Urteil des VG Darmstadt vom 16.04.2010

VG Darmstadt: behörde, therapie, anspruchsberechtigte person, eltern, vorverfahren, einheit, jugendamt, vollstreckung, legasthenie, hessen

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Gericht:
VG Darmstadt 5.
Kammer
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
5 K 550/08.DA (3)
Dokumenttyp:
Urteil
Quelle:
Normen:
§ 35a SGB 8, § 5 SGB 8, § 33
Abs 1 SGB 10, § 37 VwVfG, § 9
Abs 2 SGB 12
Kostenerstattung in voller Höhe für Legasthenietherapie;
Kind hat freie Therapeutenwahl; unverhältnismäßige
Mehrkosten; Anforderungen an den Inhalt eines Bescheides
Leitsatz
1. Die einem Kind entstandenen Kosten zur Durchführung einer Legasthenietherapie im
Rahmen einer bewilligten Eingliederungshilfe nach § 35 a SGB VIII sind grund-sätzlich in
voller Höhe zu erstatten.
2. Das Kind kann seinen Therapeuten grundsätzlich frei wählen, wenn dadurch keine
unverhältnismäßigen Mehrkosten entstehen.
3. Unverhältnismäßig sind die Mehrkosten in Anlehnung an die Verwaltungspraxis zu § 9
Abs. 2 SGB XII regelmäßig dann, wenn sie mehr als 20 % der ortsüblichen Kosten
betragen. In begründeten Einzelfällen ist auch eine höhere Kostenerstat-tung nicht
ausgeschlossen.
4. Die in einem Bescheid getroffene Regelung muss hinreichend klar, verständlich und
in sich widerspruchsfrei sein und den Adressaten in die Lage versetzen, zu erkennen,
was in der ihn betreffenden Sache geregelt wird. Eine Regelung muss nicht notwendig
im Tenor des Bescheides erscheinen. Etwaige Unklarheiten kön-nen auch noch
nachträglich bereinigt werden.
Tenor
1. Unter entsprechender teilweiser Aufhebung des Bescheids des
Kreisausschusses des Kreises Darmstadt-Dieburg vom 21.11.2007 in der Gestalt
des Widerspruchsbescheids derselben Behörde vom 14.02.2008 wird der Beklagte
verpflichtet, dem Kläger für den Zeitraum vom 28.02.2007 bis 29.02.2008
Eingliederungshilfe nach § 35 a SGB VIII für 80 Therapieeinheiten Einzeltherapie à
30 Minuten zu je 22,13 EUR für eine Therapie bei ... zu gewähren sowie dem Kläger
für den Zeitraum vom 29.02.2008 bis 28.02.2009 Eingliederungshilfe nach § 35 a
SGB VIII für 40 Therapieeinheiten Einzeltherapie à 30 Minuten zu je 22,13 EUR für
eine Therapie bei ... zu gewähren,
2. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
3. Das Verfahren ist gerichtskostenfrei. Die außergerichtlichen Kosten des
Verfahrens haben der Kläger zu 60 % und der Beklagte zu 40 % zu tragen. Die
Zuziehung eines Bevollmächtigten für das Vorverfahren wird für notwendig erklärt.
4. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige
Kostenschuldner darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe der
festzusetzenden Kosten abwenden, falls nicht der jeweilige Kostengläubiger vor der
Vollstreckung Sicherheit in derselben Höhe leistet.
Tatbestand
Der Kläger beantragte am 28.02.2007 die Gewährung von Eingliederungshilfe für
eine Legasthenietherapie, die der Kreisausschuss Darmstadt-Dieburg mit
Bescheid vom 17.04. 2007 zunächst ablehnte, da er eine drohende
Beeinträchtigung des Klägers am Leben in der Gesellschaft nicht festzustellen
vermochte. Auf den Widerspruch des Klägers vom 10.05. 2007 hob die Behörde
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vermochte. Auf den Widerspruch des Klägers vom 10.05. 2007 hob die Behörde
ihren ablehnenden Bescheid am 21.11.2007 auf und gewährte laut Tenor „für die
Zeit vom 28.02.2007 bis 29.02.2008 insgesamt 40 Stunden für eine Legasthenie-
Gruppentherapie bei ...“, die sie mit maximal 16,82 EUR pro Stunde bezuschusste.
In der Begründung des Bescheides heißt es zunächst wörtlich:
„Die Bezuschussung beträgt pro Gruppentherapiestunde 16,82 EUR und wird nur
für 1 Jahr und maximal 40 Stunden gezahlt. Danach ist der Anspruch auf
Eingliederungshilfe erneut zu überprüfen und die notwendigen Anträge und
Nachweise sind einzureichen.“
Im weiteren Verlauf der Begründung finden sich dann folgende Ausführungen:
„Gemäß Ziff. 8.4 der Empfehlungen des Hessischen Landkreistages für
Eingliederungshilfe nach § 35 a SGB VIII für ambulante Maßnahmen bei
Legasthenie und Dyskalkulie sollen sich die zu zahlenden Kostensätze an den
Sätzen der Krankenkassen für Ergotherapien oder an denen für
Sprechheilbehandlungen orientieren.
Es ist hierbei grundsätzlich zwischen Einzel- und Gruppentherapie zu
unterscheiden.
Die Differenzierung hinsichtlich der Leistungen für Einzel-/Gruppentherapie
rechtfertigt sich aus der Tatsache, dass die persönliche Zuwendung des
Therapeuten/der Therapeutin für einen jungen Menschen in der Einzeltherapie
wesentlich höher ist als in Gruppentherapie.
Nach Prüfung der Anspruchsvoraussetzungen und der uns vorliegenden
Stellungnahmen gewähren wir Eingliederungshilfe gemäß § 35 a Abs. 1 Nr. 1 SGB
VIII wie folgt:
Grundsätzlich übernimmt das Jugendamt anteilig, wenn die Voraussetzungen für
eine Gewährung von Eingliederungshilfen vorliegen, zunächst einmal für 1 Jahr die
entstandenen Therapiekosten ab dem Tag der Antragstellung.“
Hiergegen erhob der Kläger am 21.12.2007 erneut Widerspruch. Zur Begründung
wurde ausgeführt, die Inanspruchnahme der bewilligten Gruppentherapie sei
zunächst angedacht gewesen, habe sich aber schon nach einer Stunde nicht mehr
fortführen lassen, da der Kläger die Mitwirkung verweigert habe. Daher müsse eine
Einzeltherapie bewilligt werden. Auch die Ablehnung einer vollständigen
Kostenübernahme durch lediglich anteilige Bezuschussung sei rechtswidrig.
Am 29.02.2008 stellte der Kläger einen Weitergewährungsantrag für ein weiteres
Jahr.
Mit Widerspruchsbescheid des Kreisausschusses vom 14.03.2008 wurde dem
Widerspruch „nicht abgeholfen“. Zur Begründung wurde ausgeführt:
„Wir bewilligten für die Zeit vom 28.02.2007 bis zum 29.02.2008 insgesamt 40
Stunden für eine Legasthenie-Gruppentherapie bei ... in Höhe von 16,82 EUR. Bei
Einzeltherapie beträgt der 30 Minuten-Anteil des Jugendamtes 15,47 EUR.
Unsere Zuschüsse orientieren sich an den Sätzen der AOK bei
Sprachheilbehandlungen. Eine Therapie-Einheit umfasst 60 Minuten. Der
Kostenträger unterscheidet zwischen Einzeltherapie und Gruppentherapie.
Ein Weitergewährungsantrag über den Zeitraum Februar 2008 ist von Familie A.
eingereicht worden. Aufgrund der vorgelegten Unterlagen, verlängern wir den
Zeitraum um ein Jahr (bis 28.02.2009) und 40 Therapieeinheiten. An der Höhe der
Bezuschussung ändert sich jedoch nichts. Die bewilligten Stunden beziehen sich
auf die genommenen Therapie-Einheiten.“
Der Widerspruchsbescheid wurde der Klägerbevollmächtigten lediglich durch
einfachen Brief bekanntgegeben.
Bezüglich der nur teilweisen Stattgabe des Weitergewährungsantrages legte der
Kläger durch seine Mutter am 10.04.2008 Widerspruch ein, über den noch nicht
entschieden ist.
Am 16.04.2008 hat der Kläger Klage gegen beide Bescheide Klage erhoben. Er
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Am 16.04.2008 hat der Kläger Klage gegen beide Bescheide Klage erhoben. Er
trägt im Wesentlichen vor, es sei unklar, was die Behörde überhaupt bewilligt habe.
Nach dem für die Vollstreckung maßgeblichen Tenor des Ausgangsbescheids sei
nur eine Gruppentherapie bewilligt worden. Die Begründung des Bescheides lasse
demgegenüber daran denken, dass auch eine Einzeltherapie bezuschusst werde.
Da es auf den Tenor ankomme, sei die Einlegung eines Rechtsmittels erforderlich.
Unklar sei auch, ob die Behörde Therapieeinheiten von kürzerer Dauer als einer
Stunde, ggf. anteilig, fördere. Das sei vorliegend von erheblicher Bedeutung, weil
der Kläger die Konzentrationsfähigkeit für eine einstündige Therapie nicht
aufbringe, und die Therapie in wöchentlichen Einheiten von 30 Minuten in Anspruch
genommen werden müsse. Auch der Widerspruchsbescheid lasse diese Frage im
Unklaren. So werde dem Widerspruch laut Tenor zwar „nicht abgeholfen“, also der
Sache nach zurückgewiesen. Gleichwohl enthalte die Begründung Hinweise auf die
Möglichkeit der Inanspruchnahme einer Einzeltherapie, bei der das Jugendamt
15,47 EUR für eine 30minütige Einheit übernehme. Gleichzeitig werde aber
ausdrücklich darauf hingewiesen, dass eine Therapieeinheit 60 Minuten umfasse,
was zu der Voraussage in Widerspruch stehe.
Die Begrenzung auf 30,93 EUR/Stunde oder 15,47/30 Minuten für eine
Einzeltherapie sei zudem rechtswidrig. Werde Eingliederungshilfe bewilligt, so seien
grundsätzlich die entstehenden Kosten in voller Höhe zu erstatten. Dem
Jugendamt sei es nicht gestattet, sich auf eine anteilige Bezuschussung
zurückzuziehen; entsprechende interne Handlungsvorgaben verstießen gegen
Bundesrecht. Denn nach der Konzeption des SGB VIII sei eine grundsätzliche
Vollfinanzierung der Eingliederungshilfe vorgesehen, zu deren Kosten Dritte nur
nach den Vorschriften über die Kostenbeteiligung (§§ 90 ff. SGB VIII) herangezogen
werden könnten. Die Gewährung lediglich eines Zuschusses stelle demgegenüber
eine verdeckte Form der Kostenbeteiligung dar.
Im Übrigen könnten die Eltern des Kindes in Ausübung des bestehenden
Wahlrechts entscheiden, welchem Therapeuten sie ihr Kind anvertrauten. Etwaige
hieraus entstehende Mehrkosten seien hinzunehmen, soweit sie nicht
unverhältnismäßig seien. Im Falle des Klägers sei zu berücksichtigen, dass die
beiden am Wohnort des Klägers ansässigen Therapeuten 50,00 EUR verlangten.
Unter Berücksichtigung der Tatsache, dass die Therapeuten beim ... besonders
geschult seien und eine höhere Qualifikation aufwiesen (Studium der Pädagogik
bzw. Psychologie nebst Zusatzausbildungen auf Hochschulniveau zu speziellen
Legastenie-Therapeuten) und der Kläger unter ausgeprägten
Aufmerksamkeitsdefiziten leide, sei der Mehrbetrag von 14,00 EUR für eine volle
Stunde nicht unverhältnismäßig.
Die anfänglich geäußerten Einwendungen gegen die zeitliche Beschränkung des
gewährten Stundenkontingents auf ein Jahr hielt der Kläger in der mündlichen
Verhandlung nicht mehr aufrecht. Zuletzt beantragt er,
1. unter entsprechender teilweiser Aufhebung des Bescheids des
Kreisausschusses des Kreises Darmstadt-Dieburg vom 21.11.2007 in der Gestalt
des Widerspruchsbescheids derselben Behörde vom 14.02.2008 den Beklagten zu
verpflichten, für den Zeitraum vom 28.02.2007 bis 29.02.2008 Eingliederungshilfe
nach § 35 a SGB VIII für 80 Therapieeinheiten Einzeltherapie à 30 Minuten zu je
32,00 EUR für eine Therapie bei ... zu gewähren sowie für den Zeitraum vom
29.02.2008 bis 28.02.2009 Eingliederungshilfe nach § 35 a SGB VIII für 40
Therapieeinheiten Einzeltherapie à 30 Minuten zu je 32,00 EUR für eine Therapie
bei ... zu gewähren,
2. die Zuziehung eines Bevollmächtigten für das Vorverfahren für notwendig zu
erklären.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Er bezieht sich zur Begründung auf den angefochtenen Bescheid und trägt
ergänzend vor, die Bescheide seien eindeutig. Es werde Gruppentherapie oder
Einzeltherapie bewilligt, bei geringerer als 60minütiger Therapiezeit entsprechend
anteilig. Der Kläger habe ein Wahlrecht, welchen Therapeuten er in Anspruch
nehme. Grundsätzlich würden Therapien üblicherweise in 60-Minuten-Einheiten
durchgeführt. Halbstündige Termine würden von den Therapeuten nur
ausnahmsweise als sinnvoll angesehen und angeboten.
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Zugegeben sei es unorthodox, in einem Widerspruchsbescheid einen anderen
Antrag erstzubescheiden. Die Bescheidung in dieser Form habe
arbeitsökonomische Gründe. Der hierauf bezogene Klageantrag sei unzulässig,
weil das erforderliche Vorverfahren nicht durchgeführt worden sei.
Gegenstand der Bescheide sei lediglich eine Zuschussgewährung, nicht die
Kostenübernahme in voller Höhe. Eine Ungleichbehandlung i. S. von Art. 3 Abs. 1
GG lasse dies nicht erkennen. Die bewilligte Stundensatzhöhe beruhe auf
Erfahrungswerten und Empfehlungen des Hessischen Landkreistages.
Lerntherapeuten nähmen üblicherweise 20,00 EUR bis 25,00 EUR für 30 Minuten
Einzeltherapie. Die Stundensätze in Hessen lägen zwischen 30,00 EUR und 68,00
EUR für 60 Minuten. Die Kosten für eine Stunde lägen in Darmstadt-Dieburg
zwischen 30,00 EUR und 40,00 EUR (Bl. 210 d. A.). Nach einer weiteren vom
Beklagten vorgelegten Tabelle (Bl. 215 d. A.) reicht die Spanne sogar von 30,00
EUR bis 45,00 EUR. Als Halbstundensatz könnten beim Kläger daher 20,00 EUR bis
25,00 EUR angesetzt werden.
Wegen der weiteren Einzelheiten zum Sach- und Streitstand wird auf den Inhalt der
Gerichtsakte und auf die beigezogene Behördenakte des Beklagten verwiesen.
Entscheidungsgründe
I. Die Klage ist zulässig, auch soweit sich der Kläger gegen die Erstbescheidung
seines Weitergewährungsantrages für den Zeitraum vom 29.02.2008 bis
28.02.2009 im Widerspruchsbescheid vom 14.03.2008 ohne vorausgegangenes
Vorverfahren wendet. Soweit der Widerspruchsbescheid erstmalig eine Beschwer
enthält, bedarf es keines weiteren Widerspruchsverfahrens vor Klageerhebung (§
68 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 VwGO). Unabhängig davon ist dieser Teil der Klage
inzwischen als Untätigkeitsklage zulässig geworden (§ 75 VwGO). Da die Behörde
entgegen ihrer Verpflichtung aus § 73 Abs. 3 Satz 1 VwGO den
Widerspruchsbescheid nicht förmlich zugestellt hat, wurde der Lauf einer Klagefrist
(§ 74 Abs. 1 und 2 VwGO) bisher nicht ausgelöst. Die Klage ist daher in jedem Falle
– auch mehr als einen Monat nach Erlass des Widerspruchsbescheids – rechtzeitig
erhoben worden.
II. Die Klage ist auch in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet.
Zunächst trifft der Einwand des Klägers, der Bescheid sei inhaltlich unklar, zu, denn
es lässt sich ihm nicht mit Gewissheit entnehmen, welche Regelung die Behörde
treffen wollte. Er ist daher zu unbestimmt (§ 33 Abs. 1 SGB X). Das folgt zwar nicht
schon aus dem Umstand, dass der Tenor des Ausgangsbescheids und dessen
Begründung nicht kongruent zueinander sind, weil nach dem Tenor nur eine
Gruppentherapie bewilligt wird, während nach der Begründung auch eine
Einzeltherapie in Frage kommt. Denn einen Grundsatz des Inhalts, dass allein der
Tenor des Verwaltungsaktes für die Auslegung der von der Behörde gewollten
Regelung heranzuziehen ist, gibt es nicht (vgl. Kopp/Ramsauer, VwVfG, 10. Aufl.
2008, § 37 Rdnr. 12 mit Nachweisen aus der Rechtsprechung). Wegen der
bestehenden Formfreiheit (vgl. § 33 Abs. 2 SGB X) sind alle Teile des Bescheides
(Tenor, Sachverhalt, Begründung) als gleichrangig anzusehen, sodass auch eine
nur in der Begründung eines Bescheids enthaltene Regelung grundsätzlich
wirksam ist. Infolgedessen ist lediglich zu prüfen, ob an verschiedenen Stellen
getroffene widersprüchlich erscheinende Regelungen zum selben
Regelungsgegenstand sich sinnvoll auflösen lassen.
Maßstab für eine ausreichende Bestimmtheit ist, ob die durch den Bescheid
getroffene Regelung hinreichend klar, verständlich und in sich widerspruchsfrei ist.
Der Entscheidungsinhalt muss klar für den Adressaten sein und den Adressaten in
die Lage versetzen, zu erkennen, was in der ihn betreffenden Sache geregelt wird
(Kopp/Ramsauer, VwVfG, 10. Aufl. 2008, § 37 Rdnr. 12 mit Nachweisen aus der
Rechtsprechung). In Bezug auf den hier vorrangig (vgl. § 79 Abs. 1 Nr. 1 VwGO)
heranzuziehenden Widerspruchsbescheid ist das nicht der Fall. Soweit es darin
heißt, „Wir bewilligten ... 40 Stunden ... Gruppentherapie in Höhe von 16,82 EUR“
und sodann der Satz folgt, „Bei Einzeltherapie beträgt der 30-Minutenanteil des
Jugendamtes 15,47 EUR“, fehlt es schon sprachlich an einer
Bewilligungsentscheidung für eine Einzeltherapie. Allerdings fragt sich der Leser,
warum der Höchstbetrag für eine Einzeltherapie mitgeteilt wird, wenn sie nicht
auch zugleich – zumindest in einem gedanklich vorangegangenen Schritt –
bewilligt wird. Dann aber heißt es im nächsten Satz, eine Therapieeinheit umfasse
60 Minuten, was nicht nur der Frage aufwirft, ob kürzere Sitzungszeiten von der
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60 Minuten, was nicht nur der Frage aufwirft, ob kürzere Sitzungszeiten von der
Förderung per se ausgeschlossen sind, sondern auch, ob Einzeltherapien, die die
Behörde in 30-Minuten-Einheiten kalkuliert, überhaupt förderungsfähig sind. Dass
die Förderung von halbstündlichen Sitzungen keineswegs eine
Selbstverständlichkeit ist, zeigen die späteren schriftsätzlichen Ausführungen des
Beklagten vom 01.04.2010, mit denen der Erfolgswert von kurzen Therapien
generell in Frage gestellt wird. Der Einwand des Klägers, dass er dem Bescheid der
Behörde nicht sicher entnehmen kann, was die Behörde bewilligt hat, trifft daher
zu.
Mit Schriftsatz der Behörde vom 01.04.2010 ist jedoch zugleich klar gestellt
worden, dass die Behörde sowohl mit der Inanspruchnahme einer Gruppentherapie
als auch einer Einzeltherapie zu entsprechend höheren Sätzen einverstanden war
und auch bei weniger als 60minütiger Therapiezeit die Kosten anteilig übernehmen
werde. Spätestens mit diesem Schriftsatz ist das behördlich Gewollte klargestellt
geworden, sodass eine teilweise Erledigung des Rechtsstreits eingetreten ist. Auf
diesen neuen Sachverhalt hat der Kläger in der mündlichen Verhandlung mit einer
Präzisierung seines Klageantrags reagiert, sodass es damit sein Bewenden hat.
Gemäß § 35 a Abs. 1 SGB VIII haben Kinder oder Jugendliche Anspruch auf
Eingliederungshilfe, wenn
1. ihre seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate
von dem für ihr Lebensalter typischen Zustand abweicht, und
2. daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist oder eine
solche Beeinträchtigung zu erwarten ist.
Zwischen den Beteiligten ist es unstreitig, dass aufgrund der fachärztlich
festgestellten Lese- und Rechtschreibschwäche des Klägers dessen seelische
Gesundheit länger als sechs Monate von dem für sein Lebensalter typischen
Zustand abweicht, seine Teilhabe an der Gesellschaft dadurch beeinträchtigt wird
und er im vorbeschriebenen Sinne anspruchsberechtigt ist. Auch das Gericht hat
nach Lektüre des Arztbriefes und der weiteren in den Verwaltungsvorgängen
enthaltenen Unterlagen keine Zweifel am Bestehen der
Anspruchsvoraussetzungen, sodass sich weitere Ausführungen dazu erübrigen.
Die mithin allein streitige Frage, ob der Kläger die Übernahme der ihm
entstehenden Therapiekosten in Höhe von 32,00 EUR für jede halbstündige
Sitzung verlangen kann, ist wie folgt zu beantworten: Grundsätzlich kann die
anspruchsberechtigte Person die volle Übernahme der ortsüblichen Kosten eines
Therapeuten verlangen. Auf eine nur anteilige Bezuschussung muss sich die
Person nicht verweisen lassen. Denn der Gesetzeszweck der Eingliederungshilfe
liegt nicht in einer sozialen Mindestsicherung, sondern in der Gewährung einer
Entfaltungshilfe (Mrozynski, SGB VIII, Kommentar, 5. Aufl. 2009, § 5 Rdnr. 5). Der
Gesetzeszweck, einem Kind bei der Bewältigung seiner seelischen Probleme durch
Gewährung von Eingliederungshilfe zu helfen, ist nicht auf wirtschaftlich
leistungsfähige Eltern beschränkt, die die bei einer bloßen Zuschussgewährung
anfallenden Eigenanteile tragen können, während andere Eltern von der
Inanspruchnahme der bewilligten Therapie ganz absehen müssten, weil diese für
sie nicht finanzierbar ist, obwohl sie noch keine Grundsicherung für
Arbeitssuchende (SGB II) erhalten. Da die Leistungen des SGB VIII den Leistungen
des SGB II vorgehen (§ 10 Abs. 3 SGB VIII), können bedürftige Eltern auch nicht auf
die ergänzende Inanspruchnahme von Leistungen nach dem SGB II verwiesen
werden. Damit aber würde der Gesetzeszweck, jedem Kind ungeachtet der
Einkommensverhältnisse seiner Eltern zu helfen, durch bloße Zuschussleistung
verfehlt.
Ob es mit dem Gleichbehandlungsanspruch des Art. 3 Abs. 1 GG vereinbar ist,
denjenigen Eltern, die ohne Erwerbseinkommen sind, die entstehenden
Therapiekosten ausnahmsweise in voller Höhe zu erstatten – eine solche
Verfahrensweise wurde von der zuständigen Sachbearbeiterin in der mündlichen
Verhandlung vorgetragen – bedarf hier keiner Vertiefung, denn schon der
behördliche Ansatz, grundsätzlich nur Zuschüsse für Therapien zu gewähren, ist
unrichtig.
Da die Eltern unter den Therapeuten im Umfeld des Wohnortes frei wählen können
(§ 5 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII), findet die Erstattungsfähigkeit lediglich dort ihre
Grenze, wo durch die Wahl des Klägers unverhältnismäßige Mehrkosten
entstanden sind (§ 5 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII; vgl. auch Nieders. OVG, Beschl. v.
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entstanden sind (§ 5 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII; vgl. auch Nieders. OVG, Beschl. v.
18.10.2006 – 4 LA 42/05 – FEVS 58, 366). Unverhältnismäßige Mehrkosten sind in
Anlehnung an die Verwaltungspraxis zu § 9 Abs. 2 SGB XII regelmäßig dann
anzunehmen, wenn sie mehr als 20 % der ortsüblichen Kosten betragen (OVG
Brandenburg, Beschl. v. 05.09.2002 – 4 B 127/02 – LKV 2003, 100 [102];
Schellhorn in Schellhorn/Fischer/Mann, SGB VIII/ KJHG, Kommentar, 3. Aufl. 2007, §
5 Rdnr. 26; Mrozynski, SGB VIII, Kommentar, 5. Aufl. 2009, § 5 Rdnr. 5). Allerdings
verbietet sich eine starre Anwendung dieser Höchstgrenze, denn nach der
Rechtsprechung des BVerwG sind Mehrkosten nur dann „unverhältnismäßig", wenn
die hieraus folgende Mehrbelastung des Sozialhilfehaushalts zum Gewicht der vom
Hilfebedürftigen angeführten Gründe für die von ihm getroffene Wahl der
Hilfemaßnahme nicht mehr im rechten Verhältnis steht, so dass die Frage nach
der (Un-)Verhältnismäßigkeit wunschbedingter Mehrkosten sich nicht in einem rein
rechnerischen Kostenvergleich erschöpft, sondern eine wertende
Dies berücksichtigend ist es gleichwohl eine probate Orientierungsgrundlage, die
Grenze für einen noch verhältnismäßigen Mehraufwand zunächst bei dem 20 %
übersteigenden Durchschnittswert zu ziehen. Ist der Aufwand im Einzelfall größer,
bedarf es der gesonderten Prüfung, ob gleichartige oder gleichwertige Angebote
zur Verfügung stehen. Ist dies nicht der Fall, muss ggf. auch ein höherer Betrag
anerkannt werden (Schellhorn in Schellhorn/Fischer/Mann, SGB VIII/ KJHG,
Kommentar, 3. Aufl. 2007, § 5 Rdnr. 26).
Diesen Grundsätzen folgend muss sich der Kläger nicht auf die von der AOK
Hessen festgestellten landesweit gültigen Sätze für logopädische Behandlungen in
Höhe von 30,93 EUR/ Stunde oder 15,47 EUR/30 Minuten verweisen lassen. Wie
auch der Beklagte eingeräumt hat, ist dieser Wert jedenfalls im Landkreis
Darmstadt-Dieburg vollkommen unrealistisch. Bis auf einen einzigen
nachgewiesenen Therapeuten verlangen alle Legasthenietherapeuten höhere,
teilweise deutlich höhere Stundensätze. Für die Erstattungsfähigkeit kommt es
vielmehr darauf an, was eine Legasthenietherapie im Wohnumfeld des Klägers
tatsächlich kostet. Hierzu kann auf die vom Beklagten mitgeteilten Werte für den
Raum des Landkreises Darmstadt-Dieburg (Bl. 215 d. A.), in dem der Kläger lebt,
zurückgegriffen werden. Hiernach verlangen die vom Beklagten förmlich
anerkannten Legasthenietherapeuten Stundensätze für Einzeltherapien zwischen
30,00 EUR und 45,00 EUR. Im Durchschnitt wird von den 14 angefragten
Therapeuten ein Betrag von 36,88 EUR je Stunde verlangt. Werden auf diesen
Betrag 20 % aufgeschlagen, so liegt die Höchstgrenze einer Therapiestunde bei
44,25 EUR für eine 60minütige Einheit oder 22,13 EUR für eine 30minütige Einheit.
Das deckt sich in etwa mit der – allerdings nur auf Plausibilität beschränkten –
Einschätzung des Hess. VGH, der einen Betrag von 42,00 EUR für eine
Legasthenietherapiestunde im Landkreis Darmstadt-Dieburg für nicht
unverhältnismäßig gehalten hat (Hess. VGH, Urt. v. 20.08.2009 – 10 A 1874/08 –
juris = DÖV 2010, 47 [dort nur Leitsätze]). Letztlich entspricht dies auch der
mehrfach vom Beklagten geäußerten Auffassung (Schriftsätze vom 23.06.2008
[Bl. 58 d. A.] und vom 01.04.2010 [Bl. 205 d. A.]), im Falle des Klägers sei ein
Halbstundensatz zwischen 20,00 EUR und 25,00 EUR (volle Stunde
dementsprechend: 40,00 EUR bis 50,00 EUR) erstattungsfähig.
Die Höchstgrenze von 44,25 EUR muss sich auch der Kläger zurechnen lassen,
denn die vorgetragenen Umstände rechtfertigen kein Abweichen von diesem
Höchstwert. Aufmerksamkeitsdefizitstörungen und einer erhöhten
Ablenkungsempfindlichkeit des Klägers wird bereits durch Gewährung einer
Einzeltherapie Rechnung getragen. Auf die behaupteten Konzentrationsstörungen
wird durch Förderung von nur 30-minütigen Sitzungen in ausreichender Weise
eingegangen.
Auch die behauptete besondere Qualifikation des ausgewählten Anbieters
rechtfertigt gegenwärtig kein Überschreiten des Höchstsatzes. Dass die Firma ...
eine Alleinstellung unter den werbenden Therapeuten hat, lässt sich aufgrund der
mitgeteilten Angaben nicht feststellen. Aus der bestehenden erfolgreichen
Teilnahme von 14 von der Behörde genannten Anbietern am Markt kann
geschlossen werden, dass sie ebenso gut geeignet zur Durchführung einer
Therapie sind. Es obliegt daher dem Kläger, im Einzelnen vorzutragen, warum kein
anderer Anbieter, dessen Stundensatz den Höchstbetrag nicht überschreitet (das
gilt z. B. für 13 der 14 von der Behörde genannten Therapeuten), in seinem Falle in
Betracht komme. Dem ist nicht durch unbelegten Verweis auf ein
Hochschulstudium und eine Zusatzausbildung auf Hochschulniveau der ...-
Bediensteten Rechnung getragen, da nicht feststeht, dass die anderen
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Bediensteten Rechnung getragen, da nicht feststeht, dass die anderen
Therapeuten nicht über eine gleichwertige Ausbildung verfügen. Da dem Kläger mit
Verfügung des Gerichts vom 01.03.2010 unter Fristsetzung und unter Hinweis auf
§ 87 b VwGO auferlegt worden ist, zur Verfügbarkeit geeigneter Therapeuten
abschließend vorzutragen, ohne dass ein entsprechender Vortrag fristgerecht
erging, kann er mit späterem Vorbringen nicht gehört werden.
Hiernach hat der Kläger Anspruch auf die Übernahme von höchstens 44,25 EUR je
60minütiger Einzeltherapie oder 22,13 EUR für eine 30minütige Einheit. Im Übrigen
hat die Klage keinen Erfolg.
Das Verfahren ist gerichtskostenfrei (§ 188 Satz 2 VwGO). Die Entscheidung über
die außergerichtlichen Kosten ergibt sich aus § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO, wobei das
Verhältnis des wechselseitigen Obsiegens/Unterliegens im Verhältnis des von der
Behörde zugestandenem Halbstundensatzes (15,47 EUR), mit dem vom Gericht
zuerkannten Halbstundensatz (22,13 EUR) und dem vom Kläger beantragten
Halbstundensatz (32,00 EUR) begründet ist. Die inhaltliche Unbestimmtheit der
Bescheide bleibt bei der Kostenverteilung außer Betracht, da das klägerische
Verpflichtungsbegehren über das behördlicherseits Zugestandene hinausgeht und
die Klärung des behördlich Gewollten den Rechtsstreit in der Hauptsache nicht
erledigt hat. Die Zuziehung eines Bevollmächtigten für das Vorverfahren ist für
notwendig zu erklären (§ 162 Abs. 2 Satz 2 VwGO), da es dem Kläger nach seinen
persönlichen Verhältnissen nicht zuzumuten war, das Vorverfahren allein zu
betreiben (Kopp/Schenke, VwGO, 16. Auflage 2009, § 162 Rdnr. 18). Die
Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus §§ 708 Nr. 11, 711
ZPO i. V. mit § 167 VwGO.
Beschluss
Der Gegenstandswert wird auf 1.983,60 EUR festgesetzt.
Gründe
Die Festsetzung des Gegenstandswerts beruht auf §§ 23, 33 RVG, 52 Abs. 3 GKG.
Das Gericht geht bei der Gegenstandswertbestimmung von zuletzt beantragten
120 Therapieeinheiten zu 30 Minuten zu einem Betrag von 32,00 EUR abzüglich
eines bereits bewilligten Halbstundensatzes von 15,47 EUR aus.
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert. Darüber hinaus ist eine ergänzende Dokumentation durch
die obersten Bundesgerichte erfolgt.