Urteil des VG Darmstadt vom 20.07.2009

VG Darmstadt: wiederherstellung der aufschiebenden wirkung, aufschiebende wirkung, öffentliche sicherheit, verfügung, unterbringung, vollziehung, stadt, gefahr, garage, anfechtungsklage

1
2
3
4
5
Gericht:
VG Darmstadt 3.
Kammer
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
3 L 946/09.DA
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
§ 9 SOG HE, § 11 SOG HE
Inanspruchnahme des Nichtstörers zur Abwendung
drohender Obdachlosigkeit
Leitsatz
Die Wiedereinweisung einer vierköpfigen Familie in ein Eigenheim verstößt jedenfalls
dann gegenüber dem in Anspruch genommenen Eigentümer als Nichtstörer gegen das
Übermaßverbot, wenn die Behörde nicht nachgewiesen hat, dass anderweitiger
zumutbarer Wohnraum nicht zu Verfügung steht.
Tenor
Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs des Antragstellers vom 13.07.2009
gegen die Inanspruchnahmeverfügung der Stadt Weiterstadt vom 02.07.2009 wird
wiederhergestellt.
Die Kosten des Verfahrens mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten der
Beigeladenen, die diese selbst zu tragen haben, hat die Antragsgegnerin zu
tragen.
Der Streitwert wird auf 5.000,00 € festgesetzt.
Gründe
Der zulässige Antrag ist begründet.
Ein Antrag gemäß § 80 Abs. 5 VwGO ist im Falle der Anordnung der sofortigen
Vollziehung eines Verwaltungsaktes gemäß § 80 Abs. 2 Nr. 4 VwGO begründet,
wenn eine seitens des Gerichts vorzunehmende Interessenabwägung ergibt, dass
das private Interesse des Adressaten des Verwaltungsaktes an der
aufschiebenden Wirkung seines Widerspruchs oder seiner Anfechtungsklage das
von der Behörde geltend gemachte öffentliche Interesse an der sofortigen
Vollziehung des Verwaltungsaktes überwiegt. Ob dies der Fall ist, richtet sich
primär danach, welche Erfolgsaussichten der Widerspruch beziehungsweise die
Anfechtungsklage aufweisen. Erweist sich der Verwaltungsakt als rechtmäßig und
eilbedürftig, überwiegt das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung des
Verwaltungsaktes. Ist der Verwaltungsakt hingegen offensichtlich rechtswidrig,
überwiegt das private Interesse an der Wiederherstellung der aufschiebenden
Wirkung des Widerspruchs beziehungsweise der Klage.
Bei Zugrundelegung des vorstehend dargelegten Entscheidungsmaßstabes ergibt
sich, dass der Antrag begründet ist.
Das Suspensivinteresse des Antragstellers überwiegt das öffentliche Interesse an
der sofortigen Vollziehung der Inanspruchnahmeverfügung des Bürgermeisters der
Stadt W. vom 02.07.2009, weil sich die in Ziffer 1) der angefochtenen Verfügung
getroffene Regelung nach der im vorliegenden Eilverfahren allein möglichen
summarischen Feststellung der entscheidungserheblichen Tatsachen als
rechtswidrig erweist.
Die Rechtsgrundlage für die Inanspruchnahme des Antragstellers als Nichtstörer
5
6
7
Die Rechtsgrundlage für die Inanspruchnahme des Antragstellers als Nichtstörer
zur Abwendung drohender Obdachlosigkeit der Beigeladenen ergibt sich aus §§ 11,
9 HSOG. Nach diesen Vorschriften können die Gefahrenabwehr- und
Polizeibehörden die erforderlichen Maßnahmen treffen, um eine im einzelnen Falle
bestehende Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung abzuwehren. Dabei
können sie Maßnahmen auch gegen andere Personen als die nach den §§ 6 oder 7
Verantwortlichen (Verhaltens- oder Zustandsstörer) richten, wenn 1. eine
gegenwärtige Gefahr abzuwehren ist, 2. Maßnahmen gegen die nach §§ 6 oder 7
Verantwortlichen nicht oder nicht rechtzeitig möglich sind oder keinen Erfolg
versprechen, 3. die Gefahrenabwehr- oder Polizeibehörden die Gefahr nicht oder
nicht rechtzeitig selbst oder durch beauftragte Dritte abwehren und die Personen
ohne erhebliche eigene Gefährdung und ohne Verletzung höherwertiger Pflichten
in Anspruch genommen werden können.
Da die Inanspruchnahme eines Nichtstörers nur in Ausnahmefällen rechtmäßig
sein kann, sind die o. g. Voraussetzungen sehr eng auszulegen. Insbesondere
müssen sämtliche Voraussetzungen kumulativ, d. h. gleichzeitig, vorliegen. Diese
Voraussetzungen liegen hier nicht vor.
Zwar stellt Obdachlosigkeit grundsätzlich unter dem Gesichtspunkt der damit
einhergehenden Gesundheitsgefahr eine Störung der öffentlichen Sicherheit dar.
Vorliegend fehlt es indes schon an der Darlegung, dass den Beigeladenen ohne
die Inanspruchnahme des Antragstellers Obdachlosigkeit drohen könnte.
Obdachlos ist jemand, der unfreiwillig ohne Unterkunft und aus eigenen Kräften
und mit eigenen Mitteln nicht in der Lage ist, die Obdachlosigkeit durch
Beschaffung einer Wohn- oder Unterkunftsmöglichkeit zu beseitigen. Diese
Voraussetzungen treffen auf die Beigeladenen nicht zu. Diese haben mit
Mietvertrag vom 04.01.2006 das im Eigentum des Antragstellers stehende
Einfamilienwohnhaus gemietet, wobei das Mietverhältnis im Hinblick auf einen
beruflich bedingten Auslandsaufenthalt des Antragstellers auf die Dauer von 36
Monaten befristet abgeschlossen war und zum 15.01.2009 endete. Der
Antragsteller hat den Beigeladenen mehrfach vor Ablauf des Mietverhältnisses
mitgeteilt, dass er beabsichtigt, nach seiner berufsbedingten Abwesenheit wieder
in sein Haus in W. einzuziehen. Da die Beigeladenen sich mit der Zahlung der
Miete für die Monate Oktober und November 2008 im Rückstand befanden,
kündigte der Antragsteller das Mietverhältnis. Nachdem die Beigeladenen das
Einfamilienhaus nicht fristgerecht zum 15.01.2009 geräumt hatten, erhob dieser
unter dem 28.01.2009 Räumungsklage zum Amtsgericht Darmstadt. Für den Fall
des Anerkenntnisurteils sowie den Verzicht auf Räumungsschutz wegen einer
psychischen Erkrankung der Beigeladenen zu 1) erklärte der Antragsteller, dass er
von einer Vollstreckung des Anerkenntnisurteils bis Ende April 2009 absehen und
den Gerichtsvollzieher anweisen werde, einen Räumungstermin nicht vor dem
01.06.2009 anzuberaumen. Am 24.02.2009 verkündete das Amtsgericht
Darmstadt das Anerkenntnisurteil (- .../... -). Die Beigeladenen haben das Haus
nicht geräumt. Alle vereinbarten Fristen ließen sie verstreichen. Der Antragsteller
hat den Beigeladenen mehrfach, zuletzt mit Schreiben seines Bevollmächtigten
vom 07.04.2009 Wohnungen nachgewiesen, die für die Beigeladenen in Betracht
kommen. Die Beigeladenen haben offenbar keinerlei Anstrengungen
unternommen, auf dem Wohnungsmarkt eine Wohnung zu suchen. Nach alledem
kann keine Rede davon sein, dass die Beigeladenen unfreiwillig ohne Unterkunft
seien und aus eigenen Kräften und mit eigenen Mitteln nicht in der Lage seien, die
drohende Obdachlosigkeit durch Beschaffung einer Wohn- oder
Unterkunftsmöglichkeit zu beseitigen. Im Gegenteil, das Gericht geht mit dem
Antragsteller davon aus, dass es den Beigeladenen darum geht, solange als
möglich im Hause des Antragstellers ausharren zu können. Ausweislich des von
der Antragsgegnerin vorgelegten Aktenvorgangs haben die Beigeladenen selbst
es offenkundig nicht für nötig gehalten, bei der Antragsgegnerin wegen einer
Unterkunft vorstellig zu werden, denn in dem Aktenvorgang ist kein Gespräch oder
sonstige Notiz über einen Kontakt zwischen Antragsgegnerin und den
Beigeladenen dokumentiert. Es findet sich dort lediglich der Ausdruck einer E-Mail
des Mitarbeiters Schreiber von der Firma DD, C-Stadt, an den zuständigen
Mitarbeiter der Antragsgegnerin, in dem dieser mitteilt, der Beigeladene zu 2)
habe am 24.05.2009 an seinem Arbeitsplatz einen totalen psychischen
Zusammenbruch erlitten, so dass man den Notarzt habe rufen müssen. Es
bestehen schon erhebliche Zweifel, ob dieser Zusammenbruch im
Zusammenhang mit der beabsichtigten Räumung steht, da die Mitteilung des
Gerichtsvollziehers erst vom 02.06.2009 datiert; die Antragsgegnerin wäre indes
gehalten gewesen, diesen Umstand bei der Unterbringung der Familie der
Beigeladenen in eine zumutbare Unterkunft zu berücksichtigen. Soweit in diesem
8
9
10
11
12
Beigeladenen in eine zumutbare Unterkunft zu berücksichtigen. Soweit in diesem
Zusammenhang in einem Vermerk des 3. Polizeireviers W. vom 01.07.2009 davon
die Rede ist, der Beigeladene zu 2) habe bei der Antragsgegnerin vorgesprochen
und dort die Auskunft erhalten, man könne die Familie lediglich in einem Container
unterbringen, woraufhin dieser angedroht habe, sich und seine Familie
umzubringen, ist ein derartiges Gespräch zwischen dem Ordnungsamtsleiter der
Antragsgegnerin und dem Beigeladenen zu 2) in dem Aktenvorgang der
Antragsgegnerin nicht dokumentiert.
Soweit die Antragsgegnerin in der angefochtenen Verfügung mitteilt, andere
geeignete Wohnungen habe die Sozialverwaltung zum derzeitigen Zeitpunkt nicht
vermitteln können, behauptet sie lediglich, was sie nachvollziehbar darzulegen
gehabt hätte. Es geht auch nicht darum, die Beigeladenen in eine andere
Wohnung zu vermitteln, es geht darum, diese in einer zumutbaren Unterkunft
unterzubringen. In diesem Zusammenhang vermag das Gericht auch nicht
nachzuvollziehen, aus welchen Gründen dem vorgelegten Aktenvorgang
Schriftstücke beigeheftet sind, die erkennbar die Unterbringung einer anderen
Familie betreffen und in keinem Zusammenhang mit dem vorliegenden Verfahren
stehen.
Die Antragsgegnerin hat auch nicht dargelegt, dass es ihr nicht möglich gewesen
wäre, die Beigeladenen in einem der in W. befindlichen Beherbergungsbetriebe
unterzubringen. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass bereits
auf der offiziellen Homepage der Antragsgegnerin neun infrage kommende
Betriebe aufgeführt sind. Schließlich hat sie auch nicht dargelegt, dass es ihr nicht
möglich gewesen wäre, die Beigeladenen in einer Unterkunft einer
Nachbargemeinde unterzubringen (vergleiche hierzu grundlegend BVerwG,
28.09.1972 – BVerwG I B 23.72 -, Buchholz 11 Art 11 GG Nr. 7). Soweit die
Antragsgegnerin in ihrer Antragserwiderung im Übrigen darauf hinweist, sie habe
bereits eine andere Familie in der Obdachlosenunterkunft im Stadtteil E
untergebracht, belegt dies ebenfalls nicht, dass sie alle Mittel ausgeschöpft hat,
um die Beigeladenen in einer zumutbaren Unterkunft unterzubringen. Auch der
Umstand, dass der Beigeladene zu 2) bzgl. der Zwangsräumung Suizidabsichten
geäußert hat, führt nicht zur Rechtmäßigkeit der angefochtenen Verfügung.
Schließlich lässt sich dem Aktenvorgang auch nicht entnehmen, dass die
Beigeladenen zwischenzeitlich in das in Anspruch genommene Haus eingewiesen
worden sind; dort befindet sich lediglich eine Absichtserklärung vom 01.07.2009.
Die Inanspruchnahme der in dem im Eigentum des Antragstellers stehenden
Räume in einem Einfamilienhaus (ca. 110 m
2
, 1 Küche, 1 Diele, 1 Bad, 1
Kellerraum, 3 ½ Zimmer nebst Mitbenutzung von 1 Garage, 2 Einstellplätzen für
Pkw, sowie Garten und Terrasse ist darüber hinaus unverhältnismäßig, denn sie
verstößt gegen das Übermaßverbot. Die an die Unterkünfte, in denen eine
Einweisung zur Abwendung drohender Obdachlosigkeit erfolgen darf, zu stellenden
Qualitätsanforderungen werden dadurch bestimmt, dass die
gefahrenabwehrrechtliche Beseitigung von Obdachlosigkeit nur vorübergehender
Natur sein soll. Dies bedeutet, dass den eingewiesenen Personen Räumlichkeiten
nach ihrer Größe und Zahl zur Verfügung stehen müssen, die es jedenfalls im
Ansatz ermöglichen, die unterschiedlichen Lebensbedürfnisse der einzelnen
Familienmitglieder so aufeinander abzustimmen, dass es nicht zwingend zu
Störungen kommt. Dies bedeutet, dass genügend Schutz vor
Witterungsverhältnissen vorhanden ist, wozu namentlich im Winter eine
ausreichende Beheizbarkeit gehört, hygienischen Grundanforderungen genügende
sanitäre Anlagen, also Waschmöglichkeiten und WC, sowie eine Kochstelle,
notdürftige Möblierung, d. h. mindestens ein Schrank bzw. eine Kommode und ein
Bett zählen, sowie elektrische Beleuchtung vorhanden sein müssen (vgl. hierzu
grundlegend: HessVGH, Urteil vom 25.06.1991 - 11 UE 3675/88 -, DVBl. 1991,
1371). Diese Voraussetzungen für eine menschenwürdige Unterbringung von
Obdachlosen werden vorliegend erheblich, insbesondere durch die
Inanspruchnahme der Garage, zwei Pkw-Einstellplätzen sowie des Gartens und der
Terrasse, überschritten.
Ohne dass es für die vorliegende Entscheidung darauf ankommt, weist das Gericht
darauf hin, dass der Antragsteller, nachdem sein berufsbedingter
Auslandsaufenthalt beendet war und die Beigeladenen das Mietobjekt nicht
geräumt hatten, seinerseits, für bestimmte Zeit, eine Wohnung gemietet hat.
Dieser Mietvertrag wurde mehrfach verlängert, jedoch mit Schreiben vom
27.05.2009 wegen Eigenbedarfs zum 31.07.2009 gekündigt. Nach Ablauf dieses
13
14
27.05.2009 wegen Eigenbedarfs zum 31.07.2009 gekündigt. Nach Ablauf dieses
Datums droht dem Antragsteller selbst Obdachlosigkeit. Es dürfte nur schwer
vermittelbar sein, den Antragsteller in eine Obdachlosenunterkunft einzuweisen,
während er für die Unterbringung der Beigeladenen mit seinem eigenen Haus in
Anspruch genommen wird.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO und hinsichtlich der
Beigeladenen auf §§ 162 Abs. 3, 154 Abs. 3 VwGO.
Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf §§ 53 Abs. 3, 52 GKG, wobei das
Gericht im Hinblick auf die Befristung der Inanspruchnahme bis zum 01.10.2009
davon abgesehen hat, den Streitwert wegen des Charakters des Eilverfahrens zu
reduzieren.
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert. Darüber hinaus ist eine ergänzende Dokumentation durch
die obersten Bundesgerichte erfolgt.