicht im Sinne des § 3 FreizügG/EU
zu seinem Vater nachgezogen ist. Nachzug in diesem Sinne setzt nämlich die
Begründung, wenn nicht schon einer häuslichen, so doch einer engeren familiären
Beistandsgemeinschaft voraus. Dies ergibt sich auch aus einem Rückgriff auf Art.
16 Abs. 2 der Freizügigkeitsrichtlinie, nach dem ein Familienangehöriger eines
Unionsbürgers ein Daueraufenthaltsrecht erwirbt, wenn er "sich rechtmäßig fünf
Jahre lang ununterbrochen mit dem Unionsbürger im Aufnahmemitgliedstaat
aufgehalten" hat. Das Bestehen einer solchen Beistandsgemeinschaft zwischen
dem Antragsteller und seinem Vater im Bundesgebiet ist aber auch nicht
ansatzweise ersichtlich. Der Antragsteller war im Gegenteil offenkundig von
10
11
12
13
14
15
ansatzweise ersichtlich. Der Antragsteller war im Gegenteil offenkundig von
Anbeginn relativ auf sich allein gestellt.
Nach alledem findet die Ausweisung des Antragstellers ihre Rechtsgrundlage in §
54 Nr. 1, § 56 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 sowie Satz 2 und 5 AufenthG.
Nach § 54 Nr. 1 2. Alt. AufenthG wird ein Ausländer in der Regel ausgewiesen,
wenn er wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten rechtskräftig zu einer
Freiheitsstrafe verurteilt und die Vollstreckung der Strafe nicht zur Bewährung
ausgesetzt worden ist. Diese Voraussetzung ist in der Person des Antragstellers
grundsätzlich erfüllt, der zuletzt mit Urteil des Landgerichts Frankfurt/Main (unter
Einbeziehung vorheriger Verurteilungen, wegen der auf die Aufstellung im
Bescheid des Landrates des Landkreises Darmstadt-Dieburg vom 11.09.2007
Bezug genommen wird) zu einer Freiheitsstrafe von 2 Jahren und 9 Monaten
verurteilt worden ist, die der Antragsteller gegenwärtig auch verbüßt. Der
Antragsteller fällt jedoch auch unter den besonderen Ausweisungsschutz des § 56
Abs. 1 Satz 1 AufenthG. Nach dessen Nr. 1 genießt ein Ausländer, der eine
Niederlassungserlaubnis besitzt und sich seit mindestens fünf Jahren rechtmäßig
im Bundesgebiet aufgehalten hat, besonderen Ausweisungsschutz. Das gleiche
gilt nach dessen Nr. 2 unter anderem für einen Ausländer, der eine
Aufenthaltserlaubnis besitzt, als Minderjähriger ins Bundesgebiet eingereist ist und
sich mindestens fünf Jahre lang rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten hat. Der
am 28.09.1970 geborene und seit dem 22.01.1988 im Bundesgebiet lebende
Antragsteller besaß seit dem 14.12.1996 eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis,
die seit dem 01.01.2005 als Niederlassungserlaubnis fortgalt (§ 101 Abs. 1 Satz 1
AufenthG). Er darf daher nach § 56 Abs. 1 Satz 2 AufenthG nur aus
schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung ausgewiesen
werden, und es ist über seine Ausweisung gemäß § 56 Abs. 1 Satz 5 AufenthG
nach Ermessen zu entscheiden.
Die vom Antragsgegner angestellten und in der Ausweisungsverfügung vom
11.09.2007 dargelegten Ermessenserwägungen begegnen keinen rechtlichen
Bedenken. Es ist weder ein Ermessensfehlgebrauch noch eine Ermessensüber-
oder -unterschreitung zu erkennen. Nachdem der Antragsteller keine Umstände
dafür dargetan hat, dass er ein schützenswertes Interesse an einem weiteren
Aufenthalt im Bundesgebiet hat und dieses auch ansonsten nicht erkennbar ist,
überwiegt erkennbar das öffentliche Interesse an einer Beendigung des
Aufenthalts des Antragstellers im Bundesgebiet. Es ist nicht erkennbar, dass sich
der Antragsteller in nennenswertem Maße in die deutsche Gesellschaft integriert
und hier schützenswerte soziale Bindungen aufgebaut hat. Der Umstand, dass er,
nachdem er sich bereits seit längerem im Bundesgebiet aufgehalten hat, eine
bangladeschische Staatsangehörige geheiratet hat und sowohl seine Ehefrau als
auch ihr gemeinsames Kind in Bangladesch leben, weist im Gegenteil darauf hin,
dass der Antragsteller nach wie vor starke Bindungen an sein Heimatland hat.
Damit ist aber auch nicht erkennbar, dass einer Ausweisung des Antragstellers der
Schutz des Art. 8 EMRK (hier als Schutz des Privatlebens) entgegenstehen würde.
Aus den vom Antragsgegner zutreffend ausgeführten Gründen steht aber auch zu
befürchten, dass der Antragsteller nach seiner Haftentlassung alsbald wieder
straffällig werden wird. So lassen die Erklärungen des Antragstellers, die er im
Strafverfahren abgegeben hat, in der Tat erwarten, dass der Antragsteller auch
weiterhin nicht bereit ist, das Eigentum und Vermögen anderer zu respektieren
und seine persönlichen Ausgaben seinem Einkommen anzupassen. Solange der
Antragsteller nicht hinreichend zu erkennen gibt, dass er nunmehr davon Abstand
nehmen werde, sein Einkommen durch das Begehen von Vermögensdelikten
"aufzubessern", geht von ihm eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und
Ordnung aus, die es mangels gegenläufiger schützenswerter Interessen
rechtfertigt, seinen Aufenthalt im Bundesgebiet zu beenden.
Wegen der Begründung im Weiteren wird auf die zutreffenden Ausführungen in der
Ausweisungsverfügung des Antragsgegners vom 11.09.2007 Bezug genommen.
Erweist sich die Ausweisung des Antragstellers danach aber offenkundig als
rechtmäßig, begegnet auch die Anordnung deren Sofortvollzugs keinerlei
rechtlichen Bedenken. Das besondere Interesse an der sofortigen Vollziehung der
Ausweisung hat der Landrat des Landkreises Darmstadt-Dieburg in seiner
Verfügung vom 11.09.2007 in ausreichender Weise begründet (§ 80 Abs. 3 S. 1
VwGO). Die individuell auf den Einzelfall des Antragstellers abgestellte Begründung
ist ausführlich und inhaltlich fehlerfrei. Sie lässt vor allem erkennen - und nur
16
17
18
ist ausführlich und inhaltlich fehlerfrei. Sie lässt vor allem erkennen - und nur
darauf kommt es bei der Formalprüfung des § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO an - dass
sich die Behörde dessen bewusst gewesen ist, dass sie hier von dem
fundamentalen Grundsatz des Prozessrechts, wonach Widerspruch und
Anfechtungsklage aufschiebende Wirkung haben (vgl. § 80 Abs. 1 Satz 1 VwGO),
abweicht. Es fehlt auch, anders als in dem vom Bundesverfassungsgericht im
Verfahren 2 BvR 1179/95 mit Kammerbeschluss vom 12.09.1995 (abgedr. in NVwZ
1996, 58 ff) entschiedenen Fall, an Umständen, die erkennen ließen, dass sich der
Antragsteller in seiner Persönlichkeit stabil in einer Weise geändert hat, die die
Annahme tragen könnte, er werde vorläufig nicht wieder straffällig.
2. Hinsichtlich der im Bescheid des Landrates des Landkreises Darmstadt-Dieburg
vom 11.09.2007 enthaltenen Abschiebungsandrohung ist der Rechtsschutzantrag
ebenfalls nach § 80 Abs. 5 Satz 1 1. Alternative VwGO statthaft. Insoweit entfällt
die aufschiebende Wirkung der Klage gemäß § 80 Abs. 2 Satz 2 VwGO i.V.m. § 16
HessAGVwGO, weil es sich hierbei um eine von Gesetzes wegen sofort vollziehbare
Maßnahme in der Verwaltungsvollstreckung handelt. Die Abschiebungsandrohung
ist allerdings ebenfalls nicht zu beanstanden. Der Antragsgegner durfte dem
Antragsteller, der nach dem Vorstehenden im Sinne des § 58 Abs. 2 Satz 2
AufenthG vollziehbar ausreisepflichtig ist, nach § 59 Abs. 1 AufenthG die
Abschiebung androhen. Unschädlich ist insoweit, dass der Antragsgegner diese
Entscheidung auf eine Abschiebung aus der Haft heraus beschränkt und sich für
den Fall, dass diese nicht erfolgen sollte, eine gesonderte Abschiebungsandrohung
vorbehalten hat.
Der Antragsteller hat als Unterlegener nach § 154 Abs. 1 VwGO die Kosten des
Verfahrens zu tragen.
Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 52 Abs. 2, 53 Abs. 2 GKG. Mangels
ausreichender tatsächlicher Anhaltspunkte für die Bemessung der wirtschaftlichen
Bedeutung der Sache für den Antragsteller legt die Kammer den Auffangstreitwert
in Höhe von 5.000,00 EUR zugrunde und halbiert den Betrag im Hinblick auf den
vorläufigen Charakter des Eilverfahrens.
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert.